164

[455] Das ganze Lied mit allen seinen verschiedenen Bestandtheilen, aus denen es zusammengekittet ist, gehört zu den spätesten Stücken des Rig-Veda, wie die zum Theil sehr moderner Anschauungen, die schwülstige, gesuchte Sprache; das absichtliche Dunkel, in das die ganz unpoetischen Gedanken gekleidet sind, das mystische Spielen mit Zahlen und Begriffen, das zum Theil verwahrloste Versmass und mehrere moderne Wörter beweisen. Die Auslegung ist grossentheils ganz unsicher. Zu vergleichen ist Haug's gelehrte Abhandlung über dies Lied in den »Sitzungsberichten der philosophischen und historischen Klasse der königlich baierischen Akademie der Wissenschaften zu München«, I, 446 fg.


[455] 1-10. Kosmogonische Fragen und Phantasien.


1. Von diesem altersgrauen schönen Priester [dem himmlischen Agni] ist der mittlere Bruder [der Blitz] gefrässig, sein dritter Bruder [das Opferfeuer] hat Schmelzbutter auf seinem Rücken; ich sah hier den Hausherrn mit seinen sieben Söhnen [den Flammen].

2. Sieben [Priester] schirren den einrädrigen Wagen [die Sonne]; ein Ross, das sieben Namen führt, zieht ihn; drei Naben [die drei Tageszeiten] hat das Rad, das nicht alternde, unaufhaltsame, auf welches alle diese Wesen steigen.

3. Diesen Wagen [wol wieder die Sonne, aber in ihrem Jahreslauf betrachtet?], welchen [jám statt jé?] die sieben bestiegen haben, den siebenrädrigen, ziehen sieben Rosse; sieben Schwestern [wol die in der Luft gedachten Ströme] rauschen ihm entgegen, dort wo die sieben Namen der Kühe eingesetzt sind.

4. Wer hat den zuerst geborenen Knochenbegabten [das Urwesen] gesehen, wenn ihn der knochenlose [Himmel oder Erdboden oder beides vereint im Chaos] trägt? Wo ist doch der Erde Athem, Blut, Seele? Wer mag zu dem wissenden gehen, dies zu erfragen?

5. Ich unkundiger frage, mit meinem Geiste es nicht erkennend, nach diesen eingesetzten Stätten der Götter; über dem einjährigen Kalbe [der Sonne in ihrem Jahreslauf] spannten die weisen [Götter] sieben Fäden aus zum Weben [wol die sieben Jahresopfer eines Opfercyklus].

6. Es nicht erkennend frage ich hier die erkennenden weisen aus, um es zu wissen, da ich es nicht weiss. Welcher diese sechs Räume [nach den sechs Weltrichtungen] ausspannte in der Gestalt des ungeborenen, was ist doch recht dies eine?

7. Hier möge der, welcher es recht weiss, dieses schönen Vogels [der Sonne] niedergesetzten Fuss nennen; aus seinem Haupte melken sich Milch die Kühe [die Wolken], in ihr Gewand, das Wasser, gekleidet, erreichten (āpus, Padap. apus) sie seine Stätten.

8. Die Mutter [das Urbild der Erde] machte den Vater [den Himmel als Geist gedacht] theilhaft des gebührenden Werkes; denn durch Denken vermählte sie sich zuerst mit dem Geiste; sie, die spröde, als sie durchbohrt war [vermittels des Zeugungsactes], war angefüllt mit schwängernder Feuchtigkeit; da begannen die Andachtsvollen zu preisen.

9. Die Mutter war geschirrt an die Deichsel der reichlich milchenden Kuh [etwa des Opfers?], der neugeborene [wol Feuer und Sonne als eins gedacht] stand da mitten unter den Wolkenkühen; es brüllte das Kalb, es blickte hin zu der vielgestaltigen Mutterkuh drei Strecken weit [Morgen, Mittag, Abend].

10. Er stand allein aufrecht tragend die drei Mütter und die drei Väter [die drei Erden und die drei Himmel], nicht ermüden sie ihn; auf dem Rücken jenes Himmels sprechen sie den alles Wissen enthaltenden, nicht überall hindringenden Spruch.


11-15. Mystische Beschreibung des Wechsels der Jahre und Jahreszeiten.


11. Denn ohne sich je abzunutzen rollt das zwölfspeichige Rad der ewigen Ordnung [das Jahr] um den Himmel, siebenhundertundzwanzig[456] verzwillingte Söhne [360 Tage und Nächte], o Agni, sind auf das selbe hinaufgestiegen.

