Über den Frieden des Geistes

[210] »Wie ein Feuer ohne Brennholz erlischt, so erlischt der Geist in sich, wenn die Sinnestätigkeit ruht. Der Geist, der in sich erloschen ist, hegt den Wunsch nach der Wahrheit1. Wenn er aber von den Sinnesgegenständen betört ist, hegt er die Lüge, die im Dienst des Karman steht. Mit Sorgfalt soll er den Geist – denn der ist dem Samsâra2 untertan – läutern. Wie eines Geist ist, so ist er selbst: das ist ein altes Geheimnis. Durch den Frieden des Geistes macht er alles Werk, sei es gut oder böse, zunichte. Wer friedevollen Herzens im Selbst beharrt, erreicht unendliches Glück. Wenn das Herz3 eines Menschen so, wie es an der Sinneswelt haftet, am Brahman hinge, wer würde da nicht von seiner Fessel[210] frei! Der Geist4, sagt man, ist zwiefach: rein und unrein. Unrein ist er infolge der Berührung mit den Wünschen, rein, wenn er von Wünschen befreit ist. Wenn einer seinen Geist von Trägheit und Unachtsamkeit befreit und wohlbefestigt hat und dann zum Nichtsein des Geistes gelangt ist, so ist das die höchste Stätte. Solange mußt du im Inneren deinen Geist zügeln, bis er zunichte ist5. Das ist Wissen und Erlösung; alles andere Bücherweisheit. Wessen Geist durch Versenkung rein geworden und in den Âtman eingedrungen ist, erfährt ein Glück, das mit Worten nicht zu beschreiben ist und nur im Herzen verstanden wird. Er sieht im Wasser nicht mehr Wasser, im Feuer nicht mehr Feuer, im Raum nicht den Raum. Wessen Geist in dieser Weise geschwunden ist, der wird befreit. Der Geist ist für die Menschen die Ursache von Fessel und Freiheit. Zur Fessel dient das Haften an der Sinneswelt, die Abkehr von ihr zur Freiheit.«


(6,34)

1

Lies: satyakâmatâ N. sg.

2

Lies adj.: samsâri.

3

›cittam‹: in unserem Fall entspricht am besten die Übersetzung mit ›Herz‹.

4

manas und cittam sehe ich hier als Synonyma an.

5

Brahmabindu-Up. 5.

Quelle:
Upanishaden. Altindische Weisheit aus Brâhmanas und Upanishaden. Düsseldorf/Köln 1958, S. 210-211.
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