Kapitel VIII

Über den Gebrauch der beigefügten Erklärungen

§ 1

[281] Die heiligen Weisen vermochten alle die wirren Mannigfaltigkeiten unter dem Himmel zu übersehen. Sie beobachteten die Formen und Erscheinungen und bildeten die Dinge und ihre Eigenschaften ab. Das nannte man: die Bilder.


[281] Es wird hier gezeigt, wie aus den Urbildern, die den Erscheinungen und Dingen zugrunde liegen, die Abbilder des Buchs der Wandlungen entstanden.


§ 2

Die heiligen Weisen vermochten all die Bewegungen unter dem Himmel zu übersehen. Sie betrachteten, wie sie zusammentrafen und zusammenhingen, um nach ihren ewigen Ordnungen zu laufen. Da fügten sie Urteile bei, um ihr Heil und Unheil zu entscheiden. Das nannte man: die Urteile.


Das letzte Wort heißt im Text »Striche«. In der Überset zung wurde die Korrektur von Hu Schï in seiner »Geschichte der chinesischen Philosophie« akzeptiert, die die Gegenüberstellung von Bildern und Urteilen, wie sie sich auch an anderen Stellen des Buchs der Wandlungen findet, besser herausbringt.


§ 3

Sie reden von den wirrsten Mannigfaltigkeiten, ohne daß sie Abneigung erwecken. Sie reden von dem höchst Beweglichen, ohne daß sie Verwirrung veranlassen.


§ 4

Das kommt davon her, daß sie beobachteten, ehe sie redeten, und besprachen, ehe sie sich bewegten. Durch Beobachtung und Besprechung machten sie die Veränderungen und Umgestaltungen vollkommen.


Auch in diesen beiden Paragraphen tritt die Gegenüberstellung von Beobachtung am Bild der Zeichen für die Kenntnis der Mannigfaltigkeiten und Besprechung im Urteil der Zeichen für die Kenntnis der Bewegungsrichtungen hervor. Wir haben hier Ausführungen über die Theorie des Einfachen als Wurzel der Mannigfaltigkeiten der Form (in Übereinstimmung mit dem Empfangenden) und des Leichten als Wurzel aller Bewegungen (in Übereinstimmung mit dem Schöpferischen) wie in Kap. I, § 6ff. Die folgenden Paragraphen (Reste eines ausführlichen Kommentars zu den einzelnen Linien der Zeichen) führen nun Beispiele dafür an.


§ 5

»Ein rufender Kranich im Schatten. Sein Junges antwortet ihm. Ich habe einen guten Becher. Ich will ihn mit dir teilen.« Der Meister sprach: Der Edle weilt in seinem Zimmer. Äußert er seine Worte gut, so findet er Zustimmung aus einer Entfernung von über[282] tausend Meilen. Wieviel mehr noch aus der Nähe! Weilt der Edle in seinem Zimmer und äußert seine Worte nicht gut, so findet er Widerspruch aus einer Entfernung von über tausend Meilen. Wieviel mehr noch aus der Nähe! Die Worte gehen von der eignen Person aus und wirken auf die Menschen. Die Werke entstehen in der Nähe und werden sichtbar in der Ferne. Worte und Werke sind des Edlen Türangel und Armbrustfeder. Indem sich diese Angel und Feder bewegen, bringen sie Ehre oder Schande. Durch Worte und Werke bewegt der Edle Himmel und Erde. Muß man da nicht vorsichtig sein?


Vgl. Buch I, Zeichen Nr. 61, Dschung Fu, Innere Wahrheit, Neun auf zweitem Platz: Ausführung über das Reden.


§ 6

»Die gemeinsamen Menschen weinen erst und klagen, aber nachher lachen sie.«

Der Meister sprach:

Das Leben führt den ernsten Mann auf bunt verschlungnem Pfade.

Oft wird gehemmt des Laufes Kraft, dann wieder geht's gerade.

Hier mag sich ein beredter Sinn in Worten frei ergießen,

Dort muß des Wissens schwere Last in Schweigen sich verschließen.

Doch wo zwei Menschen einig sind in ihrem innern Herzen,

Da brechen sie die Stärke selbst von Eisen oder Erzen.

Und wo zwei Menschen sich im innern Herzen ganz verstehen,

Sind ihre Worte süß und stark wie Duft von Orchideen.

