Das Urteil

[31] Das Empfangende wirkt erhabenes Gelingen,

fördernd durch die Beharrlichkeit einer Stute.

Hat der Edle etwas zu unternehmen und will voraus,

so geht er irre; doch folgt er nach, so findet er Leitung.

Fördernd ist es, im Westen und Süden Freunde zu finden,

im Osten und Norden der Freunde zu entraten.

Ruhige Beharrlichkeit bringt Heil.


Die vier Grundrichtungen des Schöpferischen: »erhabenes Gelingen, fördernd durch Beharrlichkeit« finden sich auch als Bezeichnung des Empfangenden. Nur ist die Beharrlichkeit näher definiert als die Beharrlichkeit einer Stute. Das Empfangende bezeichnet die räumliche Wirklichkeit gegenüber der geistigen Möglichkeit des Schöpferischen. Wenn das Mögliche wirklich wird, das Geistige räumlich, so geschieht das immer durch eine einschränkende, individuelle Bestimmung. Das ist bezeichnet dadurch, daß hier dem Ausdruck »Beharrlichkeit« die nähere Bestimmung »einer Stute« beigefügt ist. Das Pferd gehört zur Erde wie der Drache zum Himmel, es symbolisiert durch seine unermüdliche Bewegung über die Ebene hin die Weiträumigkeit der Erde. Der Ausdruck »Stute« ist gewählt, weil die Stute die Kraft und Schnelligkeit des Pferdes mit der Sanftheit und Hingebung der Kuh vereinigt.

Die Natur kann nur darum, weil sie dem Wesen des Schöpferischen gewachsen ist, dessen Anregungen verwirklichen. Ihr[31] Reichtum besteht darin, daß sie alle Wesen ernährt, und ihre Größe, daß sie alles verschönt und herrlich macht. So schafft sie Gedeihen für alles Lebendige. Während das Schöpferische die Dinge zeugt, werden sie vom Empfangenden geboren1. Auf menschliche Verhältnisse übertragen, handelt es sich darum, der Lage entsprechend sich zu verhalten. Man ist nicht in selbständiger Stellung, sondern als Gehilfe tätig. Da gilt es, etwas zu leisten. Nicht führen zu wollen – dadurch verirrte man sich nur –, sondern sich führen zu lassen, ist die Aufgabe. Wenn man es versteht, dem Schicksal gegenüber sich hingebend zu verhalten, so findet man sicher eine entsprechende Leitung. Der Edle läßt sich leiten. Er geht nicht blindlings voran, sondern er entnimmt den Verhältnissen, was von ihm verlangt wird, und folgt dieser Weisung des Schicksals.

Da man etwas leisten soll, bedarf man der Gehilfen und Freunde zur Zeit der Arbeit und Anstrengung, wenn die Gedanken, die ausgeführt werden sollen, schon festliegen. Die Zeit der Arbeit und Anstrengung wird durch den Westen und Süden ausgedrückt. Denn der Süden und Westen ist das Symbol für den Ort, da das Empfangende für das Schöpferische arbeitet – wie die Natur im Sommer und Herbst; wenn man da nicht alle Kräfte zusammenfaßt, wird man nicht fertig mit der Arbeit, die man zu leisten hat. Darum bedeutet hier, Freunde zu bekommen, eben daß man Leistung findet. Aber außer der Arbeit und Anstrengung gibt es auch eine Zeit des Planens und Ordnens; da bedarf's der Einsamkeit. Der Osten symbolisiert den Ort, da man die Aufträge von seinem Herrn erhält, und der Norden den Ort, da man über das Geleistete berichtet. Da gilt es allein und sachlich zu sein. In dieser heiligen Stunde muß man der Genossen entraten, damit nicht durch der Parteien Haß und Gunst die Reinheit getrübt wird.

Quelle:
I Ging. Köln 141987, S. 31-32.
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