Viertes Kapitel.
Große Männer und die Schule.

[113] Das Problem. Die erste größere Arbeit, welche ich in meiner neuen Um- und Inwelt unternahm, nachdem ich ältere Buchschulden (II, 386) abgetragen hatte, war die vertiefte Erforschung einer Gedankenreihe, deren erste Erfassung in den Anfang meiner wissenschaftlichen Laufbahn zu Dorpat zurückreicht. Nämlich der Frage, wie die genialen Leistungen der großen Forscher zustande kommen.

Wiederholt habe ich erzählt, mit welcher Neigung ich von jeher das menschliche Verständnis der großen und auch der kleineren Forscher angestrebt hatte, mit deren Arbeiten mich meine Studien in Berührung brachten. Einen großen Fortschritt bewirkte die Anwendung der energetischen Denkweise. Zahllose Einzelheiten des Forscherlebens, welche bis dahin nur eine gefühlsmäßige Teilnahme hatten auslösen können, im übrigen aber als »Schicksal« genommen werden mußten, fanden nun ihre Erklärung in leicht erkennbaren energetischen Verhältnissen. Wenn ich auch von vornherein darüber klar war, daß auf diesem Wege nicht alle Fragen beantwortet werden konnten, so erwies sich doch der Umfang der beantwortbaren so groß, daß mir die Untersuchung dieser Probleme als eine wissenschaftliche und somit auch als eine ethische Notwendigkeit erschien.

[114] Anfänge. Daß eine solche Anwendung nicht aussichtslos war, wußte ich bereits aus der Begriffsbildung, die bei mir bezüglich der allgemeinen Beschaffenheit großer Forscher entstanden war. Gegen Ende meines letzten Besuches der Vereinigten Staaten, über welchen oben berichtet worden ist, war ich einer Einladung in den Philosophischen Club von New York zu einem Essen gefolgt, welches mit der Mitteilung schloß, daß die versammelten Kollegen ernstlich hofften, alsbald einen Vortrag von mir zu hören. Ich hatte durchaus nicht daran gedacht (obwohl ich es hätte vermuten können), daß es darauf hinauskommen würde und suchte etwas verstört unter meinen geistigen Vorräten nach etwas, was ich meinen freundlichen, aber anspruchsvollen Gastgebern vorsetzen konnte, ohne mir Schande und ihnen Langeweile zu machen. Unter dem Druck des Augenblicks kristallisierte der schon lange vorbereitete Gedanke aus, daß die großen Forscher psychologisch in zwei große, stark gegensätzliche Klassen zerfallen, die langsamen, tiefgründigen, sparsam hervorbringenden Klassiker und die geschwinden, glänzenden, reichlichst hervorbringenden Romantiker. Dies erläuterte ich eingehend durch eine Anzahl von Beispielen aus der Geschichte der exakten Wissenschaften. Ich erlebte die Genugtuung, daß der Gedanke willig entgegengenommen wurde. Einer der Kollegen – leider habe ich mir damals seinen Namen nicht gemerkt; ich erinnere mich aber, daß er ein kleiner, zierlich gebauter jugendlich aussehender Mann mit hübschem, lebhaften Gesicht war, der sich mehr wie ein Künstler als wie ein Philosoph gab – teilte mir mit, daß er auf ganz dieselbe Einteilung gekommen war und den beiden Gruppen sogar dieselben Namen gegeben hatte.

Psychographien. Nun benutzte ich die Arbeitsfreiheit, die ich mir in Groß-Bothen geschaffen hatte, zu[115] einer Vertiefung dieser Untersuchungen. Als erstes Ergebnis veröffentlichte ich 1907, nach dem ersten Jahre meines neuen Lebens als Anfang einer Reihe derartiger Forschungen eine »Psychographie« des englischen Chemikers Humphry Davy. Die Wahl dieses Mannes hatte keinen anderen Grund, als daß ich biographisches Material über ihn in meiner Bücherei reichlich genug besaß. Die Abhandlung wurde in den Annalen der Naturphilosophie abgedruckt.

Die Vorbemerkungen dazu teile ich hier mit, da sie den Zusammenhang der Untersuchung mit meinen Erlebnissen und Bedürfnissen zum Ausdruck bringen.

»Es waren in erster Linie persönliche Erfahrungen, d.h. Erfahrungen an mir selbst, welche mich zum Nachdenken über den Lebensverlauf einer Forscherexistenz veranlaßten. Ein ganz unerwarteter Wechsel in der Beschaffenheit meiner wissenschaftlichen Neigungen und Betätigungen, insbesondere ein fast plötzliches Verschwinden der Fähigkeit, mich einem ausgedehnten Schülerkreise gegenüber als anregender Lehrer zu betätigen, verursachten mir zunächst ein sehr starkes, geistiges Unbehagen, ja machten mich zu Zeiten, trotz einer optimistischen Lebensauffassung im allgemeinen, ausgeprägt unglücklich. Ich muß es als einen der größten Werte betrachten, die ich als Entgelt für meine Hingabe an die Wissenschaft gewonnen habe, daß ich bald genug aufhörte, diese Erscheinung als mich allein betreffend unter dem Gesichtspunkte von Schuld und Verantwortung zu betrachten. Die angezüchtete Gewohnheit, wissenschaftlich zu verallgemeinern, begann sich alsbald auch hier, zunächst instinktiv, zu betätigen, so daß ich mir bald die Frage vorlegte: handelt es sich hier um einen persönlichen Sonderfall, oder lassen sich Allgemeinheiten über die inneren Schicksale der Wissenschafter angeben? Ein ziemlich reichliches Material, das mir aus[116] früheren Studien zur Geschichte meiner Sonderwissenschaft, der Chemie, zu Gebote stand, ließ sich alsbald unter diesem Gesichtspunkte einer vorläufigen Untersuchung unterziehen. Das Ergebnis war, daß sich ohne Zweifel sehr bestimmte Gesetzmäßigkeiten erkennen lassen und daß der Lebenslauf großer Männer im Gebiete der Wissenschaft einer weitgehenden psychologischen Analyse zugänglich ist. Insbesondere war der Einfluß wissenschaftlicher Entdeckungen auf das Lebenspotential des Forschers so deutlich, daß mir bald jeder Zweifel an dem Vorhandensein bestimmter Gesetzmäßigkeiten verschwand. Nachdem ich aber meine vorläufigen Ergebnisse der Öffentlichkeit gegenüber zunächst in skizzenhafter Weise mitgeteilt und auf die weitgehenden praktischen Anwendungen hingewiesen habe, welche sich aus ihnen ergeben, fühle ich die Verpflichtung, nach der Methode der exakten Wissenschaft das Studienmaterial, auf welchem jene Resultate beruhen, im einzelnen vorzulegen, damit die Sonderfälle nachgeprüft werden können, auf welchen jene allgemeinen Induktionsschlüsse beruhen. Wie immer in den exakten Wissenschaften, gibt es keine andere Unterlage für solche verallgemeinernden Schlüsse, als die unvollständige Induktion vermöge einfacher Aufzählung; diese Schlüsse sind daher der Verschiebung, Verbesserung, Verdeutlichung, wenn auch nicht der völligen Vernichtung durch spätere Forschungen unterworfen.«

Erste Zusammenfassung. Bald hernach folgte ich einer Einladung des Herausgebers eines Sammelwerkes »Die Gesellschaft«, M. Buber, ein Bändchen von rund 100 Seiten für diese Sammlung beizusteuern. Neben dem inneren Grund, der mir die Aufgabe willkommen machte, lag noch ein äußerer vor. Ich hatte den Schritt in mein neues Dasein mit dem Vertrauen gewagt, daß ich die[117] Mittel dafür durch freie Arbeit würde erwerben können. Um hierüber ein begründetes Urteil zu gewinnen, hatte ich mir vorgenommen, etwa drei Jahre lang alle Gelegenheiten zum Gelderwerb zu ergreifen, die in der Richtung meiner beabsichtigten Lebensweise als praktischer Idealist lagen. Dann würde ich übersehen können, ob es so ging, oder ob ich mich nach einer regelmäßig bezahlten Tätigkeit umtun müßte.

Besonders dringend war die Erwerbsfrage allerdings nicht. Ich hatte seit der Übersiedlung nach Leipzig durch meine Bücher gute und schnell anwachsende Einnahmen gehabt, die ich nicht auszugeben brauchte, weil die Kolleg- und Laboratoriumsgebühren ausreichten, die Bedürfnisse des Tages zu befriedigen. So hatte ich einige Hunderttausend Mark Vermögen erworben, die einen sehr ausgiebigen Rückhalt auch für den Fall bildeten, daß ich mein Leben nicht mehr aus laufenden Einnahmen bestreiten konnte. Doch stellte sich heraus, daß der freie Erwerb ohne Anstrengung und ohne Verzicht auf die Freiheit meiner Betätigungen reichlich genügte und auch neue Überschüsse ergab.

Es war dies die Zeit, wo die Schreibarbeit mir am schnellsten und glattesten von der Hand ging. Auf der Schreibmaschine hatte ich mir eine so weitgehende Geschicklichkeit erworben, daß ein Druckbogen täglich eine Leistung darstellte, die sich sozusagen im Nebenberuf erledigen ließ. Die Anschläge auf der Maschine folgten sich so schnell, daß sie begannen, sich zu einem gleichmäßig summenden Ton zu verbinden. Da die Arbeit der Formung meiner Sätze – den gedanklichen Inhalt hatte ich vorher auf Spaziergängen gesammelt und geordnet – mit gleicher Geschwindigkeit vor sich ging, so kann man bald ausrechnen, daß ein Büchlein, wie das eben erwähnte, sich leicht in vierzehn Tagen schreiben ließ, die erforderlichen Spaziergänge eingerechnet.[118]

Mir war die Aufgabe auch deshalb willkommen, weil sie mir ähnlich wie eine Vorlesung dem Professor Anlaß gab, das vorhandene Gedankenmaterial übersichtlich zu ordnen. Es erwies sich reicher, als ich gedacht hatte und ich hatte das Behagen, aus »ganzem Holze zu schnitzen«, um mit Goethe zu reden. Das Büchlein ist auch entsprechend frisch geraten; wie groß seine Verbreitung wurde, weiß ich nicht.

Große Männer. Die psychographischen Untersuchungen (der Name wurde von mir damals für den Zweck gebildet) wurden in schneller Folge auf eine Anzahl weiterer großer Männer ausgedehnt. Ein Teil der Arbeiten fand noch in den »Annalen« Aufnahme; es wurde aber bald so viel, zumal sich die Schlüsse und Anwendungen häuften, daß ich die umfassendere Form des Buches wählen mußte, um alles unterzubringen.

So entstand ein starker Band von 420 Seiten, der im Laufe des nächsten Jahres, 1908, fertig gestellt wurde und im Frühling 1909 unter dem Titel Große Männer herauskam. Der Erfolg war unmittelbar; die Auflage von 2000 wurde in einem halben Jahre verkauft und rief zahlreiche Äußerungen in der Presse hervor, welche die ganze Stufenleiter von herzlicher Zustimmung bis zu wilder Gegnerschaft aufwiesen. Auch einige weitere Auflagen fanden schnelle Aufnahme.

Dieser schnelle und starke Erfolg hatte mehrere Ursachen. Zunächst war die Art, wie hier die Aufgabe des Biographen aufgefaßt war, von der bisher gebräuchlichen wesentlich verschieden. Diese war so gut wie immer auf den Nekrologstil gestellt, demzufolge von dem Geschilderten nur Gutes gesagt werden durfte und das Tadelhafte, wenn es sich nicht verschweigen ließ, möglichst entschuldigt wurde. Sodann machte sich die Beschränktheit des üblichen historischen Standpunktes geltend, für den nur die »geistigen« Bestandteile des Lebens[119] in Betracht kamen und die allgemeinen oder biologischen Bedingungen als Nebensachen nur eben erwähnt wurden. Kurz, die Enge und Einseitigkeit, zu der sich die Vertreter der »Geisteswissenschaften« selbst verurteilen, wenn sie die Denkmittel der Naturwissenschaften außer acht lassen, pflegte auch dieses Feld unfruchtbar zu machen.

Ferner hatte ich keineswegs meine geschichtlichen Untersuchungen darauf beschränkt, nach der Vorschrift des Hauptes der Historiker Ranke, nur festzustellen, »wie es eigentlich gewesen war«. Dies betrachtete ich allerdings als eine notwendige Vorarbeit, aber nur als eine Vorarbeit. Eingedenk der Ursache dieser Studien hatte ich meine Beobachtungen und Feststellungen dazu benutzt, Naturgesetze des Genius aufzustellen, soweit ich solche hatte ausfindig machen können. Daraus ergeben sich dann mannigfaltige und wichtige Anwendungen auf praktische Fragen des Tages, namentlich im Gebiet der Schule und für das Ausfindigmachen der Knaben oder Jünglinge, aus denen später große Forscher werden konnten.

Deshalb hatte ich auch meine Arbeiten im Untertitel als Studien zur Biologie des Genius bezeichnet und damit hervorgehoben, daß gerade diese bisher vernachlässigte Seite in den Vordergrund gerückt werden sollte. Und zwar hatte ich ja über die damalige Biologie hinaus in der Energetik einen neuen Gesichtspunkt gewonnen, der mannigfaltige und tiefgreifende Anwendungen ermöglichte. In den Äußerungen der Presse über das Werk trat die Überraschung über diese Betrachtungsweise deutlich zutage, wobei sie je nach dem Standpunkt des Berichterstatters dem Verfasser zum Lob oder Tadel gerechnet wurde.

