6. Die Erlösung (4,4,6–23).

[63] Nunmehr von dem Nichtverlangenden (akâmayamâna).

Wer ohne Verlangen, frei von Verlangen, gestillten Verlangens, selbst sein Verlangen ist,[63] dessen Lebensgeister ziehen nicht aus; sondern Brahman ist er, und in Brahman geht er auf.

7. Darüber ist dieser Vers:


Wenn alle Leidenschaft verschwunden,

Die in des Menschen Herzen nistend schleicht,

Dann hat der Sterbliche Unsterblichkeit gefunden,

Dann hat das Brahman er erreicht.


Wie eine Schlangenhaut tot und abgeworfen auf einem Ameisenhaufen liegt, also liegt dann dieser Körper; aber das Körperlose, das Unsterbliche, das Leben ist lauter Brahman, ist lauter Licht.« –

– »O Heiliger, ich gebe dir ein Tausend«, – so sprach Janaka, der König der Videha's.

8. »Darüber sind diese Verse:


10.

In blindes Dunkel fährt wer im Nichtwissen lebte;

In blinderes wohl noch wer nach Werkwissen strebte.


11.

Ja, freudelos ist diese Welt, von blinder Finsternis bedeckt:

In sie geht nach dem Tode ein der Mensch, den nicht das Wissen weckt.


12.

Doch wer sich als das Selbst erfasst hat in Gedanken,

Wie mag der wünschen noch, dem Leibe nachzukranken?


13.

Wem in des Leib's abgründlicher Befleckung

Geworden ist zum Selbste die Erweckung,[64]

Den als allmächtig, ab der Welten Schöpfer wisst;

Sein ist das Weltall, weil er selbst das Weltall ist.


14.

Dieweil wir hier sind, mögen wir es wissen;

Wo nicht, so bleibt der Wahn, ein gross Verderben.

Unsterblich sind die einen, wenn sie sterben, –

Zur Pein die andern werden fortgerissen.


15.

Der Mann, der als sein eigen Selbst Gott hat geschaut von Angesicht,

Den Herrn des, das da war und wird, der fürchtet und verbirgt sich nicht!


16.

Zu dessen Füssen rollend hin in Jahr' und Tagen geht die Zeit,

Den Götter als der Lichter Licht anbeten, als Unsterblichkeit,


17.

In dem der Wesen fünffach Heer mitsamt dem Raum gegründet stehn,

Den weiss als meine Seele ich, unsterblich den Unsterblichen.


18.

Des Odems Odem und des Auges Auge,

Des Ohres Ohr und des Verstand's Verstand,

Wer diese kennt, der wahrlich hat das Brahman,

Das alte, uranfängliche erkannt.


19.

Im Geiste sollen merken sie:

Nicht ist hier Vielheit irgendwie;

Von Tod zu Tode wird verstrickt

Wer eine Vielheit hier erblickt.
[65]

20.

Einheitlich ist er anzuschauen, unmessbar gross, unwandelbar,

Hoch über Raum und Sündenstaub, der Âtman gross, unwandelbar.


21.

Dem denket nach, die Weisheit zu erringen,

Nicht Worten viel, die nur Beschwerde bringen!


22. Wahrlich, dieses grosse, ungeborne Selbst ist unter den Lebensorganen jener aus Erkenntnis bestehende [selbstleuchtende Geist]! Hier, inwendig im Herzen ist ein Raum, darin liegt er, der Herr des Weltalls, der Gebieter des Weltalls, der Fürst des Weltalls; er wird nicht höher durch gute Werke, er wird nicht geringer durch böse Werke; er ist der Herr des Weltalls, er ist der Gebieter der Wesen, er ist der Hüter der Wesen; er ist die Brücke, welche (der Damm, welcher) diese Welten auseinanderhält, dass sie nicht verfliessen.

Ihn suchen durch Vedastudium die Brahmanen zu erkennen, durch Opfer, durch Almosen, durch Büssen, durch Fasten; wer ihn erkannt hat, der wird ein Muni. Zu ihm auch pilgern hin die Pilger, als die nach der Heimat sich sehnen.

Dieses wussten die Altvordern, wenn sie nicht nach Nachkommenschaft begehrten und sprachen: ›Wozu brauchen wir Nachkommen, wir, deren Seele diese Welt ist!‹ Und sie standen ab von dem Verlangen nach Kindern, von dem Verlangen nach Besitz, von dem Verlangen[66] nach der Welt und wanderten umher als Bettler. Denn Verlangen nach Kindern ist Verlangen nach Besitz, und Verlangen nach Besitz ist Verlangen nach der Welt; denn eines wie das andre ist eitel Verlangen.

Er aber, der Âtman, ist nicht so und ist nicht so. Er ist ungreifbar, denn er wird nicht gegriffen, unzerstörbar, denn er wird nicht zerstört, unhaftbar, denn es haftet nichts an ihm; er ist nicht gebunden, er wankt nicht, er leidet keinen Schaden.

[Wer solches weiss], den überwältigt beides nicht, ob er darum [weil er im Leibe war] das Böse getan hat oder ob er das Gute getan hat; sondern er überwältigt beides; ihn brennet nicht, was er getan und nicht getan hat.

23. Das sagt auch der Vers:


Das ist des Brahmanfreundes ew'ge Grösse,

Die nicht durch Werke zunimmt oder abnimmt;

Man folge ihrer Spur; wer sie gefunden,

Wird durch das Werk nicht mehr befleckt, das böse.


Darum, wer solches weiss, der ist beruhigt, bezähmt, entsagend, geduldig und gesammelt; nur in sich selbst sieht er das Selbst, alles sieht er an als das Selbst; nicht überwindet ihn das Böse, er überwindet alles Böse, nicht verbrennet ihn das Böse, er verbrennet alles Böse; frei von Bösem, frei von Leidenschaft und frei von Zweifel, wird er ein Brâhmaṇa, o König, er, dessen Welt das Brahman ist.« –[67]

Also sprach Yâjñavalkya. Da sprach der König: »O Heiliger, ich gebe dir mein Volk Knechtschaft und mich selbst dazu.« –

Quelle:
Die Geheimlehre des Veda. Leipzig 1919, S. 63-68.
Lizenz:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Traumnovelle

Traumnovelle

Die vordergründig glückliche Ehe von Albertine und Fridolin verbirgt die ungestillten erotischen Begierden der beiden Partner, die sich in nächtlichen Eskapaden entladen. Schnitzlers Ergriffenheit von der Triebnatur des Menschen begleitet ihn seit seiner frühen Bekanntschaft mit Sigmund Freud, dessen Lehre er in seinem Werk literarisch spiegelt. Die Traumnovelle wurde 1999 unter dem Titel »Eyes Wide Shut« von Stanley Kubrick verfilmt.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon