Land und Leute

[283] Hinter Kandern erhebt sich in üppigem Waldschmuck einer der schönsten Schwarzwaldberge, der Hochblauen. Aus dem quellenreichen Urgestein seiner südlichen Abhänge entspringt der Kanderbach und eilt in starkem Gefälle von Marzell und Vogelbach herab nach Kandern. Er tritt hier in das Hügelland, das dem Schwarzwalde vorgelagert an den Rhein sich erstreckt, und mündet bei Eimeldingen in dessen Flut. Unweit davon, eine Meile nordwärts, steigt an dem Rheinstrom steil empor der Isteiner Klotz, ein Korallenstock aus der Zeit der Jurabildung. Zu den Burgtrümmern seiner Höhe führt ein romantischer Fußpfad, teilweise eingehauen in die Felswand, oben reicht der Blick weithin über das Rheintal zu den Vogesen des Oberelsaß und der Jurakette der Schweiz.

Milder als auf den Schwarzwaldbergen wehen die Lüfte auf den Vorlandhügeln. Prächtige Nußbäume zieren die Wege zwischen den saubern Dörfern, Weizen und Wein trägt der fruchtbare Boden.

Meine Praxis umfaßte das Gebiet vom Hochblauen bis zum Isteiner Klotz. Zu Fuß, zu Pferd und im leichten Wagen besuchte ich die zahlreichen Ortschaften. Liebliche Landschaftsbilder entzückten mich in den Tälern, großartige Panoramen auf den Höhen. Zwei der schönsten Aussichtspunkte winken ganz in der Nähe des Städtchens: das vielgepriesene Bürgeln, weit vorspringend am Blauen mit der alten Propstei der gefürsteten Abtei St. Blasien, und der Turm der Ruine Sausenburg,[283] der einsam hervorragt aus der dichtbewaldeten grünen Bergwand.

In besonderer Erinnerung blieb mir ein Ritt, den ich in meinem Berufe nach Endenburg ausführte, einem hochgelegenen Dörfchen im Amte Schopfheim. Ein Gewitter war niedergegangen, in köstlicher Luft nahm ich meinen Weg durch den Wald zur Scheideck hinauf, wo General von Gagern am 20. April 1848 den Tod gefunden hat. Dort biegt die Straße nach Endenburg ab. Wo sie aus dem Walde tritt, öffnet sich eine weite Aussicht südwärts gegen die Schweiz. Plötzlich, wie durch Zaubermacht, lag in kristallener Klarheit die ganze Kette der Schweizer Hochalpen vor mir; sie erschienen so nahe, als könnte man Steine auf die Schneefelder werfen. Überrascht hielt ich mein Pferd an und blickte bewundernd nach der nahe gerückten Ferne. Am Wegrain saß ein alter, in schwerer Arbeit ergrauter Bauer und betrachtete, in Andacht versunken, das herrliche Bild. Unerwartet wandte er sich an mich; das Herz war ihm aufgegangen, er mußte seine Gefühle aussprechen. »Oh! wie groß und schön«, redete er mich an, »sind die Werke der Schöpfung!« »Ja!« wiederholte ich seine Worte, »sie sind groß und schön«, grüßte und ritt nachdenkend weiter. – Es wird behauptet, der Sinn für landschaftliche Schönheit sei das Erzeugnis unserer modernen, hochfeinen Bildung, die Worte des armen Bäuerleins beweisen, daß die neuzeitliche Kultur ihn nicht erzeugt, sondern nur geschärft haben kann.

Die Bewohner des Hochblauen hießen in Kandern die »Wälder« (Schwarzwälder), zum Unterschiede von denen des Hügellandes zwischen Kandern und dem Rheine. Obwohl sie eines Stammes und eines Bekenntnisses, des evangelischen, sind und die Weiber die gleichen Flügelhauben und »Fürtücher« (Brusttücher) tragen, waren sie doch damals ungleich in Gesittung. Der Wälder stand tief unter dem Markgräfler der Vorhügel. Wie dies seither geworden ist, vermag ich nicht zu sagen. Die auffallende Verschiedenheit mochte ihren Grund teils in der größeren Abgeschlossenheit der Gebirgsorte, teils und mehr noch in deren rauherem Klima haben. Der Wald und die Viehzucht brachten dem Wälder die Mittel zum Unterhalt des Lebens,[284] die sonnigen Hänge der Vorhügel spendeten den Bewohnern des Tieflandes Weizen und Wein. Lebensweise und Genuß gestalteten sich für jene anders als für diese.

Schon die verschiedene Art, wie die Leute dort und hier wohnten und ihre Wohnräume beleuchteten, mußte bei der langen Dauer der Winternächte und des Winters überhaupt einen verschiedenen Einfluß auf die Gesittung üben. Die Dörfer des Hügellandes hatten nur ziegelgedeckte Häuser aus Stein oder Fachwerk mit lichten, getünchten Stuben, worin das Talglicht und die Öllampe Eingang gefunden hatten; das Petroleum diente damals noch nicht zur Beleuchtung. Das ruhige Licht gestattete den Familien an den Winterabenden höhere geistige Unterhaltung durch Lesen von Druckschriften. Anders in den Bergen. Hier herrschte noch das flackernde Licht der billigen, stark rußenden Lichtspäne, die der Wälder selbst aus dem Holze der Buchen an der Schnitzbank schnitzte. Vom Ruße geschwärzt, glänzten die Wände der Stuben in den geschindelten, strohbedeckten Hütten. Das unruhige Licht taugte nicht zum Lesen. Brach der frühe Abend herein, so sammelte sich die Familie in der dunkeln Stube, und bald flammte der entzündete Holzspan. Der Bauer streckte sich gähnend auf die warme Bank am riesigen Kachelofen, Frau und Tochter, beim Hofbauern auch die Magd, spannen den selbstgezogenen Hanf und Flachs, die Söhne unterhielten die Flamme der Späne, gingen ab und zu, besorgten den Stall und zogen aus zum Licht- oder Kiltgang.

Den Landmann trieb auch im Winter die Sorge um das Vieh frühe vom Lager, es heischt sein Futter, lange bevor die Sonne sich erhebt. Für den Doktor, den sein Beruf erst spät abends das Bett hatte aufsuchen lassen, kam namentlich der Wälder allzufrüh von den Bergen herab, um ein Rezept, vielleicht den Doktor selbst zu holen. Schon um 4 Uhr läutete er nicht selten an der Hausglocke. Mit diätetischem Rat und milder Arznei war ihm nicht gedient, er verlangte starke Getränke in großen »Gutteren« (Flaschen), oder Latwergen und Pulver, die tüchtig »obsi« und »nidsi« wirkten, d.h. nach oben und unten »trieben«, auch Aderlässe, Schröpfköpfe, Blutegel, die das dicke,[285] schwarze Blut aus den Adern nähmen. »Guter Brenz« (Branntwein), besonders zur Stärkung der »Lebensgeister«, war ihm stets willkommen.

Bei dem Wälder stand die »heilsame Dreckapotheke« des gelehrten Paullini von 1696, oder richtiger der Unrat, den er empfahl, noch in großem Ansehen. Ein Dorfschmied im Gebirge verordnete einem Kranken mit Darmverschlingung und Miserere nach dem Grundsatze Hahnemanns: »similia similibus« (Ähnliches durch Ähnliches) eine Abkochung von Roßäpfeln (stercus equinum), aber nicht in homöopathischer, sondern in allopathischer Gabe, gläserweise zu nehmen! Und der schauderhafte Trank wurde getrunken.

Derlei Roheiten kamen im Tieflande nicht mehr vor. Das Volk besaß gutes Urteil und war verständiger Belehrung und diätetischen Verordnungen zugänglich. Aus dem ärztlichen Berater wurde leicht ein geschätzter Hausfreund. Man mußte sich aber in der gastfreien, rebengesegneten Markgrafschaft hüten, bei jedem Besuche das vorgesetzte Krüglein zu leeren. Kaum war man ins Haus getreten, so wurden in der Regel Kanderer Brezeln, ein gefüllter Weinkrug und Gläser aufgetischt. Die Brezelchen, kleine knusperige Laugenbrezelchen, sind heute in ganz Deutschland als »Freiburger« bekannt und beliebt; das Gebäck ist eine Kanderer Erfindung und war damals kaum über das Gebiet der oberen Markgrafschaft hinaus bekannt. Später kamen sie, durch einen spekulativen Freiburger Bäcker, allgemach bis nach Norddeutschland, sie werden jedoch weit stärker gesalzen als früher, und dienen in den Bierwirtschaften hauptsächlich dazu, den Gaumen der Gäste durstig zu stimmen und zum Trinken zu reizen. – Beim ersten Besuche eines Kranken durfte ich den Willkommtrunk nicht abschlagen, es wäre mir, namentlich bei minder wohlhabenden Leuten, die nur über saueren Wein geboten, als Beleidigung angesehen worden; hatte ich aber Bescheid getan, so bat ich, mir bei den folgenden Besuchen nur dann Wein vorzusetzen, wenn ich seiner zu meiner Erfrischung bedürfe. So vermied ich eine in der Markgrafschaft und den Weinländern überhaupt gefährliche Klippe für Ärzte.[286]

Von den Rebsorten, die dort gepflanzt werden, sind es hauptsächlich die verschiedenen Arten der »Gutedel«, deren Trauben den Wein liefern, der als »Markgräfler« geschätzt ist. Seine Blume ist mild und schwach, sein Gehalt an Alkohol gering, er erhitzt wenig, ist mäßig genossen ein angenehm erheiterndes, ungefährliches Getränk, auch sehr haltbar. Bei den reichen Bauern lagerte noch »Kometenwein« von 1811, als Merkwürdigkeit wurde sogar da und dort noch hundertjähriger Wein in Flaschen bewahrt. Die alten Markgräflerweine bekommen einen Firnisgeschmack, der ihren Wohlgeschmack beeinträchtigt.

Als ich in der Markgrafschaft praktizierte, mag dort in den Reborten mehr Wein als Wasser getrunken worden sein. Der Wein war der eigentliche Haustrank. In vielen Bauernhäusern erhielten schon die Kinder bei Tische Wein, sobald sie das Alter erreicht hatten, um mitzuspeisen, je nach dem Alter erhielten sie die gefüllten Weingläser in abgestufter Größe vorgesetzt. Der Wein galt für ein Stärkungsmittel, sogar die Hebammen huldigten diesem irrigen und gefährlichen Glauben. Sie ließen die Frauen, um die Geburt zu erleichtern, ein Glas um das andere trinken, ich sah nur Nachteil davon, es erschwerte und verzögerte den natürlichen Hergang. Es gab Leute, die täglich 4, 5 und mehr Flaschen tranken. In fast allgemeinem Gebrauche war das »Nünitrinken« (Neunuhrtrinken) beim zweiten Frühstück, wobei man aber nicht außer acht lassen darf, daß die Leute meist schon von 5 Uhr an gearbeitet und das erste Frühstück, die »Morgensuppe«, gleich nach dem Aufstehen genommen hatten; zu ihrem Wein speisten sie Brot, Käse, Speck, Fleisch. Unglaublich dürfte die Schoppenzahl klingen, die den Schnittern während der Ernte zugestanden wurde, 12, 16 und mehr für den Tag, aber der Erntewein war ein Getränk, weniger erregend als durstlöschend, sein Gehalt an Alkohol gering, an Säure groß, der Wasserverlust bei der heißen Arbeit vom Aufgang bis zum Niedergang der Sonne riesig. Da galt in Wahrheit der Spruch des Rodensteiners:


»Man spricht vom vielen Trinken stets,

Doch nie vom vielen Durste.«
[287]

Ungeachtet dieses reichlichen Weingenusses waren wirkliche Trunkenbolde und Säufer doch nicht häufig. Ein Räuschchen ab und zu galt für erlaubt. Gleich am ersten Tag nach meiner Ankunft in Kandern sah ich aus den Fenstern des Gasthofs zur Krone, wo ich abgestiegen war, ein altes Bäuerlein in rosigster Laune zickzackförmig seinen Weg aus dem Städtchen nehmen. Als ich über den seltsamen Gang des Alten den Kopf schüttelte, bedeutete mir der ernste und solide Kronenwirt, der auch schon in vorgerückten Jahren stand: ich solle dem Bäuerlein sein »Rüschli« zugute halten, wir seien eben im Markgräflerlande, wo ein solches Vorkommnis der Achtbarkeit auch des ältesten Mitmenschen keinen Eintrag tue.

Schweren Formen von Alkoholismus bin ich in der Markgrafschaft bei Personen, die nur Landwein und keine gebrannten Wasser tranken, nicht begegnet, öfter leichteren Formen des Delirium alcoholicum, wenn sie von fieberhaften und rasch die Kräfte herabsetzenden, akuten Krankheiten befallen wurden, Pneumonie z.B. und Ruhr. Opium leistete in solchen Fällen mitunter nichts, das Delirium schwand am ersten, wenn der ausgesetzte oder bedeutend eingeschränkte Weingenuß wieder gestattet wurde. Die stärkeren Weine aus den guten Jahren kamen nur bei den Reichen, und auch bei diesen nur bei besonderen Gelegenheiten auf den Tisch. Sie galten für gefährlich und wurden deshalb nicht als gewöhnlicher Haustrunk zugelassen. Der Bauer, der sich im Wirtshaus einen Schoppen Wein (4 Deziliter) zu 8 bis 10 Kreuzern bestellte, galt als ein Verschwender, sein leibliches und wirtschaftliches Verderben wurde sicher prophezeit, auch der reiche Bauer sollte den Schoppen zu 6 Kreuzern trinken, und der kleine Mann sich mit Batzenwein, d.h. dem Schoppen zu 4 Kreuzern, begnügen.

Eine nachahmenswerte Einrichtung für alle Weinlande war in der Markgrafschaft die des »Schimmeli reitens«. Unter dem Schimmeli verstand man kein Rößlein aus dem Stall, sondern einen weißen, bauchigen Tonkrug, der auf dem Anrichtetisch allezeit bereit stand, um in den Keller »geritten« zu werden. Kamen Gäste, so ging der Hausherr oder der Sohn hinab, um ihn am Fasse zu füllen und den Trank für den Gast frisch heraufzuholen.[288] Dieses Schimmeli war ein Heiligtum der Familie und ihr Stolz, es wurde sorglich gehütet und stammte oft schon von den Großeltern und Urgroßeltern, meist von Vater und Mutter. Man sah den Namen der Stifter und ihren Hochzeitstag darauf eingetragen, umkränzt von einem Rosenzweig oder von Vergißmeinnicht. Ich sah noch Krüge aus dem vergangenen Jahrhundert. Sie waren gefüllt tausendmal aus dem Keller heraufgetragen und geleert worden und stets unversehrt geblieben, oder hatten doch nur am Schnabel etwas Schaden gelitten. Das Schimmeli sollte in ehrbarer Besonnenheit seinen Weg auf und nieder nehmen, dem Gaste Erfrischung und Erheiterung spenden, aber nicht der Trunksucht dienen, darin lag seine Bedeutung.

Quelle:
Kussmaul, Adolf: Jugenderinnerungen eines alten Arztes. München 1960, S. 283-289.
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