Praktische Anwendungen. Unter diesen biologischen Gesichtspunkten lag die Frage nach der Züchtung des Genius besonders auffällig in den Vordergrund. Durch[120] die Erzählung eines bestimmten Anlasses, auf welchen ich über die Frage besonders nachzudenken begann, hatte ich dafür gesorgt, sie dem Leser alsbald nahe zu bringen.

Es war nämlich durch einen meiner Japanischen Schüler eine Anfrage seiner heimischen Regierung an mich gerichtet worden, wie ich es mache, um so viele besonders begabte und erfolgreiche Schüler auszubilden. Es seien in Japan erhebliche Summen angewiesen worden, um die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit der Nation möglichst schnell und hoch zu entwickeln. Die Verwalter dieser Mittel hätten natürlich das Bestreben, sie erfolgreich anzuwenden und ließen um meine Unterstützung hierfür bitten.

Ich mußte zunächst antworten, daß die Dinge sich ohne bewußtes Zutun meinerseits so gestaltet hatten wie sie vorlagen. Ich hatte nur das Bewußtsein, die Wege frei gehalten zu haben, auf denen meine jungen Mitarbeiter aus eigener Kraft vorwärts strebten, und nicht ihnen fremde Wege gewiesen oder gar aufgezwungen zu haben. Die allgemeine Richtung der Arbeiten im Laboratorium war ja durch die umfassenden Leitgedanken unserer Wissenschaft gegeben: osmotischer Druck und elektrolytischer Zerfall in der ersten, Katalyse in der zweiten Hälfte meiner Lehrtätigkeit. Indem jeder neu hinzutretende Arbeitsgenosse bei der Bearbeitung aus den unbegrenzten Feldern das Gebiet übernahm, für welches er besondere Neigung und Eignung empfand, war das Ergebnis fast selbsttätig entstanden.

Immerhin war die Frage ein Anlaß, über diese Dinge eindringlicher nachzudenken, zu welchem Zwecke ich – es war in den letzten Leipziger Jahren – lange, einsame Spaziergänge durch die Pleißenauen ausführte. Es lag der Tatbestand vor, daß unter meinen Augen und Händen sich auffallend viele Sonderbegabungen entwickelten,[121] daran erkennbar, daß sehr viele von ihnen alsbald Lehrstellen erhielten, von denen aus sie meist schnell zu selbständigen Professuren aufrückten. Verglich ich damit die Verhältnisse in dem Ersten chemischen Laboratorium, dessen Besuch mindestens doppelt so groß war, wie der des meinigen und dessen Leiter von seiten seiner Studenten mit einer hemmungslosen Verehrung, fast Anbetung um geben wurde, die ihm einen unbegrenzten Einfluß auf die Seelen seiner Schüler sicherte, und wo trotzdem nur Durchschnittsware erzeugt wurde, aus der nur selten einer es bis zum Privatdozenten oder höher brachte, so mußte ich immerhin das Vorhandensein eines besonderen Faktors anerkennen, der meine Schüler in günstigem Sinne beeinflußte, und der an der anderen Stelle fehlte.

Schädliche Einflüsse. Damals gelang es mir nur, die positive Seite der Aufgabe zu lösen. Über die negative in dem anderen Laboratorium erhielt ich erst Aufklärung, als nach dem Tode seines Leiters Schilderungen seines Betriebes durch frühere Schüler an das Licht traten, deren Angaben um so vertrauenswürdiger waren, da sie durchaus Dankbarkeit und gute Gesinnung aussprachen.

Danach geschah der entscheidende Teil der Ausbildung, die Wahl und Durchführung der Doktorarbeit in folgender Weise. Der Leitende sammelte Aufgaben, die er beim Lesen oder Nachdenken gefunden hatte, indem er jede auf einen besonderen Zettel schrieb. Meist handelte es sich um Bestätigung einer eigenen oder Widerlegung einer fremden Ansicht; fast in jedem Falle wurde ein bestimmtes Ergebnis erwartet. Demzufolge strebte der Schüler, nachdem er einen solchen Zettel bekommen hatte, auf dieses Ergebnis los und hielt seine Arbeit für verfehlt, wenn etwas anderes herauskam.

Während unserer gleichzeitigen Tätigkeit hatte ich die Dissertationen des Ersten Laboratoriums vorschriftsmäßig[122] als zweiter Referent zu beurteilen, wie dies auch umgekehrt mit den Arbeiten meiner Schüler geschah. Dabei waren mir gelegentlich gezwungene Deutungen und bedenkliche Schlüsse aufgefallen, auf die ich in der ersten Zeit hinzuweisen versuchte. Die Folge war von seiten des ersten Referenten eine kräftige Zurückweisung auf den Standpunkt, daß der zweite Referent nur formal mitzuwirken habe, und daß eine Kritik der Arbeiten, die der erste gebilligt hatte, nicht zulässig sei. Demgemäß hatte ich mich hernach auch verhalten und die Geltendmachung meiner Ansichten über die zweckmäßigste Leitung der Erziehung zu freier Forschung auf meine eigene Anstalt eingeschränkt.

Organisation der Forscherarbeit. Denn die Leitung der Arbeiten war in meiner Anstalt tatsächlich wesentlich anders. Zunächst wurde Neigung und Begabung des Kandidaten erforscht und berücksichtigt und ihm freie Wahl der Aufgabe nicht nur überlassen, sondern abverlangt. Sodann betonte ich bei den gemeinsamen Besprechungen (II, 276) immer wieder, daß das Erhalten erwarteter Ergebnisse, wenn sie gut gesichert waren, zwar als Erfüllung der Aufgabe angesehen würde, an Wert aber in der untersten Reihe stehe. Unerwartete Dinge sind oft viel wertvoller, denn sie deuten wie die Unebenheiten in der Rinde eines Baumes die Stellen an, wo demnächst eine Knospe hervorbrechen wird, die zu einem neuartigen Zweige der Wissenschaft heranwachsen kann. Denn ich empfand sehr lebhaft die Gefahr, welche durch die außerordentliche Fruchtbarkeit der oben erwähnten Leitgedanken nahe gelegt wurde, daß der Anfänger durch das häufige Eintreffen der durch jene Lehren ermöglichten Voraussagungen blind für Dinge werden könnte, die sich diesen nicht anpassen wollten.

Diese Einstellung war nicht etwa als Gegenstück zu dem anderen Betrieb gedacht (von dessen Einzelheiten[123] ich damals nichts wußte), sondern ich muß sie als ein Ergebnis meiner geschichtlichen Studien bezeichnen. Diese hatten mich immer wieder über Schädlichkeit vorgefaßter Meinungen belehrt und damit einen Eindruck vertieft, der mir aus dem ersten Laboratoriumssemester in Dorpat in der Erinnerung geblieben war. Bei einer qualitativen Analyse hatte ich meinem Lehrer Lemberg Kieselsäure angegeben. Er sagte: Kieselsäure ist nicht darin. Ich hatte gleich beim ersten Versuch Kieselsäure zu finden geglaubt und in den Ergebnissen der anderen Prüfungen nur Bestätigungen dafür gesehen. Er aber zeigte mir geduldig Punkt für Punkt, wie ich mich selbst getäuscht hatte und ermahnte mich, mein Urteil künftig nicht beim ersten Schritt festzulegen, sondern es bis zum letzten Augenblick offen zu halten und stets willig zu bleiben, es abzuändern, wenn weitere Ergebnisse dies forderten.

Durch solche Überlegungen stellte sich zunächst heraus, daß ich ohne viel Nachsinnen ein Verfahren eingehalten hatte, welches mit großer Sicherheit die vorhandene Begabung des Schülers zu überdurchschnittlicher wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit entwickelte. Es handelte sich nun für mich um die Aufgabe, die Sache aus dem Unterbewußtsein in das Licht bewußter Anschauung emporzuheben. Dies ist ein gefährlicher Vorsang, vergleichbar einer Geburt, bei welcher nur zu leicht das Kind verdrückt, entstellt, ja erstickt werden kann, ähnlich, wie bei der Erzeugung eines Kunstwerkes, die von gleichen Gefahren begleitet ist. Doch ist hier glücklicherweise ein Geradrichten, Verbessern, Neubeleben möglich, wenn der erste Versuch nur eine Mißgeburt zur Welt gebracht hat. So habe auch ich meine Gedanken vielfach hin und her gewendet, umgestellt und entwickelt, bis ich durch beständigen Vergleich mit der Erfahrung ein dauernd lebensfähiges Gebilde erzielte.[124]

Zum Zweck dieses Vergleichs waren eben die einzelnen Forscherbiographien durchgearbeitet worden. Es waren also bestimmte Fragen, mit denen ich an die Tatsachen herantrat. Es ist ganz natürlich, daß unter solchen Umständen scharf beleuchtete Bilder entstehen, die den Leser ungleich mehr fesseln konnten, als die im hergebrachten zerstreuten Licht »historischer« Betrachtung hergestellten Gemälde der Vorgänger.

Forscher und Lehrer. Ein anderer Gesichtspunkt, der sich aus diesen Untersuchungen ergab, bezog sich auf das, was ich die Bewirtschaftung des Genius nennen möchte. Wer mit unserem Hochschulwesen näher vertraut ist, empfindet ein lebhaftes Bedauern darüber, welcher gedankenlose Raubbau nicht selten mit dem Kostbarsten getrieben wird, was ein Volk besitzt, mit der Zeit und Kraft seiner wertvollsten Köpfe. Mir war schon auf meiner ersten Deutschlandreise die zweckwidrige Beanspruchung aufgefallen, welche der größte Physiker des damaligen Deutschland dadurch erlitt, daß man ihm die Abhaltung der fünf- oder sechsstündigen Vorlesung für werdende Mediziner, Chemiker usw. im ersten Semester zumutete. Aus den persönlichen Berichten einer ganzen Anzahl seiner Hörer habe ich hernach entnehmen können, daß er auf diese gar keinen Eindruck machte. Man durfte hier nicht einmal sagen, daß für die künftigen Vertreter der Wissenschaft das beste nur eben gut genug sei. Denn diese Vorlesungen, so gut sie innerlich waren, erfüllten doch nur ganz mangelhaft den Zweck, den jungen Studenten, denen exaktwissenschaftliches Denken auf dem Gymnasium nur in den seltensten Fällen beigebracht worden war, eine elementare Kenntnis der Physik zu vermitteln. Dazu waren sie zu hoch, trotz der Mühe, die sich Helmholtz gab, herabzusteigen. Ihm waren die Denkschwierigkeiten mittlerer Köpfe ganz ungeläufig, da er selbst sie nie erlebt hatte,[125] und so konnte er sie nicht berücksichtigen und überbrücken. Der Zweck wäre unverhältnismäßig viel besser erfüllt worden, wenn an dieser Stelle ein unterrichtlich gut begabter Lehrer gestanden hätte, wie sie zu hunderten zu finden sind, auch wenn diesem die schöpferische Begabung des Genius ganz und gar gefehlt hätte. Die hier zwecklos vergeudete höchstwertige Energie des großen Forschers aber hätte sich in wissenschaftlichen Werken ausgewirkt und das Kulturgut der Menschheit um weitere Dauerwerte erhöht.

Im Lichte meiner Untersuchungen hätte man ja von vornherein wissen können, daß der ganz zweifellos zum klassischen Typus gehörige Helmholtz niemals ein guter Lehrer sein konnte, am wenigsten für die breite Masse der Anfänger. Jeder Zwang nach solcher Richtung mußte also notwendig jene Leistungen vermindern, die niemand an seiner Stelle hätte ausführen können, nämlich die wissenschaftlichen Entdeckungen. Und wenn man sagt, daß er deren doch genug gemacht habe, so muß geantwortet werden, daß man davon nie genug bekommen kann, zumal da wir ja erst am Anfange der wissenschaftlichen Eroberung unserer Welt stehen. Man denkt gewöhnlich nicht daran, wie jung eigentlich die freie Wissenschaft ist, nicht älter als hundert und einige Jahre. Es ist beispielsweise kaum ein Jahrhundert her, seit einem Kant amtlich verboten wurde, in seinen Schriften etwas über Religion zu veröffentlichen, mit dem Ergebnis, daß er sich diesem Befehl fügte.

Diese Jugend der Wissenschaft hat es mit sich gebracht, daß erst in letzter Zeit überhaupt daran gedacht worden ist, die wissenschaftliche Ernte zu organisieren. An den Universitäten bestand und besteht der Grundsatz, daß der Professor amtlich nur zum Lehren verpflichtet wird, nicht zum Forschen. In schärfstem Widerspruch hierzu geschehen die Berufungen nicht nach den[126] Erfolgen der Kandidaten als Lehrer, sondern als Forscher; die Lehrbefähigung steht an zweiter Stelle. Ist eine ausgezeichnete Stellung erreicht, so hängt das weitere Forschen allerdings ganz von freiem Willen des Professors ab und er behält sein Amt, wenn er auch das Forschen völlig aufgibt. Dagegen wird mit größter Strenge darauf geachtet, daß die mindere Leistung des Lehrens unverkürzt betätigt wird. Als Beispiel kann ich meinen eigenen Fall anführen. Obwohl ich als Forscher bedeutend mehr leistete, als die Mehrzahl meiner Gegner, benutzten diese doch die in späteren Jahren entstandene Abneigung gegen das Kolleglesen, um mir das Verbleiben in ihrem Kreise unleidlich zu machen.

So besteht das wunderliche Verhältnis, daß die höchste und für die Nation wie die Menschheit wichtigste Leistung zwar von dem Professor verlangt und erwartet, ihm aber nicht vergütet wird. Er muß sie als freies Geschenk darbringen und wird bestraft, wenn er zu ihren Gunsten die Lehrtätigkeit zu kürzen sucht.

Die Untersuchung der psychophysischen Bedingungen der Lehrtätigkeit beim hochbegabten Forscher führt also zu folgenden Ergebnissen. Die Klassiker unter ihnen sind meist von vornherein für den Lehrberuf ungeeignet und sollten deshalb im allgemeinen Interesse damit überhaupt amtlich verschont bleiben. Die Romantiker sind dagegen in ihren jungen Jahren fast immer ausgezeichnet gute Lehrer und man kann ihnen das Feld für solche Betätigung kaum früh genug auftun und kaum groß genug darbieten. Aber gerade durch ihre hemmungslose Hingabe an solche Arbeit, die so ziemlich die anspruchsvollste ist, welche es in der Wissenschaft gibt, erschöpfen sie sich ziemlich schnell und damit schwindet die Liebe und der Erfolg.

Hieraus ergibt sich die Form der Verwertung solcher Menschen. Den Klassiker belaste man tunlichst wenig[127] und halte ihn vor allen Dingen von elementaren Massenvorlesungen frei. Dem Romantiker gewähre man reichlichste Unterrichtsgelegenheit, solange er jung ist (er pflegt schon in sehr jungen Jahren ein Meisterwerk hervorzubringen), achte aber darauf, ihn zu entlasten, wenn er sich nach dieser Richtung ausgegeben hat.

Dies gilt, wie nochmals ausdrücklich gesagt werden soll, für ungewöhnlich begabte Forscher. Bei solchen minderer, wenn auch noch sehr guter Begabung pflegen die Unterschiede geringer zu sein, so daß eine verhältnismäßig größere Unterrichtsleistung von ihnen beansprucht werden kann und gut vertragen wird. Hier trifft man nicht selten Männer an, bei denen die unterrichtliche Begabung besonders gut entwickelt ist. Solche sind sehr wertvolle Mitglieder des Lehrkörpers; auch stoßen sie kaum je auf Schwierigkeiten bei der Betätigung ihrer Sonderbegabung..

Auslese. Eine andere Anwendung der Untersuchungsergebnisse war die Beantwortung der Frage, woran man den künftigen großen Forscher möglichst frühzeitig erkennen kann. Wie oben erzählt wurde, nahm der ganze Aufgabenkreis von diesem Punkte seinen Ausgang, nachdem von Japanischer Seite das Problem ausgesprochen war. Damals hatte ich eine vorläufige Antwort folgenden Inhaltes gegeben.

Der künftige Genius läßt sich auf der Schule daran erkennen, daß ihm der Inhalt des regelmäßigen Unterrichts nicht genügt; er sucht sich auserhalb desselben Belehrung und zwar meist durch Bücher und in ausgesprochen einseitiger Richtung.

Man begreift leicht die Notwendigkeit dieser Erscheinung, wenn man sich klar macht, daß das regelmäßige Schulpensum nur auf mittlere Begabungen zugeschnitten sein kann, solange man den groben organisatorischen Fehler begeht, Schüler desselben Jahrganges[128] durch die Klasseneinteilung so aneinander zu koppeln, daß die persönlichen Verschiedenheiten in der Geschwindigkeit und Tiefe des Erfassens methodisch unterdrückt werden. Die Einrichtung der Schulklassen beruht auf der stillschweigenden Voraussetzung, daß alle Schüler gleich an Begabung, Interesse und Fleiß seien, oder doch gemacht werden können und müssen. Bekanntlich steht keine Tatsache mehr außerhalb jedes Zweifels, als die der persönlichen Verschiedenheit aller Menschen. Unsere Schule kommt also schon dadurch in einen unheilbaren Widerspruch mit der Wirklichkeit Es ist nicht der einzige, denn ein so tiefliegender Fehler bringt zwangläufig einen Rattenkönig weiterer Fehler mit sich. Um ihn zu vermeiden, müßte man von vornherein die Schule so organisieren, daß die begabteren Schüler schneller als die minder begabten durch die Lehre geführt werden. Dies ist organisatorisch sehr wohl durchführbar und auch ausgeführt worden. Weiter unten wird Einiges dazu dargelegt werden.

Wenden wir uns wieder der Hauptfrage zu, so finden wir den künftigen Genius meist in einem sehr nahen Verhältnis zu einem erwachsenen Freunde, der ihm mit Wort und Tat auf dem Wege weiterhilft, den zu suchen ihn der Geist treibt. Zuweilen ist es der Vater. Nicht selten macht sich nämlich der geistige Aufstieg bereits in der vorangegangenen Generation geltend, ohne doch so stark zu sein, daß ungewöhnliche Leistungen zustande kommen. Häufiger aber ist es ein Verwandter oder Freund, zuweilen eine ganz zufällig entstandene Beziehung. Von einem solchen kann man die sicherste Auskunft über die Beschaffenheit des jungen Menschen erhalten, wenn man etwa auf der Suche nach jungen Hochbegabten ist.

Denn die Auskunft seitens des Lehrers, an den man sich in erster Linie zu wenden geneigt sein wird, ist mit großer Vorsicht aufzunehmen. Es gibt (oft unbekannt[129] bleibende) geniale Lehrer, welche ihren Beruf in idealer Weise auffassen und ausüben; solche werden den Schüler meist richtig beurteilen. Unwillkürlich stellen aber die meisten Lehrer aus sehr nahe liegenden Ursachen ihr Urteil über den Schüler darnach ein, wieviel Mühe er ihnen macht. Nun beansprucht der Hochbegabte allerdings keine Mühe des Lehrers für die Überlieferung des Durchschnittlichen. Wohl aber stellt er zuweilen in Fragen und Einwürfen so hohe Forderungen, daß der Lehrer sich in Verlegenheit gebracht sieht und darum ungeduldig oder zornig wird. Dazu kommt, daß eine Hochbegabung auch immer eine Sonderbegabung ist; die Hingabe des Schülers ist einseitig gerichtet und was abseits liegt, wird vernachlässigt. Alle diese Umstände wirken zusammen, um das Urteil des durchschnittlichen Lehrers in ungünstigem Sinne zu beeinflussen. Meist wird es lauten: als er klein war, erwies er sich als sehr hoffnungsvoll; im späteren Alter hat er der Schule zunehmend Schwierigkeiten und Sorgen gemacht, und jetzt sind wir zweifelhaft, ob aus ihm überhaupt etwas werden wird.

Denn das Ideal des durchschnittlichen Lehrers ist unwillkürlich nicht der geniale Schüler, sondern der »gute«, nämlich der, welcher dem Lehrer die geringste Mühe macht.

Schulfragen. Mit naturgesetzlicher Notwendigkeit hatten mich somit diese Untersuchungen, die von den Größten ausgingen, in denen der Menschengeist gipfelt, zu den Kleinsten geführt, den Kindern, welche in der Schule die erste Anleitung zu ihrer künftigen Größe empfangen. In Deutschland galt damals der Glaube, daß unser Schulwesen von unübertrefflicher Vollkommenheit sei, und die Versuche Kaiser Wilhelms II., der am eigenen Leibe die großen Fehler des Lateingymnasiums erfahren hatte, diese Fehler zu verbessern, scheiterten an dem einmütigen Widerstande der »Fachleute«.[130]

Mir waren solche Erfahrungen erspart geblieben, da ich meine Erziehung in einem Realgymnasium erhalten hatte. Nun aber drängten sich mir verschiedene Tatsachen auf, welche sämtlich nach der gleichen Richtung wiesen. In dem oben genannten Buch Große Männer nahmen deshalb solche Schulfragen ein eigenes Kapitel ein und die Untersuchung führte eindeutig zu dem Schluß, daß das Lateingymnasium ein längst überlebtes, atavistisches Überbleibsel unserer Kulturentwicklung ist, das behufs Gesunderhaltung des Organismus tunlichst schnell und schmerzlos beseitigt werden muß.

Dies Ergebnis fand mich nicht unvorbereitet.

Die in den Knabenjahren gutgläubig übernommene Verehrung der »humanistischen« Bildung war bei der Berührung mit meinen Erfahrungen Stück für Stück abgebröckelt und hatte sich langsam und unwiderstehlich in ihr Gegenteil verkehrt. Von großem Einfluß war hierbei, daß gerade die menschlichen Eigenschaften der Vertreter des Humanismus, die ich in Dorpat und später in Leipzig kennen lernte, durchaus keine Belege für die Hebung ihrer seelischen Werte durch die Beschäftigung mit der Antike erkennen ließen, was doch zur Begründung des Lateinunterrichts im Gymnasium stets behauptet wird. Ich fand im Gegenteil diese Männer vielfach beschränkt, unfähig die wichtigsten Vorgänge ihrer Zeit zu verstehen und am stärksten mit den üblen Eigenschaften behaftet, die als Kehrseite des Professorenberufes auftreten. Als ich während eines Jahres in Leipzig die Fakultätsgeschäfte als Dekan zu führen hatte, kam u.a. die Neubesetzung eines freigewordenen altphilologischen Lehrstuhls in Frage. Wir Naturforscher waren gewöhnt, in solchen Fällen den besten Mann zu wählen, der erreichbar war, in dem Vertrauen, daß je wirksamer er sich als Lehrer und Forscher erwies, die Universität um so höher dastehen und um so mehr Schüler heranziehen[131] würde. Bei den Philologen aber war der erste Gesichtspunkt, einen Mann zu finden, der den vorhandenen Fachgenossen durch sein Arbeitsgebiet am wenigsten Konkurrenz machen würde. Das wurde bei den Besprechungen als selbstverständliche Forderung, offenbar behufs Wahrung der »Kollegialität« offen geltend gemacht und darnach wurde auch verfahren.

Dies mußte ich als einen weiteren Experimentalbeweis gegen den Wert der klassischen Philologie erkennen. Offenkundige Geheimnisse aufdecken wird aber in solchen Fällen als die denkbar strafwürdigste Handlung angesehen und entsprechend gepönt, wie ich es ja auch erfahren hatte.

Geschichtliche Nachweise. Von anderer Seite wurde dieser Schluß durch jene Studien über große Männer bestätigt. Auffallend oft, fast regelmäßig hatten diese ihre Knabenjahre in tätigem oder leidendem Widerstande gegen die Lateinschule zugebracht. Liebig hatte sich vor Beendigung des Gymnasiums herausexplodiert, Mayer hatte sich meist unter den Letzten der Klasse aufgehalten, Davy hatte an ihr nichts zu loben, als daß sie ihm Zeit für seine Liebhabereien ließ und der sanfte und gemessene Darwin, dessen hundertjähriger Geburtstag damals gerade gefeiert wurde, hatte in seiner Selbstbiographie mit harten Worten den Haß und die Verachtung ausgesprochen, die er gegen die alte »einfältige Lateinschule« empfand. Als objektiver Forscher konnte ich nur den Schluß ziehen, daß sie zum Heranpflegen großer Männer ganz ungeeignet ist. Und als Naturforscher, der zu einer häufig wiederkehrenden Erscheinung die Ursachen zu suchen verpflichtet ist, sah ich mich verpflichtet zu ermitteln, worauf eigentlich diese Wirkung beruht, die so ganz und gar im Widerspruch steht mit dem was die Mehrheit glaubt, und was auch von den maßgebenden Männern in den Ministerien[132] und anderen Behörden geglaubt wird, welche für den höheren Unterricht verantwortlich sind. Wenigstens handelten und handeln sie so, als wenn sie es glaubten.

Sie beruht darauf, daß das klassische Ideal grundsätzlich keine Entwicklung anerkennt, welche über das von der Antike Erreichte hinausgehen könnte. Damit hat sich diese Denkweise grundsätzlich selbst zur Unfruchtbarkeit verurteilt, und die Beschaffenheit der Mehrzahl ihrer Träger liefert den experimentellen Nachweis für die geisttötende Wirkung einer solchen Einstellung.

Wider das Schulelend. Durch den starken und mannigfaltigen Widerhall, den meine Anklagen und Forderungen in der Tagespresse hervorgerufen hatten, wurde ich in die Schulreformbewegung hineingezogen, die sich damals entwickelte. Nachdem 1866 das Wort herumgegeben wurde, daß der preußische Schulmeister den damaligen Krieg gewonnen habe, war die oben erwähnte Selbstbewunderung unseres Schulwesens entstanden, wodurch dieses unvermeidlich stehen blieb und den stets neuen Forderungen der wachsenden Kultur nicht mehr gerecht werden konnte. Hiergegen hatten sich einzelne Personen und Gruppen erhoben, welche einen zunächst fast hoffnungslosen Kampf gegen den bedenklich wachsenden pädagogischen Zopf führten. Von diesen wurde ich als willkommener Bundesgenosse begrüßt und nach vielen Seiten zur Teilnahme an Versammlungen und zum Halten von Vorträgen eingeladen. Da ich nicht durch amtliche Bindungen behindert war, nahm ich die meisten Aufforderungen an.

Nach außen entwickelte sich meine Tätigkeit zunächst durch die Teilnahme an den Jahresversammlungen der »Gesellschaft für Deutsche Erziehung«, welche zu schöner Sommerzeit in Weimar stattfanden, und an denen ich mich als Vortragender beteiligte. Die Wirkung war so[133] günstig, daß eine große Versammlung in Berlin im Frühling 1909 abgehalten wurde. Zu meinem Vortrage hatten sich mehr als 2000 Zuhörer eingefunden, denen ich offenbar ganz aus der Seele sprach, so häufig und zuweilen stürmisch war der Beifall. Unter dem Titel: Wider das Schulelend habe ich den Gedankengang des in freier Rede gehaltenen Vortrages als Sonderheft im Druck erscheinen lassen und dadurch seine Wirkung auf weitere Kreise ermöglicht.

Der Hauptpunkt war der Hinweis, daß die vom Kaiser Wilhelm II. wiederholt versuchte Reform des mittleren Schulwesens mit Notwendigkeit daran scheitern mußte, daß über die Verbesserung die Träger und Inhaber dieses Wesens selbst beraten und entscheiden sollten. Dadurch war von vornherein eine Mehrheit gegen alle tiefgreifende Änderung gegeben, und die Vorschläge konnten nicht anders ausfallen, als daß der bisherige Zustand nach Möglichkeit geschont wurde. Ich erzählte die Geschichte vom Präsidenten Eliot und den Fußballexperten (III, 41), nur daß im vorliegenden Falle niemand da war, der jene vernünftige Betrachtung angestellt hatte.

Daß aber der vorhandene Zustand unerträglich zu werden drohte, wurde in erschreckender Weise der Allgemeinheit ins Gewissen gerufen durch eine Anzahl Schülerselbstmorde, welche gerade damals in schneller Folge sich ereignet hatten.

Zwei Anstalten innerhalb des deutschen Schulwesens hatten dagegen zufolge ihrer inneren Vortrefflichkeit Weltgeltung gewonnen: der Kindergarten und die Universität. Und zwar weil beide im Gegensatz zur amtlich bis ins einzelne reglementierten Mittelschule sich frei haben gestalten können, so daß die erfolgreichsten Methoden sich im Wettbewerb durch natürliche Auslese festsetzen konnten.[134]

In beiden ist der erfolgreiche Betrieb durch die Freude gekennzeichnet, mit der Lehrer wie Schüler an ihm teilnehmen. Die wohlbekannte Freudlosigkeit des gymnasialen Schulbetriebs ist allein schon ein Beweis seiner Untauglichkeit.

Mit besonderer Schärfe wendete ich mich gegen den Anspruch, der philologische Unterricht sei auf die Ideale gerichtet, im Gegensatz zum »banausischen Nützlichkeitsstandpunkt« der Naturwissenschaft. Ein Ideal ist ein an sich unerreichbares Ziel, dem man sich schrittweise annähert. Die Antike kann schon deshalb kein Ideal sein, weil wir uns ihr überhaupt nicht nähern können, sondern uns mit naturgesetzlicher Notwendigkeit von ihr entfernen. Von jenem Gegensatz bleibt nur der Umstand wahr, daß sie tatsächlich nicht nützlich ist, sondern unnütz und schon deshalb schädlich.

Vom Lateingymnasium ist die Überschätzung des Sprachunterrichts auch auf die neueren Schulformen übergegangen, in denen die modernen Sprachen ebensoviel Zeit und Arbeit beanspruchen. Die Rechtfertigung, als sei Sprachenlernen ein Bildungsmittel, ist ganz unhaltbar. Ein Hotelportier beherrscht mehr Sprachen als der gebildetste Oberlehrer, aber dieser wird ihm sicher nicht die Palme der höheren Bildung reichen.

Weiter beklagte ich die viel zu lange Dauer des Gymnasialunterrichts mit seinen neun Jahren, wodurch die begabten Jünglinge, welche um diese Zeit längst fähig sind, ihre Entwicklung in die eigene Hand zu nehmen, in einem Zustand geistiger Gefangenschaft gehalten werden, der in vielen das wichtigste zerstört, nämlich die Ausgestaltung der denkerischen Persönlichkeit. Und wenn die Schule noch etwas übrig gelassen hat, so droht ihm Vernichtung durch den allerbösesten Schaden unseres Schulwesens, die Abiturientenprüfung, die ein Verbrechen an unserer geistigen Jugend genannt werden muß.

[135] Weitere Reformarbeit. Ich weiß nicht, wieviel Zustimmung ich gegenwärtig für diese Ansichten finden werde. Damals wurden sie als neu empfunden. Ihre unverblümte Aussprache wirkte wie Keulenschläge und ein großes Getöse war die Folge.

Für mich ergab sich eine ausgedehnte Vortragsarbeit über die Schulfrage, da ich die von vielen Seiten eintreffenden Einladungen gerne annahm. So bin ich nach zahlreichen Städten Deutschlands gekommen und habe dabei eine unabsehbare Menge Menschen aus allerlei Berufen kennen gelernt, die gleich mir die Schäden unserer Mittelschulen erfahren hatten, teils an ihren Kindern, teils in ihren Betrieben, und meine Bemühungen um Verbesserung freudig begrüßten. Ich bin außerstande abzuschätzen, wieviel tatsächlicher Fortschritt dabei entstanden sein mag. Eine nüchterne Abrechnung wird vermutlich keinen sehr großen Gewinn buchen können.

Unter diesen Vorträgen war einer der wirksamsten ein in Wien gehaltener. Nach dieser schönen Stadt mit ihren lebhaften und leicht anzuregenden Bewohnern war ich inzwischen mehrfach gekommen, fast immer zu Vertragszwecken in mannigfaltigen Zusammenhängen, und war stets mit besonderer Wärme empfangen worden. In diesem Falle überstieg der Sturm der Zustimmung, die ich während der Rede erfuhr, alles was ich bisher erlebt hatte. Der Eindruck war so stark, daß als Gegenwirkung alsbald ein Verein zur Erhaltung des humanistischen Gymnasiums gegründet wurde, dessen Vorsitz der damalige österreichische Unterrichtsminister Graf Stürgkh übernahm, derselbe, welcher hernach von dem Sozialisten Adler ermordet wurde. Der Verein veranstaltete alsbald eine große Versammlung in der Universität, auf welcher kräftige Beschlüsse gegen meine destruktiven Ansichten gefaßt wurden. Die Neue Freie Presse gewährte[136] mir aber Gastfreundschaft und brachte meine Verteidigung dagegen zum Abdruck.

