Kapitel II

§ 3

[246] Himmel und Erde bestimmen die Richtung. Berg und See stehen in Verbindung ihrer Kräfte. Donner und Wind regen einander auf. Wasser und Feuer bekämpfen[246] einander nicht. So werden die acht Zeichen durcheinander gestellt.

Das Vergehende zu zählen, beruht auf der Vorwärtsbewegung. Das Kommende zu wissen, beruht auf der rückläufigen Bewegung. Darum hat das Buch der Wandlungen rückläufige Zahlen.


Hier werden in einem vermutlich sehr alten Spruch die acht Urzeichen genannt in paarweiser Reihenfolge, die der Überlieferung nach auf Fu Hi zurückgeht, also zur Zeit der Abfassung des Buchs der Wandlungen in der Dschoudynastie schon vorhanden war. Diese Reihenfolge wird die Reihenfolge des früheren Himmels oder vorweltliche Reihenfolge genannt. Die einzelnen Zeichen sind den Zeichen der Windrose folgendermaßen beigeordnet – wobei zu beachten ist, daß im Chinesischen der Süden oben zu stehen pflegt:


Kapitel II

Kiën, Himmel, und Kun, Erde, bestimmen die Richtungsachse Nord-Süd. Dann kommt die Beziehung Gen, Berg, und Dui, See. Sie stehen insofern in Verbindung ihrer Kräfte, als der Wind vom Berg nach dem See weht und die Wolken und Dünste vom See nach dem Berg aufsteigen. Dschen, Donner, und Sun, Wind, verstärken einander bei ihrem Hervortreten. Li, Feuer, und Kan, Wasser, stehen in der Welt der Erscheinung in unversöhnlichem Gegensatz. Aber in den vorweltlichen Beziehungen stören ihre Wirkungen einander nicht, sondern halten einander im Gleichgewicht.

[247] Beim Durcheinanderstellen der Zeichen, d.h. wenn sie in Bewegung kommen, ist eine doppelte Bewegung zu konstatieren, die gewöhnliche, rechtläufige, sich im Zeitverlauf summierende und expandierende, durch die das Vergehende bestimmt wird, und eine entgegengesetzte, rückläufige, sich im Zeitverlauf zusammenfaltende und kontrahierende, durch die die Keime der Zukunft sich gestalten. Die Kenntnis dieser Bewegung verleiht das Wissen der Zukunft. Bildlich ausgedrückt: Wenn man versteht, wie der Baum sich im Samenkorn zusammenzieht, so versteht man die künftige Entfaltung des Samenkorns zum Baum.


§ 4

Der Donner bewirkt die Bewegung, der Wind bewirkt die Auflösung, der Regen bewirkt die Befeuchtung, die Sonne bewirkt die Erwärmung, das Stillehalten bewirkt die Innehaltung, das Heitre bewirkt die Erfreuung, das Schöpferische bewirkt die Beherrschung, das Empfangende bewirkt die Bergung.


Hier werden abermals die durch die acht Urzeichen dargestellten Kräfte in ihrer Wirkung auf die Natur dargestellt. Dabei werden die vier ersten mit ihren Bildern, die vier letzten mit ihren Namen genannt, da nur die vier ersten in ihren Bildern zeitlich wirksame Naturkräfte bezeichnen, während die andern auf Zustände deuten, die im Lauf des Jahres eintreten.

Dabei haben wir eine vorwärtsgehende (aufsteigende) Linie, in der die Kräfte des vergangenen Jahres sich auswirken. – Die Verfolgung dieser Linie führt nach § 3 zur Kenntnis der Vergangenheit, die als Ursache in ihren Wirkungen latent gegenwärtig ist. In der zweiten Hälfte, die nicht nach den Bildern (Erscheinungen), sondern nach den Eigenschaften der Zeichen benannt ist, setzt eine rückläufige Bewegung ein (der Sprung von Li, das im Osten steht, zurück zu Gen im Nordwesten). In dieser Linie entwickeln sich die Kräfte des kommenden Jahres. – Die Verfolgung dieser Linie führt zur Kenntnis der Zukunft, die als Wirkung durch ihre Ursachen, bzw. Keime, die sich kontrahierend verdichten, vorbereitet wird.

Die Kräfte wirken sich innerhalb der vorweltlichen Anordnung immer in paarweisen Gegensätzen aus. Der Donner, die elektrische Kraft, weckt die Samen des alten Jahres. Sein Gegenstück, der Wind, löst die Starrheit des winterlichen Eises auf. Der Regen befeuchtet die Samen, so daß sie keimen können, sein Gegenstück, die Sonne, gibt die nötige Wärme dazu. Daher der Spruch: »Wasser und Feuer bekämpfen einander nicht.« Nun kommen die rückläufigen Kräfte. Das Stillehalten hemmt die[248] weitere Expansion; die Samenanlage beginnt. Sein Gegenstück, das Heitere, bewirkt die Freuden der Ernte. Dann kommen zum Abschluß die richtunggebenden Kräfte: das Schöpferische, das das große Gesetz des Daseins repräsentiert, und das Empfangende, das das Bergen im Mutterschoß zeigt, in den alles zurückkehrt, nachdem es den Kreislauf des Lebens vollendet.

