10. Die umwandelnden Kräfte der Musik Yüo Hua

[91] Ein Edler spricht: »Sitte und Musik dürfen nicht für einen Augenblick der Persönlichkeit fernbleiben. Wenn man die Musik wirken läßt zur Ordnung der Gesinnung, so wächst eine ruhige, gerade, ehrliche und aufrichtige Gesinnung üppig empor. Wenn eine ruhige, gerade, ehrliche und aufrichtige Gesinnung entsteht, so wird man fröhlich. Durch Fröhlichkeit kommt Friede, durch Friede entsteht Dauer, durch Dauer entsteht himmlisches Wesen, durch himmlisches Wesen entsteht Göttlichkeit. Himmlisches Wesen braucht nicht zu reden und findet doch Glauben, Göttlichkeit braucht nicht zu zürnen und findet doch Scheu. Das ist die Folge der Ordnung der Gesinnung durch die Musik.

Wenn man die Sitte benützt zur Ordnung der Persönlichkeit, so wird man ernst und fest. Durch Ernst und Festigkeit hält man sich in Scheu. Wenn man im Herzen auch nur für einen Augenblick nicht harmonisch und heiter ist, so dringt eine niedrige, falsche Gesinnung ein. Wenn man im Äußeren auch nur für einen Augenblick nicht stark und ernst ist, so dringt eine lässige, träge Gesinnung ein.

Die Musik wirkt auf das Innere, die Sitte wirkt auf das Äußere. Die Musik bewirkt höchste Harmonie, die Sitte bewirkt[91] wirkt höchste Anpassung. Wenn man innerlich harmonisch und äußerlich anpassend ist, so sehen die Menschen einem ins Gesicht, und niemand wird zum Widerspruch gereizt; sie blicken auf das Benehmen, und kein Gefühl der Vernachlässigung kann in ihnen aufkommen. Wenn dann die Geisteskräfte im Innern leuchten und wirken, so ist alles Volk zum Gehorsam bereit. Wenn die Willensrichtung sich im Äußeren zeigt, so ist alles Volk zur Anpassung bereit. Darum heißt es: Wenn man den Weg zur Sitte und Musik in der Welt zur Geltung bringt, so hat man keine Schwierigkeiten.

Weil die Musik auf das Innere und die Sitte auf das Äußere wirkt, darum kommt es bei der Sitte darauf an, sie zu beschränken, und bei der Musik darauf, sie zu erfüllen. Beschränkte Sitten führen zum Fortschritt, und im Fortschritt liegt ihre Schönheit. Reiche Musik führt zur Einkehr, und in der Einkehr liegt ihre Schönheit. Beschränkte Sitten, die nicht zum Fortschritt führen, hören auf, Sitten zu sein. Eine reiche Musik, die nicht zur Einkehr führt, bewirkt Zerstreuung. Die Sitten haben ihre Rückwirkung, und die Musik hat ihre Konzentration. Wenn die Sitten ihre Rückwirkung finden, so entsteht Freude; wenn die Musik ihre Konzentration wirkt, so entsteht Ruhe. Die Rückwirkung der Sitten und die Konzentration der Musik sind ihrem Sinne nach dasselbe.

Musik bedeutet Freude15; das ist etwas, ohne das die Gefühle des Menschen nicht sein können. Die Freude äußert sich notwendig in Lauten und Tönen und gewinnt Gestalt in Bewegungen. Das ist die Art des Menschen. Alle Veränderungen des Zustands der Seele zeigen sich in Tönen und Bewegungen. Darum kann der Mensch es nicht aushalten ohne Freude. Die Freude kann es nicht aushalten ohne Äußerung. Wenn sie sich aber äußert und nicht auf dem rechten Wege, so kann sie es nicht aushalten ohne Übermaß. Die früheren Könige hielten dies Übermaß für beschämend. Darum schufen sie die Klänge der Psalmen und Preislieder, um die Menschen zu führen. Sie machten ihre Klänge genügend heiter, ohne ausschweifend zu sein. Sie machten ihre Worte genügend anregend, ohne ermüdend zu sein. Sie machten ihre Wendungen und Passagen, ihre getrennten und gebundenen Töne und ihren Rhythmus so, daß sie genügend waren, um die gute Gesinnung der[92] Menschen anzuregen, ohne daß unbeherrschte Gefühle und schlechte Regungen sich anschließen konnten. Das war die Art, wie die früheren Könige die Musik machten.

Darum: Wenn die Musik im Ahnentempel erklingt und der Fürst und seine Diener, die Oberen und die Unteren sie gemeinsam hören, so vereinen sich alle in Ehrfurcht. Wenn sie bei Stammes- und Gaufesten ertönt und Alte und Junge sie gemeinsam hören, so vereinigen sich alle in gemeinsamer Eintracht. Wenn sie innerhalb der Türen des Hauses ertönt und Vater und Sohn, älterer und jüngerer Bruder sie gemeinsam hören, so vereinigen sie sich alle in Liebe. Darum wirkt die Musik die Einheit und festigt so die Harmonie. Sie bringt die Wesen zusammen, um den Rhythmus schön zu machen. Der Rhythmus klingt zusammen, um die Melodie zu vollenden. So wird die Eintracht gefördert zwischen Vater und Sohn, Fürst und Diener, und alles Volk wird in Liebe geeint. Das war die Art, wie die früheren Könige die Musik machten.

Darum: Wenn man die Töne jener Psalmen und Lobgesänge hört, so werden Sinn und Wille weit. Wenn man Schild und Axt in der Hand hält und sich übt im Beugen und Aufrichten, im sich Winden und Strecken, so wird das Benehmen würdig. Wenn man sich in festen Abständen bewegt und sich nach dem Rhythmus richtet, so wird das Handeln korrekt, und Vorgehen und Zurückweichen werden vollkommen. Darum ist die Musik das Gesetz von Himmel und Erde, die Ordnung der zentralen Harmonie und das, was die Gefühle der Menschen nicht entbehren können.

Die Musik diente den früheren Königen dazu, die Freude schön zu machen. Der Heerscharen Waffen dienten den früheren Königen dazu, den Zorn schön zu machen. Darum äußerten sich Freude und Zorn der früheren Könige auf die rechte Weise. Wenn sie sich freuten, so tat die ganze Welt mit; wenn sie zürnten, so gerieten die Frevler in Furcht. Am Weg der früheren Könige waren Musik und Sitte das Vollkommenste.«

15

Lo. Im Chinesischen wird Lo (fröhlich) und Yüo (Musik) mit demselben Zeichen geschrieben.

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 91-93.
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