Vgl. Buch I, Zeichen Nr. 13, Tung Jen, Gemeinschaft mit Menschen, Neun auf fünftem Platz: ebenfalls über das Reden.


§ 7

[283] »Anfangs eine Sechs bedeutet: Unterlegen mit weißem Schilfgras. Kein Makel.«

Der Meister sprach: Wenn man etwas nur einfach auf den Boden stellt, so geht es ja auch. Aber wenn man es mit weißem Schilfgras unterlegt, was für ein Fehler könnte dabei sein? Das ist das Äußerste an Vorsicht. Das Schilfgras ist an sich ein wertloses Ding, aber es kann von sehr wichtiger Wirkung sein. Wenn man so vorsichtig ist in allem, was man tut, bleibt man frei von Fehlern.


Vgl. Buch III, Zeichen Nr. 28, Da Go, des Großen Übergewicht, Anfangssechs: Über das Handeln.


§ 8

»Ein verdienstvoll-bescheidener Edler bringt zu Ende. Heil!«

Der Meister sprach: Wenn man sich seiner Mühen nicht rühmt und seine Verdienste sich nicht zur Tugend anrechnet, das ist die höchste Großzügigkeit. Das heißt, daß man sich mit seinen Verdiensten unter andere stellt. In seiner Art herrlich, in seinen Sitten ehrfurchtsvoll, ist der Bescheidene äußerst verdienstvoll, und deshalb vermag er seine Stellung zu wahren.


Vgl. Buch III, Zeichen Nr. 15, Kiën, die Bescheidenheit, Neun auf drittem Platz: Über das Handeln.


§ 9

»Hochmütiger Drache wird zu bereuen haben.«

Der Meister sprach: Wer vornehm ist ohne die Stellung dazu, wer hoch ist ohne das Volk dazu, bei wem die tüchtigen Leute in untergeordneten Stellen sind, ohne daß sie seine Unterstützung finden, der wird es zu bereuen haben, sowie er sich bewegt.


Vgl. Buch III, Zeichen Nr. 1, Kiën, das Schöpferische, obere Neun, Wen Yen, wo dieser Passus – offenbar aus demselben Kommentar stammend – wörtlich enthalten ist: Über das Handeln.


§ 10

»Nicht zu Tür und Hof hinausgehen ist kein Makel.«

Der Meister sprach: Wo Unordnung entsteht, da sind die Worte die Stufe dazu. Wenn der Fürst nicht verschwiegen[284] ist, so verliert er den Diener. Wenn der Diener nicht verschwiegen ist, so verliert er das Leben. Wenn Sachen im Keime nicht verschwiegen behandelt werden, so schadet das der Vollendung. Darum ist der Edle sorgfältig im Verschweigen und geht nicht hinaus.


Vgl. Buch I, Zeichen Nr. 60, Dsië, die Beschränkung, Anfangsneun: Über das Reden.


§ 11

Der Meister sprach: Die Verfasser des Buchs der Wandlungen kannten die Räuber. Im Buch der Wandlungen heißt es: »Wenn einer eine Last auf dem Rücken trägt und trotzdem Wagen fährt, veranlaßt er dadurch die Räuber, herbeizukommen.« Eine Last auf dem Rücken zu tragen, ist das Geschäft eines gemeinen Menschen. Ein Wagen ist das Gerät eines vornehmen Mannes. Wenn nun ein Gemeiner das Gerät eines vornehmen Mannes benützt, so denken die Räuber darauf, es ihm wegzunehmen. Wenn einer frech nach oben und hart nach unten ist, so denken die Räuber daran, ihn anzugreifen. Lässige Aufbewahrung verführt die Räuber zum Stehlen. Üppiger Schmuck eines Mädchens verlockt zum Raub ihrer Tugend. Im Buch der Wandlungen heißt es: »Wenn einer eine Last auf dem Rücken trägt und trotzdem Wagen fährt, veranlaßt er dadurch die Räuber, herbeizukommen«; denn das ist ein Wink für Räuber.


Vgl. Buch I, Zeichen Nr. 40, Hië, die Befreiung, Sechs auf drittem Platz: Über das Handeln.

Quelle:
I Ging. Köln 141987, S. 281-285.
Lizenz:

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