Sogar die gute Frau von Ebner-Eschenbach wurde in den Dienst der heiligen Sache gestellt und verfaßte folgendes Sinngedicht:


Wer Griechisch versteht und auch Latein,

Wird auch des Deutschen Meister bald sein.

Soll unsere Bildung versinken im Pfuhle,

So nehmt die Klassiker fort aus der Schule.


Sie war damals allerdings schon 80 Jahre alt.

Ich aber dachte: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Das Juristendeutsch ist von jeher berüchtigt; seine Erzeuger stammen ohne Ausnahme aus dem Lateingymnasium.

Berthold Otto. Von allen persönlichen Beziehungen, die ich hierbei gewann, schätze ich als die wertvollste die zu dem genialen Erzieher Berthold Otto, dem Fröbel unserer Zeit. Während die meisten Gesinnungsgenossen sich der Bekämpfung des Fehlerhaften widmeten, hatte Otto mit frischem Mut und klarem Blick zugegriffen und die neuen Wege der Erziehung, die er vor sich sah, an einer ihm von einsichtigen Eltern anvertrauten Schülerschar zu begehen begonnen. Er konnte bald auf schönste Erfolge hinweisen.

Ein Hauptgedanke seines Verfahrens war, dem Schüler nicht von außen her fertiges fremdes Wissen »nahezubringen«, sondern ihn von vornherein anzuleiten, wie man sich selbst wünschenswertes Wissen verschafft. Zunächst durch Befragung von Mitschülern, dann des Lehrers, und wenn auch diese Quelle versagte, von Büchern. Solches Wissen muß aber zunächst als wünschenswert empfunden werden, da das Kind sonst ohne Zwang nicht darnach suchen würde. Es waren also Fragen des Tages, Erlebnisse auf dem Schulwege, zu[137] Hause oder auf der Straße Gehörtes, was die Inhalte der Fragen ergab. Um diesen unterrichtlichen Gedanken auszuführen, diente die Form des »Gesamtunterrichts«, eine zwanglose Unterhaltung unter Führung des Lehrers.

Bei den Besprechungen mit B. Otto ergab sich unter anderem eine sehr lustige Erläuterung zum energetischen Imperativ. Einer der vielen Besucher dieser Stunden, offenbar aus der »alten Schule«, hatte getadelt, daß die Schüler und Schülerinnen in der Stunde keineswegs gleichartig und ordentlich dasaßen, sondern die verschiedensten Körperhaltungen zeigten. Ja, sagte Otto, ich habe auch anfangs versucht, den Kindern eine bestimmte Haltung vorzuschreiben. Aber dann konnte ich nicht Leben und eifrige Teilnahme hervorrufen, d.h. ich verfehlte meinen Zweck. Sobald irgendeine Frage die Kinder fesselte, hatten sie keinen Sinn mehr für die vorgeschriebene Körperhaltung, sondern beteiligten sich mit allen Gliedern an der Erörterung. Es ist nicht möglich, die Aufmerksamkeit gleichzeitig auf einen geistigen Inhalt und auf die körperliche Stellung zu richten und so wurde auf diese verzichtet, um jenen nicht zu beeinträchtigen.

Ich tat damals, was ich konnte, um dem trefflichen Manne und reinen Idealisten seinen schweren Weg zu erleichtern und ihm praktische Hilfe zuzuführen, wo ich welche finden konnte. Er hat mit unerschütterlicher Treue seinen Weg eingehalten und eine anhängliche Gemeinde um sich gesammelt, doch war es ihm nicht beschieden, seine Gedanken in großem Umfange zu verwirklichen. Doch hege ich den guten Glauben, daß früher oder später seine Zeit kommen wird.

Die Reichsschulkonferenz. Eine Art Abschluß fanden diese Bemühungen, als im Jahre 1920 die neuen Männer eine allgemeine Schulkonferenz nach Berlin einberiefen.[138] Sie litt unter genau demselben Fehler, wie die Versuche des Kaisers Wilhelm II., denn sie war so gut wie ausschließlich aus Vertretern des bisherigen Schulwesens zusammengesetzt. Von solchen war das vorbereitende Programm aufgestellt worden, und sie kamen auch so gut wie allein in den Sitzungen zu Worte. Ebenso waren sie maßgebend in den zahlreichen Ausschüssen. Wo ich an solchen teilgenommen habe, konnte ich erkennen, daß die Verhandlungen nach einem festgelegten Programm abliefen und jeder Versuch abgelehnt wurde, neue Gedanken zur Geltung zu bringen.

So kam es, daß wirklich Grundsätzliches überhaupt nicht erörtert wurde. Bekanntlich beruht unser gesamtes Schulwesen auf der Voraussetzung, daß alle Schüler eines und desselben Jahrganges gleiche Kenntnisse, Fertigkeiten, Interessen, Begabungen usw. haben und jahraus, jahrein während der ganzen Schulzeit betätigen. Denn die scharf betonte Aufgabe des Lehrers ist, die Klasse möglichst gleichförmig durch das Jahrespensum zu führen. Da nun nichts falscher ist, als jene Voraussetzung, so wird jeder Lehrer gezwungen, den größten Teil seiner Energie darauf zu vergeuden, die zahllosen Hinderungen und Schädigungen auszubessern, welche jener Grundfehler bewirkt. Dabei kommt seine Arbeit nicht in erster Linie den Bestbegabten zugute, bei denen sie den größten Nutzungswert ergeben würde, sondern mit Notwendigkeit den Schwächsten, bei denen das Ergebnis das geringste ist.

Daß dieser Grundfehler unserer Schulorganisation nicht als unverbesserliches Schicksal hingenommen zu werden braucht, ist schon oft nachgewiesen worden. Er beruht auf dem System der Schulklassen und verschwindet, wenn das Klassensystem aufgehoben und durch das der unabhängigen Unterrichtsgänge ersetzt wird. Es ist hier nicht möglich, auf Einzelheiten einzugehen[139] und ich muß mich begnügen, diesen Punkt als den unvermeidlichen Wendepunkt jeder wirklichen Schulreform mit aller Schärfe zu kennzeichnen und seine Verwirklichung einer einsichtigeren Zukunft zu überlassen. Dies wird einen wahrhaft sozialen Klassenkampf, nämlich einen Kampf gegen die Schulklassen ergeben, im Gegensatz zu dem gründlich unsozialen Gedanken, der gegenwärtig diesen Namen führt.

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 113-140.
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