1. Die drei Stufen der Kindesehrfurcht

[145] Meister Dsong sprach: »Die Kindesehrfurcht hat drei Stufen: Die große Kindesehrfurcht bringt die Eltern zu Ehren; die nächste läßt wenigstens keine Schande auf sie kommen; die unterste ist, sie pflegen können.«

Gung Ming I fragte den Meister Dsong und sprach: »Meister, kann man von Euch sagen, daß Ihr Kindesehrfurcht habt?«

Meister Dsong sprach: »Was sind das für Worte! Was sind das für Worte! Was der Edle unter Kindesehrfurcht versteht, das ist, daß man die Wünsche der Eltern erfüllt, noch ehe sie sie gehegt haben, und daß man sie auf den rechten Bahnen zu fördern vermag.

Ich kann die Eltern höchstens pflegen. Wie könnte man mich als kindesehrfürchtig bezeichnen!

Der Leib ist der Eltern hinterlassener Körper. Mit dem von den Eltern hinterlassenen Körper zu handeln, erfordert das nicht größte Ehrerbietung?

Darum: Wenn man an einem Platz weilt ohne Ernst, so ist das nicht ehrfürchtig. Wenn man seinem Fürsten dient ohne Gewissenhaftigkeit, so ist das nicht ehrfürchtig. Wenn man ein Amt bekleidet ohne Sorgfalt, so ist das nicht ehrfürchtig. Wenn man sei nen Freunden nicht treu ist, so ist das nicht ehrfürchtig. Wenn man in den Schlachtreihen nicht tapfer kämpft, so ist das nicht ehrfürchtig. Damit in diesen fünf Lagen keine üblen Folgen unsre Person treffen, muß man da nicht sorgfältig sein?

Darum: Köstliche Speisen und seltene Düfte zu bereiten und den Eltern darzubringen, das ist nicht Kindesehrfurcht,[145] sondern höchstens Pflege. Was der Edle unter Kindesehrfurcht versteht, das ist, wenn alle Leute im Reich ihrem Wohlgefallen Ausdruck geben und sprechen: ›Glücklich der Mann, der solch einen Sohn hat!‹ Das mag als Kindesehrfurcht bezeichnet werden.

Die Grundlage aller menschlichen Bildung ist die Kindesehrfurcht, ihre Ausführung ist die Pflege. Die Pflege der Eltern ist wohl möglich, aber die Ehrerbietung ist schwierig. Die Ehrerbietung mag wohl möglich sein, aber die selbstverständliche Sicherheit ist schwierig. Die selbstverständliche Sicherheit mag wohl möglich sein, aber die Dauer ist schwierig. Die Dauer mag wohl möglich sein, aber die Durchführung bis zum Ende ist schwierig.

Wenn die Eltern abgeschieden sind, so muß man seine Persönlichkeit sorgfältig führen, damit man seinen Eltern keinen üblen Namen hinterläßt. Das mag man als Fähigkeit der Durchführung bis zum Ende bezeichnen. Der Gute ist gut in diesem Sinn, der Gerechte ist recht in diesem Sinn, der Gewissenhafte hat diesen Sinn als Mittelpunkt, der Treue ist treu in diesem Sinn, der Sittliche verkörpert diesen Sinn. Alle Freuden entstehen durch Verfolgung dieses Sinns, und die Strafen treffen den, der diesem Sinn widerstrebt.

Die Kindesehrfurcht ist die große Grundrichtung in der Welt.

Wenn man die Kindesehrfurcht senkrecht aufstellt, so erfüllt sie den Raum zwischen Himmel und Erde; wenn man sie querstellt, so geht sie durch bis zu den vier Weltmeeren; wenn man sie auf die Nachwelt anwendet, so gibt es nicht Morgen noch Abend mehr (so ist sie ewig). Wenn man sie ausdehnt und an das Ostmeer setzt, so ist sie sein Maßstab; wenn man sie ausdehnt und an das Westmeer setzt, so ist sie sein Maßstab; wenn man sie ausdehnt und an das Südmeer setzt, so ist sie sein Maßstab; wenn man sie ausdehnt und an das Nordmeer setzt, so ist sie sein Maßstab. In den Liedern heißt es (III, I, 10, 6): ›Von West, von Ost, von Süd, von Nord: kein Gedanke, der sich nicht fügte.‹ Das bezieht sich darauf.

Die Kindesehrfurcht hat drei Stufen: Die große Kindesehrfurcht ist unerschöpflich. Die mittlere Kindesehrfurcht schafft Werke. Die kleine Kindesehrfurcht gibt sich Mühe.[146]

Weithinaus wirken, daß alle Dinge vollkommen werden, das kann man als unerschöpflich bezeichnen5. Die Güte verehren und auf der Gerechtigkeit ruhen, das kann man Werke schaffen nennen6. Liebevoll sein und alle Mühsale vergessen, das kann man als sich Mühe geben bezeichnen7.

Wenn die Eltern uns gern haben, so sollen wir uns freuen und es nicht vergessen. Wenn die Eltern böse auf uns sind, so sollen wir es uns zu Herzen nehmen und nicht grollen.

Wenn die Eltern einen Fehler machen, so sollen wir sie mahnen, ohne ihnen zu widerstreben. Wenn die Eltern hingeschieden sind, so sollen wir ihnen unter Trauern opfern. Wenn wir das hinzufügen, so mag man sagen, daß wir der Sitte bis zu Ende genug getan.«

5

Es ist die Kindesehrfurcht des Königs, der die Welt in Ordnung bringt und dadurch Ruhm auf seine Ahnen häuft.

6

die Ehrfurcht des Adels

7

die Ehrfurcht des Mannes aus dem Volk

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 145-147.
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