[407] Kurz zusammengefaßt, besitzt der Lanzettfisch (Amphioxus lanceolatus und Belcheri, Branchiostoma lanceolatum, lubricum, elongatum, caribaeum und Belcheri), einziges bekanntes Glied der gleichnamigen Sippe (Amphioxa) und Familie (Amphioxidae), folgende Merkmale: Sein etwa fünf Centimeter langer Leib ist gestreckt, schmal, kantig, nach beiden Enden hin ziemlich gleichmäßig zugespitzt, am hinteren Ende mit einer zarten senkrechten Flosse besetzt, welche sich als schmaler Hautsaum oben über einen großen Theil des Rückens, unten bis gegen den After zieht und in der Schwanzgegend lanzettförmig verbreitert. Den am vorderen Leibesende auf der Unterseite gelegenen Mund umgeben knorpelige Spitzen, welche zusammengelegt und zum Verschließen der Oeffnung benutzt werden können. Nach innen geht die Mundöffnung unmittelbar in den weiten Kiemenschlauch über, welcher aus vielen neben einander liegenden, schief von oben nach unten laufenden Knorpelstäben gebildet und hinten durch eine vorstehende ringförmige Falte vom Darmschlauche getrennt wird. Das Athmungswasser fließt zwischen den Knorpelstäben durch, in die Leibeshöhle und durch einen auf der Unterseite sich öffnenden Ausführungsgang ab. Der Darmschlauch erweitert sich, buchtet sich zugleich zu einem der Leber entsprechenden drüsenreichen Blinddarme aus, verengert sich sodann und verläuft bogig bis zum After. Alle Schleimhäute sind mit Flimmern besetzt, deren Bewegungen den Durchgang des Athmungs- und Speisewassers vermitteln. Ein Herz fehlt gänzlich; es wird ersetzt durch röhrenförmige, mit den Bogen des Kiemenschlauches in Verbindung stehende Gefäße, welche sich wechselweise zusammenziehen und wieder ausdehnen und dadurch das durchsichtige, ungefärbte Blut in das feinere Geäder treiben. Die an Stelle der gegliederten Wirbelsäule vorhandene Wirbelsaite erstreckt sich von der Schnauzenspitze bis [407] zum Schwanzende; ihre äußere Hülle bildet ein Rohr für das Rückenmark, welche keine Anschwellungen zeigt, am vorderen Ende aber auf kurzen Stielen zwei als Augen gedeutete Gebilde trägt. Auch ein Riechwerkzeug will man entdeckt haben.

Zur Zeit ist die Naturgeschichte des Lanzettfisches nicht viel mehr als eine Zergliederungskunde desselben. Ueber die Lebensweise dieses unter allen am tiefsten stehenden Wirbelthieres weiß man noch sehr wenig. Sein Verbreitungsgebiet umfaßt alle Meere des heißen und beider gemäßigten Gürtel; sein Aufenthalt ist der feine Sand, in welchem es sich eingräbt und, dank auch seiner Gleichfarbigkeit mit jenem, so vollständig verbirgt, daß man es nur dann wahrnimmt, wenn man den Sand durch feinmaschige Siebe spült. Wahrscheinlich ist es überall, wo es vorkommt, bei weitem häufiger, als man gewöhnlich annimmt; an geeigneten Stellen hält es mindestens nicht schwer, binnen wenigen Stunden viele seiner Art zu erbeuten.


Lanzettfisch (Amphioxus lanceolatus). Natürl. Größe.
Lanzettfisch (Amphioxus lanceolatus). Natürl. Größe.

Genöthigt, den Sand zu verlassen, schwimmt es huschend unter kurzschlängelnden Bewegungen pfeilschnell durchs Wasser und bettet sich einen Augenblick später wiederum im Sande ein. Couch sagt sehr richtig, daß man beim Schwimmen Kopf und Schwanz kaum oder nicht unterscheiden könne, Wilde, daß gefangene Lanzettfische in einem Glase sich aalartig mit raschen Windungen förderten und ungeachtet des so wenig entwickelten Gesichtssinnes – falls von einem solchen überhaupt zu reden – den ihnen vorgehaltenen Finger oder andere Hindernisse zu vermeiden wußten, beim Herankommen an dieselben stutzten und Kehrt machten. »Die kleinen Thierchen«, bemerkt letztgenannter Beobachter noch, »haben eine besondere Fähigkeit, sich, und zwar in eigenthümlicher Weise, an einander zu kleben. Zu weilen bilden sie dann einen Klumpen, zuweilen wiederum einen Faden von funfzehn bis zwanzig Centimeter Länge. Die Gesammtheit bewegt sich gemeinschaftlich, im letzterwähnten Falle in Schlangenwindungen. Immer kleben sie sich mit den Breitseiten an einander, wenn sie in einer Reihe schwimmen so, daß das Kopfende des einen sich ungefähr im letzten Drittheile der Leibeslänge des Vorgängers befindet.«

Ueber die Fortpflanzung und das Leben der Jungen scheint noch jede Beobachtung zu fehlen: möglich, daß uns die Erforschung derselben ungeahnte Ueberraschungen bereitet. Aber Kunde der Entwickelung allein kann entscheiden, ob wir in diesem sonderbaren Geschöpfe wirklich vor uns haben: das Endglied aller Wirbelthiere.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Achter Band, Dritte Abtheilung: Kriechthiere, Lurche und Fische, Zweiter Band: Fische. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884..
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