Erster Teil.

§ 1.

[577] 1. Om! Diese Silbe ist die ganze Welt. Ihre Erläuterung ist wie folgt.1

Das Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige,[577] dieses alles ist der Laut Om. Und was ausserdem noch über die drei Zeiten hinausliegend ist, auch das ist der Laut Om.

2. Denn dies alles ist Brahman, Brahman aber ist dieser Âtman (die Seele), und dieser Âtman ist vierfach.

3. Der im Stande des Wachens befindliche, nach aussen erkennende, siebengliederige2, neunzehnmündige3, das Grobe geniessende Vaiçvânara ist sein erstes Viertel.

4. Der im Stande des Träumens befindliche, nach innen erkennende, siebengliederige4, neunzehnmündige5, das Auserlesene geniessende6 Taijasa ist sein zweites Viertel.

5. Der Zustand, »wo er, eingeschlafen, keine Begierde mehr empfindet und kein Traumbild schaut« (Bṛih. 4,3,19), ist der Tiefschlaf. Der im Stande des Tiefschlafes befindliche, »einsgewordene« (Bṛih. 4,4,2), »durch und durch ganz aus Erkenntnis bestehende« (Bṛih. 4,5,13), »aus Wonne bestehende« (Taitt. 2,5), die Wonne geniessende, das Bewusstsein als Mund habende Prâjña ist sein drittes Viertel. 6. »Er ist der Herr des Alls« (Bṛih. 4,4,22), er ist »der Allwissende« (Muṇḍ. 1,1,9), er ist »der innere Lenker« (Bṛih. 3,7), er ist die Wiege des Weltalls (vgl. Muṇḍ. 1,1,6), denn er ist »Schöpfung und Vergang« (Kâṭh. 6,11) der Wesen.


1. Allwärts, aussenbewusst Viçva,

Innenbewusst ist Taijasa,

Ganz nur Bewusstsein ist Prâjña,

Einer ist's, der für dreie gilt.


2. Aus rechtem Auge blickt Viçva,

Im Manas drinnen Taijasa,

Im Raum im Herzen weilt Prâjña,

So ist dreifach im Leib sein Stand.


3. Grobes geniessend ist Viçva.

Auserlesenes Taijasa,[578]

Wonne geniessend ist Prâjña,

Dreifach so sein Geniessen ist.


4. An Grobem sättigt sich Viçva,

An Auserles'nem Taijasa,

An Wonne sättigt sich Prâjña,

Dreifach ist seine Sättigung.


5. Wer ist in diesen drei Ständen

Geniesser? was Genuss-Objekt?

Wem dieses wohlbewusst beides,

Der geniesst und wird nicht befleckt (Îçâ 2).


6. Ein Ursprung ist aller Wesen

Als seiender, das ist gewiss:

Der Geist (purusha) als Lebenskraft (prâṇa) schuf sie

Getrennt wie Sonnenstrahlen nur.


7. Manche halten die Weltschöpfung

Für eine Machtentfaltung (vibhûti) nur,

Andre wieder für Traum halten

Die Schöpfung und für Blendwerk (mâyâ) nur.


8. Viele lassen die Weltschöpfung

Auf Wunsch Gottes allein entstehn,

Andre glauben, die Zeit habe

Alle Wesen hervorgebracht.


9. Zum Genuss sich, zum Spielzeuge

Schuf sie Gott, meinen andere; –

Nein! sie ist Gottes Selbstwesen!

Was kann wünschen, wer alles hat?


§ 2.

7. Nicht nach innen erkennend und nicht nach aussen erkennend, noch nach beiden Seiten erkennend, auch nicht durch und durch aus Erkenntnis bestehend, weder bewusst noch unbewusst, – unsichtbar, unbetastbar, ungreifbar, uncharakterisierbar, undenkbar, unbezeichenbar, nur in der Gewissheit des eignen Selbstes gegründet, die ganze Weltausbreitung auslöschend, beruhigt, selig, zweitlos, – das ist das vierte Viertel, das ist der Âtman, den soll man erkennen.
[579]

10. Allgenugsam zur Austilgung

Aller Schmerzen, unwandelbar,

Als Einheit alles durchdringend

Ist der Gott, der der Vierte heisst


11. Wirkung- und -Ursach-behaftet

Sind der Viçva und Taijasa,

Ursachbehaftet ist Prâjña,

Beide gelten vom Vierten nicht.


12. Nicht der Wahrheit noch Unwahrheit,

Nicht seiner selbst noch anderer

Ist irgend sich bewusst Prâjña, –

Ewig alles der Vierte schaut.


13. Im Nichterkennen der Vielheit

Sind der Prâjña und Vierte gleich;

Doch Prâjña liegt im Keimschlummer,

Der Vierte keinen Schlummer kennt.


14. Traum und Schlaf sind der zwei ersten,

Traumloser Schlaf des Prâjña ist,

Weder Träumen noch auch Schlafen

Schreibt zu dem Vierten, wer ihn kennt.


15. Der Träumende erkennt irrig,

Gar nicht erkennt der Schlafende;

Beide irren; wo das schwindet,

Da wird der vierte Stand erreicht.


16. In anfanglosem Weltblendwerk

Schläft die Seele; wenn sie erwacht,

Dann wacht in ihr das zweitlose

Schlaf- und traum-lose Ewige.


17. Bestünde die Weltausbreitung,

So müsste sie vergehen erst;

Doch alle Vielheit ist Blendwerk,

Vielheitlos ist die Wirklichkeit.


18. Widerlegbar sind Annahmen

Nur, wenn einer sie aufgestellt;

Doch hier sind sie nur Lehrmittel;

Dem, der weiss, ist die Vielheit nichts.


§ 3.

[580] 8. Dieser Âtman nun ist in bezug auf die Laute [adhyaksharam, analog gebraucht wie adhidaivatam, adhyâtmam] die Silbe Om, nämlich in bezug auf seine Moren; die Moren sind die Viertel [des Âtman], und die Viertel sind die Moren, nämlich der a-Laut, der u-Laut und der m-Laut.

9. Der im Stande des Wachens befindliche Vaiçvânara ist der a-Laut, die erste Mora, von dem Erlangen (â-pti) oder von dem Erstersein (â-dimattvam). – Der, fürwahr, erlangt alle Wünsche und wird zum Ersten, der solches weiss!

10. Der im Stande des Träumens befindliche Taijasa ist der u-Laut, die zweite Mora, von dem Hochhalten (u-tkarsha) oder von dem Beiderseitssein (ubhayatvam). – Der, fürwahr, hält hoch die Tradition des Wissens [in seiner Familie] und wird von beiden Seiten [Freund und Feind] gleich geachtet, und keiner, der nicht das Brahman kennte, wird in seiner Familie sein, der solches weiss!

11. Der im Stande des Tiefschlafes befindliche Prâjña ist der m-Laut, die dritte Mora, von dem [durch mi minoti bezeichneten] Aufbauen (miti) oder auch von dem [durch mi minâti bezeichneten] Vernichtetwerden (apîti). – Der, fürwahr, baut [aus sich] diese ganze Welt auf und ist ihre Vernichtung, der solches weiss!


19. Sehr gleicht Viçva dem a-Laute

Durch Ähnlichkeit des Erster-seins,

Durch Moren-Übereinstimmung

Sind auch gleich im Erlangen sie.


20. Taijasa gleicht dem u-Laute

In dem Hochhalten offenbar,

Durch Moren-Übereinstimmung

Sind auch gleich sie im Beidessein.


21. Sehr gleicht Prâjña dem m-Laute

Durch des Aufbauens Ähnlichkeit,

Durch Moren-Übereinstimmung

Sind auch gleich im Vernichten sie.
[581]

22. Weil er in den drei Zuständen

Klar durchschaut diese Ähnlichkeit,

Darum gebührt dem Hochweisen

Von allen Wesen Ehr' und Preis.


23. Der a-Laut führt zum Ziel Viçva,

Der u-Laut führt den Taijasa,

Der m-Laut führt zum Ziel Prâjña, –

Kein Ziel des Moralosen ist.


§ 4.

12. Moralos ist der Vierte, unbetastbare, die ganze Weltausbreitung auslöschende, selige, zweitlose. – In dieser Weise ist die Silbe Om der Âtman (das Selbst).

Der geht mit seinem [individuellen] Selbste in das [höchste] Selbst ein (Vâj. Samh. 32,11), wer solches weiss, – wer solches weiss.


24. Nach Vierteln wisse den Om-Laut,

Seine Moren die Viertel sind;

Wer nach Vierteln den Om-Laut kennt,

Braucht nichts weiter zu wissen mehr.


25. Im heil'gen Ruf geh' auf denkend,

Er ist Brahman, das furchtlose,

Wer stets im heil'gen Ruf aufgeht,

Der fürchtet sich vor keinem mehr.


26. Der heil'ge Ruf ist das nied're,

Er ist das höh're Brahman auch,

»Ohne Früheres und Spät'res,

Ohne Inn'res und Äusseres« (Bṛih. 2,5,19).


27. Denn er ist aller Welt Anfang,

Ist Mitte ihr und Ende auch,

Wer so den heil'gen Ruf weiss, der

Wird alsbald mit ihm eins sodann.


28. Den heil'gen Ruf als Gott wisse,

Der im Herzen von allem thront;[582]

Der Weise, der den Om-Laut kennt

Als allerfüllend, trauert nicht.


29. Unendlichteilig und teillos,

Ist er der Zweiheit sel'ge Ruh;

Wer als solchen den Om-Laut kennt,

Ist ein Muni, kein anderer.


Fußnoten

1 Dieselbe Wendung Chând. 1,1,1.


2 Chând. 5,18,2 (Ça kara).


3 Zehn Indriya's, fünf Prâṇa's, Manas, Buddhi, Aha kâra, Cittam (Ça kara). Vgl. unten, S. 623 Anm.


4 Chând. 5,18,2 (Ça kara).


5 Zehn Indriya's, fünf Prâṇa's, Manas, Buddhi, Aha kâra, Cittam (Ça kara). Vgl. unten, S. 623 Anm.


6 Bṛih. 4,2,3, oben S. 462.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 577-583.
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