Einleitung.

[12] Der Veda, d.h. »das heilige Wissen«, umfasst die Gesamtheit der von den Indern für übermenschlich und inspiriert gehaltenen Schriften und gliedert sich zunächst in vier Abteilungen. Sie sind:


I. Ṛigveda, der Veda der Verse (ṛic),

II. Sâmaveda, der Veda der Gesänge (sâman),

III. Yajurveda, der Veda der Opfersprüche (yajus),

IV. Atharvaveda, nach Atharvan, einem mythischen Priester der Vorzeit so benannt.


Die Einreihung des gesamten Stoffes in diese vier Abteilungen beruht darauf, dass zu einem feierlichen Somaopfer vier Hauptpriester gehören:


I. der Hotar, welcher die Götter durch Rezitation von Versen (ṛic) einladet,

II. der Udgâtar, der das Opfer mit seinem Gesange (sâman) begleitet,[13]

III. der Adhvaryu, der unter Murmeln von Opfersprüchen (yajus) die heilige Handlung vollzieht,

IV. der Brahmán, der Oberpriester, welcher die ganze Zeremonie leitet, ohne in der Regel selbst in dieselbe einzugreifen.


Das Handbuch des Hotar ist der Ṛigveda, das des Udgâtar der Sâmaveda, das des Adhvaryu der Yajurveda. Hingegen hat der Brahmán kein besonderes Handbuch, sondern muss alle drei genannten Veden kennen. Nur künstlich und in späterer Zeit wurde ihm eine Beziehung zum Atharvaveda angedichtet, einer Sammlung aus apokryphen Materialien, welche diesen Charakter in allen Teilen, aus denen sie besteht, deutlich zur Schau trägt.

Jeder der drei erstgenannten Priester bedarf bei seinen Obliegenheiten: A. eine Samhitâ (Sammlung), welche ihm das von ihm zu verwendende Material von Hymnen und Sprüchen an die Hand gibt; B. ein Brâhmaṇam (theologische Erklärung), welches ihm die Anweisung über den richtigen Gebrauch dieses Materials beim Opferdienste erteilt, und dessen weitschichtiger Inhalt sich unter drei Rubriken bringen lässt, als: a. Vidhi (Vorschrift), b. Arthavâda (Sacherklärung, exegetischer, mythologischer[14] und polemischer Art) und c. Vedânta oder Upanishad (theologische und philosophische Betrachtungen über das Wesen der Dinge). Die letzterwähnten Abschnitte heissen Vedânta (Veda-Ende), weil sie in der Regel am Ende der Brâhmaṇa's stehen (später als »Endziel des Veda« ausgedeutet), oder Upanishad (vertrauliche Sitzung, später »Geheimlehre«), weil sie dem Schüler, wohl gegen Ende der Lehrzeit und unter Ausschluss des weitern Schülerkreises, mitgeteilt zu werden pflegten. Ausser Samhitâ und Brâhmaṇam gehört zu jedem Veda noch: C. ein Sûtram (Leitfaden), welches dem Inhalt des Brâhmaṇam parallel läuft, sofern es denselben in kurzer, übersichtlicher Form reproduziert und zu einem systematischen Ganzen vervollständigt. Hiernach gliedert sich die gesamte vedische Literatur in zwölf Abteilungen:


I. ṚigvedaA. Samhitâa. Vidhi

II. Sâmavedab. Arthavâda

B. Brâhmaṇam

III. Yajurvedac. Vedânta

IV. AtharvavedaC. Sûtram(Upanishad).


Jede dieser zwölf Abteilungen ist nun aber nicht in einfacher, sondern in mehrfacher, zum Teil vielfacher Form vorhanden. Jeder der vier Veden wurde nämlich in verschiedenen Çâkhâ's, »Zweigen«, d.h. Vedaschulen,[15] gelehrt, welche in der Behandlung des gemeinsamen Materials so sehr voneinander abwichen, dass daraus mit der Zeit verschiedene Werke parallelen Inhalts erwuchsen. Für die Samhitâ's ist dieser Unterschied, vermutlich weil ihr Inhalt schon zu sehr fixiert war, nicht sehr erheblich und beschränkt sich in der Regel auf eine Verschiedenheit der Rezension oder Redaktion; um so mehr aber für die Brâhmaṇa's und Sûtra's, derart, dass jeder der vier Veden in verschiedenen Çâkhâ's nebeneinander bestand, deren jede ihr eignes Brâhmaṇam und später, unter mehrfacher Verschiebung der Namen und Verhältnisse, ihr eignes Sûtram hervorbrachte. Von den Sûtra's können wir hier des weitern absehen; dieselben stammen, wie schon die Sprache zeigt, der Hauptsache nach aus späterer, nachbuddhistischer Zeit und sind vermutlich aufzufassen als ein Versuch, sich dem massenhaften Materiale des vedischen Opferwesens gegenüber aufs neue zu orientieren, nachdem man ihm durch das Aufblühen des Buddhismus und seiner opferfeindlichen Tendenzen längere Zeit, wohl mehrere Jahrhunderte hindurch, entfremdet worden war. Wie dem auch sei, jedenfalls gehören die Sûtra's nicht mehr zum vedischen Kanon im engern Sinne, welcher nur Mantra (Hymnen und Opfersprüche) und [16] Brâhmaṇam (theologische Erklärung) umfasst und mit den Schlusskapiteln der Brâhmaṇa's, wie schon deren Name Vedânta (Veda-Ende) besagt, seinen Abschluss findet. Nur bis auf sie einschliesslich erstreckt sich die Inspiration des Veda, während die Sûtra's nicht mehr für inspiriert gelten und nicht mehr das Ansehen der Çruti (Offenbarung), sondern nur das der Smṛiti (Tradition) geniessen.

Jede Çâkhâ hatte sonach ihr eignes Brâhmaṇam, das in Vidhi und Arthavâda das rituelle Textbuch, im Vedânta, d.h. der Upanishad, das dogmatische Textbuch der Schule enthielt. Die Upanishad's sind also ursprünglich nichts anderes als die dogmatischen Textbücher der einzelnen Vedaschulen, woraus sich namentlich erklärt, dass sie alle (soweit sie der ältern Zeit angehören) denselben Inhalt, die Lehre vom Âtman oder Brahman, bald kürzer, bald länger, in mehr oder weniger voneinander abweichender Weise behandeln.

Jede dieser Çâkhâ's hatte also ihr eignes Brâhmaṇam und im Anschlusse daran ihre Upanishad.

Indessen ist diese ursprüngliche Bestimmung der Upanishad, ein Bestandteil des (anfangs nur von Mund zu Mund überlieferten, dann aber auch schriftlich fixierten) Textbuches einer Vedaschule zu sein, nur für[17] die ältesten Upanishad's gültig und in den spätem Erzeugnissen dieses Namens zurückgedrängt oder ganz verlassen worden. In dem Masse, wie mit der Zeit die Zusammenhänge der Vedaschulen sich verwischten und zerfielen, während hingegen neue Interessen (wie die Yoga-Praxis, das Leben als Sannyâsin, das Sektenwesen) in den Vordergrund traten, wurde auch die überkommene und in geheiligtem Ansehen stehende Upanishadform im Dienste derselben verwendet. Während daher die ältern Upanishad's, nämlich die Aitareya- und Kaushîtaki-Up. des Ṛigveda, die Chândo gya- und Kena-Up. des Sâmaveda, die Taittirîya- und Kâṭhaka-Up. des schwarzen, die Bṛihadâraṇyaka- nebst Îçâ- und möglicherweise noch die Jâbâla-Up. des weissen Yajurveda, wirkliche Vedaschulen als ihre Grundlage hatten, so treffen wir bereits im schwarzen Yajurveda eine Upanishad, die Çvetâçvatara-Up. an, deren Schule im übrigen gänzlich verschollen ist, und eine andere, die Maitrâyaṇîya-Up., welche sich ohne ersichtliche Berechtigung in Beziehung zu einer altberühmten Vedaschule setzt. Noch viel weniger können als Textbücher bestehender Vedaschulen die meisten Upanishad's des Atharvaveda gelten, in welchem, seinem Charakter entsprechend, allerlei apokryphe Produkte Aufnahme fanden. Die wichtigsten[18] und am treuesten die alte Vedântalehre vertretenden Atharva-Upanishad's sind Muṇḍaka-, Praçna- und etwa noch Maṇḍûkya-Upanishad; an diese schliesst sich eine grosse Menge anderer, meist kleiner Upanishad's, deren Anzahl und Namen noch nicht völlig festgestellt sind. Ein grosser Teil derselben ist der mystischen Betrachtung des Lautes Om und der damit zusammenhängenden Übung des Yoga gewidmet. Andere bezwecken die Verherrlichung des Lebens als religiöser Bettler (Sannyâsin, Parivrâjaka, Bhikshu), und wieder andere sind die symbolischen Bücher çivaitischer und vishṇuitischer Sekten, welche den ursprünglichen Upanishadgedanken in ihrer Weise sich aneignen und gestalten.

In der vorliegenden Auswahl beschränken wir uns auf diejenigen Texte, welche für die Lehre von dem Âtman als weltschöpferischem Prinzip und als der Seele in ihren Zuständen der Wanderung und Erlösung oder aus irgendeinem andern Grunde von hervorragender Bedeutung sind. Eine systematische Anordnung dieser Texte ist nicht wohl möglich, da jeder derselben in seiner Weise mehr oder weniger die ganze Âtmanlehre enthält. Wir ordnen daher die Stellen nach der historischen Abfolge, wie wir sie in den Einleitungen zu unseren »Sechzig Upanishad's des Veda« sowie[19] in der zweiten Abteilung unserer »Allgemeinen Geschichte der Philosophie« (Seite 23 fg.) zu ermitteln versucht haben. Den Upanishadtexten schicken wir diejenigen vedischen Hymnen voraus, welche einen upanishadartigen Charakter an sich tragen und daher als Vorläufer der Âtmanlehre zur Einleitung in die Gedanken der Upanishad's dienlich sein können.[20]

Quelle:
Die Geheimlehre des Veda. Leipzig 1919, S. XII12-XXI21.
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