Wie im Jahreslauf sind auch im Menschenleben solche aufsteigenden und rückläufigen Kraftlinien vorhanden, aus denen Vergangenheit und Zukunft entnommen werden kann.


§ 5

Gott tritt hervor im Zeichen des Erregenden, er macht alles völlig im Zeichen des Sanften, er läßt die Geschöpfe einander erblicken im Zeichen des Haftenden (des Lichts), er läßt sie einander dienen im Zeichen des Empfangenden. Er erfreut sie im Zeichen des Heiteren, er kämpft im Zeichen des Schöpferischen, er müht sich im Zeichen des Abgründigen, er vollendet sie im Zeichen des Stillehaltens.


Hier ist die Reihenfolge der acht Zeichen nach der Ordnung des Königs Wen gegeben, die die Reihenfolge des späteren Himmels oder innerweltliche Ordnung genannt wird. Die Zeichen sind hier aus ihrer paarweise entgegengesetzten Ordnung gelöst und in der zeitlichen Reihenfolge ihres Hervortretens in die Erscheinung im Kreislauf des Jahres gezeigt. Dabei ist die Ordnung der Zeichen sehr wesentlich verändert. Himmelsrichtungen und Jahreszeiten sind kombiniert. Die Ordnung stellt sich folgendermaßen dar:


Kapitel II

[249] Das Jahr beginnt die Schöpfertätigkeit Gottes zu zeigen in dem Zeichen Dschen, das Erregende, das im Osten steht und den Frühling bedeutet. Über die Art, wie diese Wirksamkeit Gottes in der Natur vor sich geht, enthält das Folgende nähere Ausführungen.

Es ist höchst wahrscheinlich, daß der obige Spruch ein Rätselspruch aus alter Zeit ist, der im Folgenden eine Deutung erfahren hat, die wohl auf die Gedankenwelt der Schule des Kungtse hinweist.


Alle Wesen treten hervor im Zeichen des Erregenden. Das Erregende steht im Osten.

Sie werden völlig im Zeichen des Sanften. Das Sanfte steht im Südosten. Völligkeit bedeutet, daß alle Wesen rein und völlig werden.

Das Haftende ist die Helle, in der alle Wesen einander erblicken. Es ist das Zeichen des Südens. Daß die heiligen Weisen mit dem Gesicht nach Süden gewandt waren, wenn sie den Sinn des Weltreichs anhörten, hat die Bedeutung, daß sie sich dem Hellen zuwandten bei ihrem Walten. Offenbar entnahmen sie das diesem Zeichen.

Das Empfangende bedeutet die Erde. Sie sorgt dafür, daß alle Wesen ernährt werden. Darum heißt es: »Er läßt sie einander dienen im Zeichen, des Empfangenden.«

Das Heitere ist der Mittherbst, der alle Wesen erfreut. Darum heißt es: »Er erfreut sie im Zeichen des Heiteren.«

»Er kämpft im Zeichen des Schöpferischen.« Das Schöpferische ist das Zeichen des Nordwestens. Es bedeutet, daß hier das Dunkle und das Lichte einander aufregen.

Das Abgründige bedeutet das Wasser. Es ist das Zeichen des genauen Nordens, das Zeichen der Mühe, dem alle Wesen zufallen. Darum heißt es: »Er müht sich im Zeichen des Abgründigen.«

Das Stillehalten ist das Zeichen des Nordostens, wo[250] aller Wesen Anfang und Ende vollendet wird. Darum heißt es: »Er vollendet sie im Zeichen des Stillehaltens.«


