Der Pfad der Götter und der Manen

[92] Der Weg, den die Toten bei ihrem Abscheiden von der Welt nehmen, wird hier erörtert; es ist eine Auffassung unter vielen, die im Umlauf gewesen sein mögen, und charakteristisch dadurch, daß sie auch den für Brahmans Welt Bestimmten nicht unmittelbar, sondern auf dem Umwege über Götterwelt, Sonne und Blitzfeuer dahin gelangen läßt. Eine besondere Stelle nehmen die Würmer, Vögel, Insekten ein. In deren Leib gehen die ein, die keinen der beiden Wege kennen.


Shvetaketu, der Sohn des Âruni, begab sich zu einer Versammlung der Pancâlas. Er begab sich zu Jaivali Pravâhana, der von seinem Hofe umgeben war. Dieser erblickte ihn und sprach zu ihm: ›Mein Jüngling!‹ »Hier, Herr!« antwortete der. ›Hat dich dein Vater unterwiesen?‹ »Ja, Herr«, sprach er.

›Weißt du, wie die Geschöpfe, wenn sie abscheiden, nach verschiedenen Richtungen auseinandergehen?‹ »Nein«, sprach er. ›Weißt du, wie sie wieder in diese Welt gelangen?‹ »Nein«, sprach er. ›Weißt du, wie es kommt, daß jene Welt von den vielen Geschöpfen, die so immer wieder abscheiden, nicht voll wird?‹ »Nein«, sprach er. ›Weißt du, nach der wievielten Darbringung die Wasser menschliche Stimmen annehmen, sich erheben und reden?‹ »Nein«, sprach er. ›Weißt du den Zugang zu dem Götter- oder dem Väterweg und was man getan haben muß, um zu dem Götter- oder Väterweg zu gelangen? Hast du das Wort des Rishi nicht vernommen: ich hörte von zwei Wegen, dem Wege der Manen und dem Wege der Götter und Menschen? Auf diesen bewegt sich alles, was zwischen Vater und Mutter (Himmel und Erde) sich regt.‹ »Nicht kenne ich einen davon«, sprach er.

Da lud er ihn ein, bei ihm zu wohnen. Aber der Jüngling achtete der Wohnung nicht und lief davon. Er begab sich zum Vater. Zu dem sprach er: »In solcher Weise hast du mich also als unterrichtet erklärt!« ›Wieso, du Weiser?‹ »Fünf Fragen hat der Prinz an mich gerichtet; davon habe[93] ich nicht eine gewußt«, sagte er. ›Was für welche sind das?‹ Er zählte ihm die Anfänge auf1.

Der sprach: ›So solltest du mich kennen, Kind, daß ich alles, was ich nur weiß, dir auch sagte. Aber komm, wir wollen dorthin gehen und in den heiligen Schülerstand treten.‹ »Gehe du.«

Gautama begab sich dorthin, wo die Versammlung des Pravâhana Jaivali stattfand. Dieser ließ ihm einen Sitz und Wasser bringen. Darauf machte er ihm ein Gastgeschenk.

Er sprach: ›Ich gestatte dem verehrten Gautama, einen Wunsch zu tun.‹ Der sprach: »Du hast mir die Gewährung des Wunsches zugesagt. Das Wort, das du in Gegenwart des Jünglings aussprachest, das sage mir.«

Der sprach: ›Das gehört unter die Wünsche der Götter. Sprich von menschlichen.‹

»Dir ist bekannt, ich habe meinen Anteil an Gold, Rindern, Rossen, Sklavinnen, Ober- und Untergewändern; sei nicht karg gegen mich in bezug auf das Viele, Unendliche, Unbegrenzte.« ›Das mußt du, Gautama, durch eine ehrwürdige Person dir zu verschaffen suchen.‹ »Ich trete bei dir in die Lehre.« Mit diesem Wort pflegte man früher sich in die Lehre zu begeben.

Dieser sprach bei der Erwähnung des In-die-Lehre-Gehens: ›Du, Gautama, und deine Vorfahren werden doch nicht so sich gegen uns (die Kriegerkaste) vergangen haben, daß diese Wissenschaft nicht schon früher in irgendeinem Brahmanen Wohnung nahm2. Ich will sie dir aber verkündigen; denn wer vermöchte einen, der so spricht, zurückzuweisen?

Jene Welt ist ein Opferfeuer, Gautama. Sein Brennholz ist die Sonne; die Strahlen sein Rauch, der Tag seine Flamme, der Mond seine Kohlen, die Sterne seine Funken. In diesem Feuer opfern die Götter (als Spende) den Glauben; aus dieser Spende entsteht König Soma.

Parjanya, der Gewittergott, ist ein Opferfeuer, Gautama. Sein Brennholz ist das Jahr, die Wolken sein Rauch, der[94] Blitz seine Flamme, der Donnerkeil seine Kohlen, der Hagel seine Funken. In diesem Feuer opfern die Götter den Soma; aus dieser Spende entsteht der Regen.

Diese Welt ist ein Opferfeuer, Gautama. Sein Brennholz ist die Erde, der Wind sein Rauch, die Nacht seine Flamme, die Himmelsgegenden seine Kohlen, die Zwischengegenden seine Funken. In diesem Feuer opfern die Götter den Regen; aus dieser Spende entsteht die Speise.

Der Mann ist ein Opferfeuer, Gautama. Sein Brennholz ist der geöffnete Mund; der Hauch sein Rauch, die Stimme seine Flamme, das Auge seine Kohlen, das Ohr seine Funken. In diesem Feuer opfern die Götter die Speise; aus dieser Spende entsteht der Same.

Die Frau ist ein Opferfeuer, Gautama. Sein Brennholz ist ihr Schoß, die Haare sein Rauch; ihre Scham seine Flamme, die Zeugung seine Kohle, die Lust seine Funken. In diesem Feuer opfern die Götter den Samen; aus dieser Spende entsteht der Mensch. Er wird geboren, lebt, solange er lebt, und wenn er stirbt, trägt man ihn zum Feuer (des Scheiterhaufens).

Dessen Feuer ist ein Opferfeuer. Das Brennholz sein Brennholz, der Rauch sein Rauch, die Flamme seine Flamme; die Kohlen seine Kohlen; die Funken seine Funken. In diesem Feuer opfern die Götter den Menschen; aus dieser Spende entsteht der lichtfarbige Purusha3.‹

1

Es handelt sich um den Gegensatz zum rein rituellen Wissen der Veden usw., das der Vater seinem Sohn beizubringen gewußt hatte.

2

Der Sinn ist: daß dieses Wissen bisher nur in Kriegerkreisen wohnte und keiner sie euch mitteilte, wird hoffentlich nicht auf ein Vergehen von euch gegen uns zurückzuführen sein. Jedenfalls aber bist du der Mitteilung wert.

3

Die Verbrennung wird nicht nur hier als eine Opferung angesehen.

Quelle:
Upanishaden. Altindische Weisheit aus Brâhmanas und Upanishaden. Düsseldorf/Köln 1958, S. 92-95.
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