Kapitel LXXXV.
De chirurgia
oder
Von der Wundarzneikunst

[97] Es ist noch übrig die Chirurgie als der andere Teil der Medizin, welche die Übel, so der Mensch äusserlich hat, zu kurieren pfleget. Dies sind noch offenbare und sichere Mittel, die der andern Medicorum aber sind nur blinde Consilia und blosse Mutmassungen. Die Barbiere oder Wundärzte sehen und betasten, was sie tun, und nehmen nach Gelegenheit eines und das andere weg, und verändern es oder applizieren was anders. Diese ist unter allen Heilkünsten am ersten im Gebrauch gewesen.

Denn weil die Menschen von alters her im Kriege sich exerzieret, so haben sie einander Wunden geschlagen, und solche wiederum zu heilen, Mittel gesuchet; und dafür gehalten, dass dasjenige Übel, welches ein Mensch dem andern antun kann, dasselbe könnte auch wiederum von den Menschen kurieret und geheilet werden. Die andern Krankheiten aber alle und die innerlichen Peinigungen, als welche durch der Götter Zorn verursachet wären, die, meinten sie, könnten durch natürliche Hilfe und Kräfte nicht kurieret werden. Der erste Erfinder nun dieser Wundarzneikunst[97] ist gewesen Apis, der Ägyptier König, oder wie Clemens Alexandrinus will, ein viel älterer, Mizraïn genannt, ein Sohn Cham und Kindeskind des grossen Noah; es hat aber am ersten die Wundmedizin der Äsculapius beschrieben; hernach sind hierinnen berühmt geworden Pythagoras, Empedocles, Parmenides, Democritus, Chiron und Paeon.

Plinius erzählet, dass Archagatus Peloponnensis diese Kunst am ersten zu Rom exerzieret habe, und dass derselbe wegen seiner Grausamkeit zu schneiden und zu brennen, der Vulnerarius oder der Verwunder öffentlich wäre genennet worden, endlich aber habe man diesen Namen verändert und ihm den Namen eines Carnificis oder eines Henkers gegeben. Auf die Letzte aber ist diese ganze Kunst für einen Greuel und Abscheu gehalten worden. Derohalben ist die Chirurgie zwar nicht weniger als die Medizin wegen des Ansehens vieler gelehrter Leute berühmt, jedoch aber, wegen garstigen Unflats und blutiger Grausamkeit, für unehrlich gehalten.[98]

Quelle:
Agrippa von Nettesheim: Die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissenschaften und die Verteidigungsschrift. München 1913, Band 2, S. 97-99.
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