12. Fünffüssig, sagen sie, sei der zwölftheilige Vater, der an Feuchtigkeit reiche am entfernten Räume des Himmels [wol sich auf die fünf feuchten Monate beziehend?], und diese andern sagen, der weithinleuchtende sei an dem unteren siebenrädrigen, sechsspeichigen eingefügt [auf die sieben trockenen Monate sich beziehend, die sechs Speichen etwa auf die sechs Jahreszeiten?].

13. Auf diesem fünfspeichigen, sich drehenden Rade stehen alle Wesen; seine vieltragende Achse erhitzt sich nicht; von Alters her wird sie nicht abgenutzt durch den Lauf der Zeiten.

14. Das mit Radkranz versehene, nicht morsch werdende Rad dreht sich herum, an der ausgestreckten Deichsel ziehen zehn angeschirrte Rosse; das Auge der Sonne geht von dem dunklen Luftraume umgeben; in ihm sind alle Wesen eingefügt.

15. Von den zugleich erzeugten [Jahreszeiten] nennen sie die siebente [den Schaltmonat] die einzeln geborene [sofern sie nur aus einem Monat besteht], die sechs gepaarten [sofern jede von ihnen aus zwei Monaten besteht] nennen die Weisen »die von den Göttern erzeugten«, unter diesen sind die erwünschten nach der Ordnung vertheilt, an ihrem Standorte regen sie sich verschiedengestaltet je nach ihrer Art.


16-22. Ein ganz dunkel gehaltener, und grösstentheils unverständlicher Abschnitt, auf dessen Deutung im Einzelnen ich verzichte. Das wahrscheinlichste ist mir, dass, wie vorher der Wechsel der Jahre und Jahreszeiten, so hier der Wechsel der Tage und Tageszeiten, des Tages und der Nacht in mystischer Weise geschildert werden soll.


16. Welche Weiber sind [Nächte und Morgenröthen?], die nannten sie mir Männer [Tage?], sehen kann sie der mit Augen begabte, der Blinde kann sie nicht unterscheiden. Der Sohn, welcher weise ist, der hat es erwogen; wer dies ganz erkennt, der kann des Vaters Vater sein [soll wol heissen: von dem kann noch sein Vater lernen].

17. Unter dem höheren Raum [Himmel] über diesem niederen [der Erde], am Fusse das Kalb [die Sonne] führend, ist die Kuh [die Morgenröthe] emporgestiegen; wohin hat sie sich gewandt? nach welcher Gegend hin ist sie fortgegangen? wo gebiert sie? denn nicht geschieht es innerhalb der Heerde.

18. Wer dieses Kalbes Vater unter dem höheren Raume über diesem niederen recht erkennt, als weisester, wer mag es uns hier verkünden? von wo ist der göttliche Urgeist entsprungen?

19. Welche [Tage] hinterwärst stehen, die nennen sie die früheren, und welche vor den andern stehen, die nennen sie die spätern, und welche [Tageshellen] ihr, o Indra und Soma, geschaffen habt, die werden gefahren von den gleichsam an die Deichsel des Luftraums geschirrten.

20. Zwei schöngeflügelte zusammengeschirrte Genossen [Tag und Nacht] umschlingen denselben Baum [die Welt], von diesen beiden geniesst der eine [der Tag] die süsse Frucht, der andre beschaut sie, ohne zu geniessen.

21. Wo die beiden schöngeflügelten dem Antheil an dem Unsterblichkeitstranke und den versammelten Scharen [der Opferer?][457] schlummerlos entgegenrauschen, da ist der mächtige Hüter der ganzen Welt, er, der weise, zu mir, dem thörichten, eingegangen.

22. Auf welchem Baume die schöngeflügelten, welche die süsse Frucht geniessen, alle sich niederlassen und nisten, an dessen Gipfel, sagt man, sei die süsse Feige; diese kann niemand erreichen, der den Vater nicht kennt.


23-25. Hier werden die gebräuchlichsten Metra des RV. besprochen, und zwar in Vers 25 wieder in sehr mystischer Weise.


23. Wie an die Gājatrī-Zeile die Gājatrī-Zeile gefügt wird, wie aus der Trischtubh-Zeile die [neue] Trischtubh-Zeile entspringt, oder wie die Dschagatī-Zeile an die Dschagatī-Zeile gefügt wird, welche das verstehen, die haben Unsterblichkeit erlangt.

24. Nach dem Versmass der Gājatrī misst er das Preislied [arká], nach dem Preislied das Singlied [sâman], nach dem Versmass der Trischtubh das Spruchlied [vācá], nach dem zweizeiligen und vierzeiligen Spruchmasse das Spruchlied, nach den Silben messen sie die sieben Versmasse.

25. Durch das Dschagatī-Lied befestigte er den Strom am Himmel, in dem Rathantara-Liede erblickte er die Sonne; drei Flammen, sagt man, gehören dem Gajatrī-Masse zu; darum ragte es durch seine Macht und Grösse hervor.


26-29. Die Kuh ist zunächst die Milch, die in den Kessel gegossen wird, dann aber bildlich die Wolke, welche der Regen auf die Erde ergiesst. Vgl. Roth zu »Nirukta«, S. 20 und 156. Haug bezieht es auf die pravargya-Ceremonie.


26. Ich rufe herbei diese schönmilchende Kuh und der schönhändige Kuhmelker [der Priester] möge sie melken; die heilsamste Erquickung möge uns Savitar schaffen; der Kessel ist ans Feuer gesetzt, das will ich verkünden.

27. Die Schatzherrin der Schätze, beim Suchen des Kalbes ihr »Hing« ertönen lassend, kam willig her; es möge diese Milchkuh für die beiden Açvinen ihre Milch strömen lassen; sie möge wachsen zu grossem Glücke.

28. Die Kuh blökte hin nach dem schlummernden Kalbe, sie streckte den Kopf vor, um ihr »Hing« zu blöken; seinem warmen Maule entgegenbrüllend lässt sie ihr Geblök ertönen, und tränkt es mit ihrer Milch.

29. Es schnaubt der Stier [wohl Pardschanja] von dem die Kuh [die Wolke] belegt ist, sie brüllt ihr Gebrüll an den spritzenden angeschmiegt; durch ihr Zischen hat sie den Sterblichen erschreckt, denn zum Blitze werdend hat sie ihre Hülle abgestreift.


30-33. Vers 30 ist dunkel, 31 bezieht sich auf die Sonne, 32 und 33 scheinen sich auf den Blitz zu beziehen, Roth zu »Nirukta«, S. 20.


30. Das athmende, das rasch gehende, das lebendige, das sich regende, das feste liegt in der Mitte der Wohnsitze; der Lebendige wandert mit der Kraft des Verstorbenen (?); der Unsterbliche ist gleichen Schoosses mit dem Sterblichen.

[458] 31. = 1003, 3. Ich sah den Hüter, welcher nimmer hinfallt, | der hin und her auf seinen Pfaden wandert; | sich hüllend in die gleichen und verschiednen [Strahlen], | geht hin und her er innerhalb der Welten.

32. Der ihn geschaffen hat, der kennt ihn nicht; der ihn gesehen hat, vor dem ist er verborgen; wenn er noch vom Mutterschose umhüllt ist, ist er, der kinderreiche [die Regengüsse als Kinder des Blitzes gedacht], schon dem Untergang verfallen.

33. »Der Himmel ist mein Vater und Erzeuger, dort ist mein Ursprung, meine Mutter und Verwandte ist diese weite Erde; zwischen den beiden weit ausgedehnten Weltschalen ist der Schooss [der mich getragen hat], dorthin setzte der Vater die Leibesfrucht der Tochter.«


34-42. 45. Verherrlichung der heiligen Rede, voller Allegorien und mystischer Deutungen.


34. Ich frage dich nach dem äussersten Ende der Erde, ich frage, wo der Welt Nabel ist; ich frage dich nach dem Samen des besamenden Hengstes, ich frage nach dem höchsten Himmel, wo die Rede [vâc] thront.

35. »Dieser Altar ist das äusserste Ende der Erde, dies Opfer ist der Welt Nabel; dieser Soma ist der Same des besamenden Hengstes; dieser Brahmane ist der höchste Himmel, wo die Rede thront.«

36. Sieben aus einer Welthälfte [der Erde] geborene stehen als der Welt Samen auf Geheiss des Vischnu am Himmel [es scheinen die sieben ṙṣi gemeint, welche als die sieben Sterne des grossen Bären an den Himmel versetzt sind], sie, die durch Gedanken und Geist weisen, sie, die umfangenden umfangen schützend das All.

37. Ich weiss nicht, was ich eben bin; innerlich gerüstet im Geiste wandere ich; als zu mir kam der erst geborene des heiligen Werkes, da erst erlangte ich den Antheil dieser heiligen Rede.

38. Es schreitet rückwärts und vorwärts der aus eigner Lust ergriffene Unsterbliche [der Gott, der den Sänger begeistert], der mit dem Sterblichen [Sänger] gleichen Ursprung hat; sie beide gehen fort und fort nach verschiedenen Seiten, den einen sieht man [den Sänger], den andern [den Gott] sieht man nicht.A1

39. Auf welchem Worte [oder welcher Silbe »Om«] des Preisliedes im höchsten Himmel alle Götter sich niederliessen, wer das nicht weiss, was wird der mit dem Preisliede ausrichten? die es aber wissen, die sind hier versammelt.

40. Gute Weide geniessend mögest du, o Kuh, beglückt sein; auch wir seien beglückt; friss das Gras zu allen Zeiten, trinke herwandernd das reine Wasser. [Dieser Vers gehört wol ursprünglich einem andern Liede an, und hat wol mit der vâc nichts zu thun].

41. Es brüllte die Büffelin, die die Wasser erzeugt [die donernde Regenvolke als Sängerin, als vâc aufgefasst], die in einzeiligem,[459] zwei-, vier-, acht-, neun-, vielzeiligen Versmassen brüllt mit tausend Silben im höchsten Himmel.

42. Von ihr strömen die Meere aus, davon leben die vier Erdräume; von dort ergiesst sich das unversiegbare Wasser, davon lebt alles

45. Die Rede hat vier abgegrenzte Gattungen; die sind bekannt den Brahmanen, welche weise sind; die drei ins Verborgene gesetzte [die drei Veden?] offenbaren sie nicht; die vierte Gattung er Rede sprechen die Menschen.


43. 44. 46. 47. 49-52. Verschiedene Opfer und Götter betreffend.


43. Ich sah von ferne den aus dem Miste [des gebratenen Stieres??] aufsteigenden Rauch, hoch über diesem unteren in der Mitte befindlichen [Feuer], die Männer brieten einen bunten Stier; das waren die ersten Bräuche.

44. Drei schönhaarige zeigen sich nach der Ordnung, der eine von ihnen streut Gaben aus im Laufe des Jahres [Agni], der andere beschaut alles mit Kraft [die Sonne], des dritten Dahingleiten sieht man wohl, nicht seine Gestalt [des Windes].

46. Den Agni nennen sie Indra, Mitra und Varuna, und er ist der himmlische schöngeflügelte Vogel, der in der Höhe schwebt [die Sonne]; der nur einer ist, ihn nennen sie auf vielfache Art, den Agni nennen sie Jama, Matariçvan.

47. Den dunklen Weg [der Nacht] durchfliegen die schöngeflügelten Rosse der Sonne in Wasser gekleidet zum Himmel hin [um am Tage am östlichen Himmel aufzusteigen]; sie eilten herbei vom Sitze der göttlichen Ordnung [von Osten]; dann erst wird die Erde mit [Fruchtbarkeit] benetzt.

49. Welche unversiegliche Mutterbrust du hast, o Sarasvati, welche erquickend ist, durch welche du alles Schöne zur Blüte bringst, welche Schätze gibt, Güter verschafft, welche reich an Gaben ist, die schaffe her, dass wir sie saugen.

50. = 916, 16. Durch Opfer opferten die Götter das Opfer; das waren die ersten Bräuche; sie, die erhabenen, gelangten zum Gipfel des Himmels, wo die alten zu gewinnenden Götter sind.

51. Dies allen gemeinsame Wasser steigt auf und kommt herab im Lauf der Tage; die Erde beleben die Regenwolken, den Himmel beleben die Feuer.

52. Diesen himmlischen, schöngeflügelten Aar, den grossen Spross der Gewässer, den schönen [Spross] der Kräuter, der vom Wolkenraume aus durch Regen erquickt, den flutenreichen rufe ich zur Hülfe.


48. Dieser Vers würde sich am besten an den den Jahreslauf schildernden Abschnitt Vers 11-15 anschliessen.


48. Zwölf Felgen [die Monate] sind an dem einen Rade [des Jahres] und drei Naben, wer versteht das? An ihm sind zugleich dreihundert nicht wankende und sechzig nicht schwankende Speichen [die Tage] befestigt.

Fußnoten

A1 Die Erklärung ist sehr zweifelhaft; aber die Erklärungen von Jāska und Sāyaṇa sind entschieden falsch.

Quelle:
Rig-Veda. 2 Teile, Leipzig 1877, [Nachdruck 1990], Teil 2, S. 455-460.
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