3. Die Sitte als freie Übereinstimmung mit der Natur

[68] Wer daher einen Staat ordnen will und sich nicht auf die Sitte stützt, der gleicht einem Menschen, der pflügen wollte ohne Pflugschar. Wer die Sitte pflegt, sie aber nicht auf Gerechtigkeit gründet, der gleicht einem Menschen, der pflügte, ohne zu säen. Wer die Gerechtigkeit pflegt, sie aber nicht durch Bildung den Leuten bekannt macht, der ist wie einer, der säte, ohne zu jäten. Wer den Leuten Bildung bringt, aber sie nicht vereinigt mit einer liebevollen Gesinnung, der ist wie einer, der jäten wollte, ohne zu ernten. Wer sie vereinigt durch liebevolle Gesinnung, aber sie nicht beruhigt durch Musik, der ist wie einer, der ernten wollte, ohne zu essen. Wer sie beruhigt durch Musik, aber sie nicht vollendet in der Übereinstimmung mit dem Naturgesetz, der ist wie einer, der essen würde, ohne zu gedeihen.

Kraft und Wohlbeschaffenheit der Glieder, Fülle und Glätte der Haut sind Zeichen vom Gedeihen des Körpers. Wenn Eltern und Kinder einander aufrichtig zugetan sind, Brüder[68] in Eintracht leben und Gatten in Harmonie sind: das ist das Gedeihen des Hauses. Wenn die hohen Beamten sich an die Gesetze halten und die niederen Beamten ehrlich sind; wenn der Bereich der verschiedenen Ämter wohl abgegrenzt ist und Fürsten und Beamte einander zum Rechten helfen: das ist das Gedeihen des Staates. Wenn der Himmelssohn geistigen Wert zum Wagen hat und Musik als Wagenlenker; wenn die Fürsten nach den Regeln der Sitte miteinander verkehren und die hohen Würdenträger dem Gesetz entsprechend ihren verschiedenen Rang besitzen; wenn die Staatsmänner durch Treue einander vollenden und die Leute des Volkes in Eintracht miteinander leben: das ist das Gedeihen der ganzen Welt; das ist die höchste Übereinstimmung mit dem Naturgesetz14. Diese höchste Übereinstimmung mit der Natur ermöglicht dauernde Versorgung der Lebenden, Bestattung der Toten und Dienst der Geister und Götter. So entsteht ein umfassendes Zusammenwirken der Arbeiten ohne Verwirrung und Gemeinsamkeit der Handlungen ohne Mißverständnisse, wobei auch die geringste Leistung nicht verlorengeht. Trotz aller Tiefe herrscht Klarheit. Bei aller Fülle herrscht Ordnung. Bei allem Zusammenhang kommen keine Übergriffe vor. Jeder kann sich bewegen, ohne den andern zu schädigen. Das ist die höchste Stufe der Übereinstimmung mit der Natur.

Nur wer die Übereinstimmung mit der Natur versteht, ist jeder Gefahr gewachsen. Indem die Sitte die gesellschaftliche Gliederung festhält, keinen Luxus und keine Knickerigkeit duldet, vermag sie die Gefühle der Menschen in Schranken zu halten, so daß sie einig sind in jeder Gefahr.

Worin ein heiliger König seine Übereinstimmung mit der Natur zeigt, das ist, daß er die Bergbewohner nicht an Flüssen, die Inselbewohner nicht in großen Ebenen ansiedelt und sie deshalb nicht in Mangel bringt. Der Gebrauch von Wasser, Feuer, Metall, Holz, Trank und Speise richtet sich nach der Zeit.

Er vereinigt die Männer und Frauen und verteilt die Würden und Stellungen entsprechend der Wirkungsart des Jahres. Er gebraucht das Volk in Übereinstimmung mit der Natur. Darum gibt es kein Hochwasser, keine Dürre und keine Raupen- und Insektenplage. Das Volk hat nicht zu leiden unter[69] Unheil, Hunger und üblen Vorzeichen in der Pflanzen- und Tierwelt. Der Himmel hält nicht seinen Segen zurück; die Erde hält nicht ihre Schätze zurück; die Menschen halten nicht zurück mit ihren Gefühlen. Deshalb sendet der Himmel seinen süßen Tau hernieder; die Erde läßt frische Quellen sprudeln; die Berge geben Schätze an Metallen und Hölzern her; dem Fluß entsteigt das Wunderpferd15; Kilin und Phönix kommen bis vor die Mauern der Städte; Schildkröten und Drachen beleben die Teiche des Königsschlosses; den übrigen Vögeln und Tieren kann man in die Nester und Höhlen sehen, wenn sie Eier legen und Junge bekommen. Der Grund von diesen Zuständen war kein anderer, als daß die Könige damals die Sitte pflegten, um die Gerechtigkeit zu verbreiten, und die Wahrheit verkörperten, um die Übereinstimmung mit der Natur zu verbreiten. Das alles sind die Früchte der Übereinstimmung mit der Natur.

14

Im Unterschied von den Naturzuständen der Urzeit ist die Freiheit der aus sich selbst erworbene Zustand der wahren Kultur.

15

Ein pferdeartiger Drache mit geheimnisvollem Zahlzeichen auf dem Rücken ist der Sage nach dem Yü (Fu Hi) erschienen, der Zustand höchster Kultur und Freiheit als Vollendung des Zustands der Unschuld, das »dritte Reich«. Dieser Gedanke ist durchaus konfuzianisch.

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 68-70.
Lizenz: