Kapitel XLIX.
De philosophia naturali
oder
Von der Wissenschaft natürlicher Dinge

[180] Aber wir wollen weiter gehen und die Grundsätze der Weltweisen, welche der Natur selbsten nachgrübeln und ihren Ursprung und Zweck mit betrüglichen Syllogismis zu erforschen gedenken, betrachten, und fürwahr, es weiss kaum ein Mensch, was für Gewissheit bei denenselben ist, sobald sie sich nicht an den Glauben ihrer Lehrmeister halten. Diese Philosophie haben die Poeten am ersten profitieret, unter welchen ist fürnehmlich gewesen Prometheus, Linus, Musaeus und Orpheus, wie auch Homerus. Derohalben bedenke nur ein jedweder, was für Wahrheit uns die Philosophie bringen kann, die aus dem Geschwätze und Fabuln der Poeten ihren Ursprung hat. Und dass dieses nicht anders sei, beweiset Plutarchus mit offenbaren Gründen, nämlich, dass alle Sekten der Philosophorum von dem Homero ihren Anfang genommen haben; der Aristoteles selbsten bekennet, dass die Philosophi von Natur auch Philomythi, das ist Fabelbeflissene, sind. Der Philosophorum Sekten haben andere in neun,[180] andere in zehn, andere – unter welchen ist Varro – in mehr Teile geteilet. Aber wenn man gleich alle Philosophos über einen Kamm scheren sollte, so würde man doch nicht wissen, wer unter ihnen Koch oder Keller, oder der Vornehmste, und wessen Lehre am meisten zu folgen sei, also sind sie untereinander uneinig und haben von undenklichen Jahren her lauter Zank und Streit angefangen, und (wie Firmianus saget) jedwede Sekte suchet die andere zu vertreiben und auszurotten, damit einer für den andern nicht klüger gehalten, oder ihre Torheiten dadurch nicht an Tag kommen möchten; und wenn sie nun von allen andern Philosophis disputieret haben, so sind sie hernach von keinem gewiss; dahero stehe ich noch bei mir an und weiss nicht, ob ich die Philosophos unter das unvernünftige Vieh oder unter die Menschen zählen soll. Sie scheinen zwar besser zu sein, als die Bruta oder die unvernünftigen Tiere, weil sie Vernunft und Verstand haben; aber ich kann auch nicht sehen, wie ich sie unter die Menschen rechnen könnte, denn ihre Ration und Vernunft ist in keinem Dinge beständig, sondern schwanket immer hin und wieder, von schlüpferigen und betrüglichen Meinungen, und ihr Verstand ist in allen Sachen ungewiss, und wissen nicht, an was sie sich halten und was sie glauben sollen, und dass es nicht anders sei, das wollen wir anjetzo weitläuftig dartun.[181]

Quelle:
Agrippa von Nettesheim: Die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissenschaften und die Verteidigungsschrift. München 1913, Band 1, S. 180-182.
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