Erzählung von dem aussätzigen Weisen mit Namen Raikva

[99] Der Wind ist unter den Göttern, der Hauch unter den lebenden Wesen das oberste Prinzip, das alles in sich aufnimmt oder »an sich reißt«. Es ist die Lehre von den beiden »Ansichreißern«, die[99] der einsam lebende Raikva dem reichen Jânashruti verkündet. Raikva ist in seiner Erkenntnis dem Frager überlegen, obwohl dieser gläubig und freigebig ist. Weil Raikva diese Erkenntnis hat, fließt ihm alles Gute zu, was die Wesen tun, dem Kritawurf vergleichbar, dem alle niederen Würfe zugezählt werden. Der Gedanke an sich ist anderwärts bekannt; neu ist hier nur seine Einkleidung.


Jânashruti Pautrâyana war ein frommer, freigebiger, gastfreier Mann. Er ließ allerwärts Herbergen bauen, damit man allerwärts bei ihm essen könne. In der Nacht flogen Schwäne vorüber, und einer sprach zum andern: ›He, Ballâksha, Ballâksha, der Glanz Jânashruti Pautrâyanas hat sich weithin wie der Himmel ausgebreitet; rühre nicht daran, daß er dich nicht versenge.‹ Da erwidert ihm der andere: »Von wem sprichst du, Lieber, da, als wäre es ein Sayugvan1 Raikva? Wie ist denn der Sayugvan Raikva, von dem du sprichst?« ›Wie dem siegreichen Krita die niederen Würfe zufallen, so fällt diesem Raikva alles zu, was die Wesen Gutes tun. Wer das weiß, was der weiß, der ist von mir hier gemeint.‹

Das hörte Jânashruti Pautrâyana; fuhr auf und sagte zu einem Kämmerling: He, Freund, (ich höre sagen:) »sprichst du, als wäre es ein Sayugvan Raikva! Wie ist denn der Sayugvan Raikva, von dem du sprichst? Wie dem siegreichen Krita die niederen Würfe zufallen, so fällt diesem Raikva alles zu, was die Wesen Gutes tun. Wer das weiß, was der weiß, der ist von mir hier gemeint.«

Der Kämmerling (ging und) forschte nach. Mit den Worten: ›Ich habe ihn nicht gefunden‹, kam er wieder. (Jânashruti) sprach zu ihm: ›Wo man einen Brahmanen sucht, mein Lieber, da triff ihn.‹

Dieser näherte sich einem Mann, der unter einem Wagen sich den Aussatz abschabte, und redete ihn an: ›Bist du, Ehrwürdiger, Sayugvan Raikva?‹ »Das bin ich, mein Lieber«, antwortete er. Da kehrte der Kämmerling mit den Worten zurück: ›Ich fand ihn.‹

Da nahm Jânashruti Pautrâyana sechshundert Rinder, einen Goldschmuck und einen mit Maultierweibchen bespannten[100] Wagen, zog zu ihm und redete ihn an: »Raikva, hier sind sechshundert Rinder, ein Goldschmuck, hier ein mit Maultierweibchen bespannter Wagen. Lehre mich die Gottheit, die du verehrst.« Ihm erwiderte der andere: ›Haha! Ach über dich, Shûdra! Das mag samt den Rindern etwas für dich sein.‹ Da nahm Jânashruti Pautrâyana tausend Rinder, einen Goldschmuck, einen mit Maultierweibchen bespannten Wagen und seine Tochter und zog wieder zu ihm und redete ihn an: »Raikva, hier sind tausend Rinder, hier ein Goldschmuck, hier ein mit Maultieren bespannter Wagen, hier die Frau, hier das Dorf, in dem du wohnst. Nun belehre mich, Ehrwürdiger.« Er hob ihr Gesicht und sprach: ›Haha, ach über diese, Shûdra! Mit diesem Gesicht allein würdest du mich geehrt haben.‹ Es war der Raikvaparna genannte Ort im Lande der Mahâvrishas, wo sein Wohnsitz war. Er verkündete ihm:

›Der Wind ist es, der alles an sich zieht. Wenn das Feuer ausgeht, geht es in den Wind ein. Wenn die Sonne untergeht, geht sie in den Wind ein. Wenn der Mond untergeht, geht er in den Wind ein. Wenn die Wasser austrocknen, gehen sie in den Wind ein. Der Wind zieht diese alle an sich. Soviel hinsichtlich der Gottheit. Nun in bezug auf das Ich. Der Hauch ist es, der alles an sich zieht. Wenn einer schläft, so geht die Stimme in den Hauch ein, in den Hauch das Auge, in den Hauch das Ohr, in den Hauch das Manas. Der Hauch zieht alle die an sich. Das sind die zwei, die alles an sich ziehen; der Wind unter den Göttern, der Hauch unter den lebenden Wesen2.‹


(IV, 1-3)

1

Die Bezeichnung unklar.

2

Lies prânishu. Eine eindringende Besprechung der Stelle von Lüders, Sb KPAW 1916 278ff. Hier bei der Korrektur noch benutzt.

Quelle:
Upanishaden. Altindische Weisheit aus Brâhmanas und Upanishaden. Düsseldorf/Köln 1958, S. 99-101.
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