Hier werden Jahreslauf und Tageslauf miteinander in Einklang gebracht. Was im vorigen Abschnitt als die Entfaltung des Göttlichen dargestellt war, wird hier nach seiner Erscheinung in der Natur dargestellt. Die Zeichen werden den Jahreszeiten und Himmelsrichtungen zugeteilt, ohne Schematismus, durch gelegentliche Hinweise, aus denen sich das oben gezeichnete Schema ergibt. Der Frühling regt sich, und damit kommt Keimen und Sprossen in die Natur. Das entspricht dem Morgen des Tages. Dieses Erwachen ist dem Zeichen des Erregenden, Dschen, zugeteilt, das als Donner und elektrische Kraft aus der Erde hervorströmt. Dann kommt die linde Luft, die die Pflanzenwelt erneuert und die Erde mit Grün kleidet. Das entspricht dem Zeichen des Sanften, Eindringenden, Sun. Sun hat als Bild sowohl den Wind, der das starre Wintereis auflöst, als auch das Holz, das organisch sich entwickelt. Die Wirkung dieses Zeichens ist, daß die Dinge in ihre Formen sozusagen einströmen, sich entwickeln und auswachsen zu dem, was im Keim als Form vorgebildet ist. Darauf kommt die Höhe des Jahres, Mittsommer, bzw. im Tageslauf der Mittag. Hier steht das Zeichen Li, das Haftende, das Licht. Hier erblicken die Wesen einander. Das vegetativ Organische geht über ins seelisch Bewußte. So ist das zugleich ein Bild der menschlichen Gemeinschaft, in der der Herrscher, der Klarheit zugewandt, über den Erdkreis waltet. Es ist zu beachten, daß das Zeichen Li den Platz im Süden einnimmt, den bei der vorweltlichen Ordnung das Zeichen Kiën, das Schöpferische, innehatte. Li besteht dem Wesen nach aus dem unteren und dem oberen Strich von Kiën, die den zentralen Strich von Kun in sich aufgenommen haben. Man muß zum vollen Verständnis die innerweltliche Ordnung immer als transparent sich vorstellen, wobei die vorweltliche Ordnung durchschimmert. So kommen wir hier bei dem Zeichen Li gleichzeitig auf den Herrscher Kiën, der mit dem Gesicht nach Süden gewandt regiert. Darauf kommt das Reifen der Feldfrüchte, das Kun, die Erde, das Empfangende, gewährt. Es ist die Zeit der Erntearbeit, des gemeinsamen Dienens. Dann folgt der Mittherbst unter dem Zeichen des Heiteren, Dui, das, wie der Abend den Tag, so als Herbst das Jahr seiner Reife und Freude zuführt. Es kommt dann die strenge Zeit, da sich zeigen muß, was geleistet ist. Gericht liegt in der Luft. Von der Erde kehren die Gedanken zurück zum Himmel, dem Schöpferischen, Kiën. Ein Kampf wird gekämpft. Eben während[251] das Schöpferische zur Herrschaft kommt, ist der äußeren Auswirkung nach die dunkle Yinkraft am mächtigsten. Daher regen hier das Dunkle und das Lichte einander auf. Ein Zweifel, wer in diesem Kampf siegen wird, kann nicht bestehen, da es nur die letzte Auswirkung vorher gelegener Ursachen ist, die durch das Schöpferische ihr Gericht findet. Darauf folgt dann der Winter im Zeichen des Abgründigen, Kan. Kan, das im Norden – am Platz des Empfangenden in der vorweltlichen Ordnung – steht, hat als Symbol die Talschlucht. Es kommt die Mühe des Sammelns in die Scheunen. Wie das Wasser keine Mühe scheut, sondern sich immer der tiefsten Stelle zuwendet, weshalb ihm alles zufließt, so ist der Winter im Jahreslauf und die Mitternacht im Tageslauf die Zeit der Sammlung. Geheimnisvoll bedeutend ist das Zeichen Stillehalten, Gen, das als Symbol den Berg hat. Hier knüpft sich in tiefverborgener Stille im Samenkorn das Ende aller Dinge an einen neuen Anfang. Tod und Leben, Sterben und Auferstehen sind die Gedanken, die der Übergang vom alten Jahr ins neue auslöst.

So ist der Kreis geschlossen. Wie in der Natur der Tag oder das Jahr, so ist jedes Leben, ja jeder Erlebniszyklus ein Zusammenhang, durch den Altes und Neues ver knüpft wird. Von hier aus ist es zu verstehen, wenn in mehreren der 64 Zeichen Südwesten die Arbeitszeit und Gemeinsamkeit bedeutet und Nordwesten die einsame Zeit, da Altes beendet und Neues begonnen wird.


§ 6

Der Geist ist geheimnisvoll in allen Wesen und wirkt durch sie. Unter allem, was die Dinge bewegt, gibt es nichts Schnelleres als den Donner. Unter allem, was die Dinge beugt, gibt es nichts Schnelleres als den Wind. Unter allem, was die Dinge erwärmt, gibt es nichts Austrocknenderes als das Feuer. Unter allem, was die Dinge erfreut, gibt es nichts Erfreulicheres als den See. Unter allem, was die Dinge feuchtet, gibt es nichts Feuchteres als das Wasser. Unter allem, was die Dinge endet und die Dinge anfängt, gibt es nichts Herrlicheres als das Stillehalten.

Darum: Wasser und Feuer ergänzen einander, Donner und Wind stören einander nicht, Berg und See stehen in Kraftwirkung miteinander: so nur ist Veränderung und Umgestaltung möglich und können alle Dinge vollendet werden.[252]

Hier wird nur die Wirkung der sechs abgeleiteten Urzeichen aufgeführt. Diese Wirkung ist die Wirkung des Geistigen, das nicht ein Ding neben Dingen ist, sondern die Kraft, die durch die verschiedenen Wirkungen von Donner, Wind usw. sich beweist. Die beiden Urzeichen »das Schöpferische« und »das Empfangende« sind nicht genannt, weil sie als Himmel und Erde eben die Ausstrahlungen des Geistes sind, innerhalb deren durch die Wirkung der abgeleiteten Kräfte die sichtbare Welt entsteht und sich wandelt. Jede dieser Kräfte wirkt in einer bestimmten Richtung; aber Bewegung und Wandlung ist nur möglich dadurch, daß die paarweise entgegengesetzten Kräfte, ohne einander aufzuheben, die Kreisbewegung in Schwung setzen, auf der das Leben der Welt beruht.

Quelle:
I Ging. Köln 141987, S. 246-253.
Lizenz:

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