1. Das Scharlachbuch

[296] König Wu trat auf die östlichen Stufen1 des Palastes drei Tage lang. Er hatte die Staatsmänner und Großwürdenträger berufen, befragte sie und sprach: »Wer kennt das Geheimnis eines gesammelten Wandels, den man durch zehntausend Generationen wandeln kann, um den Nachkommen so Dauer zu schaffen?«

Alle Großwürdenträger sprachen: »Wir haben noch nichts davon vernommen.« Darauf berief er den Heer führer Vater Schang und befragte ihn und sprach: »Ist der Weg des alten Herrschers Dschuan Hü noch vorhanden? Oder kann man ihn nicht so ohne weiteres schauen?« Der Heerführer Vater Schang sprach: »Er steht im Scharlachbuch2. Wenn Ihr, o König, ihn vernehmen wollt, so fastet.«

Da fastete der König Wu drei Tage lang, dann setzte er die Krone auf. Der Heerführer Vater Schang hielt das Buch in den Händen und trat ein. Er blieb mit dem Rücken gegen die Schutzwand stehen.

Der König stieg von der Halle herab und blieb mit dem Gesicht nach Süden stehen. Der Heerführer Vater Schang sprach: »Den Weg der früheren Könige darf man nicht mit dem Gesicht nach Norden verkündigen.« Da wandte sich der König um und kehrte das Gesicht nach Osten und blieb stehen.[296] Der Heerführer Vater Schang, mit dem Gesicht nach Westen gewandt, sagte ihm die Worte des Buchs und sprach:


»Wer durch Sorgfalt Trägheit überwindet, wird stark.

Wer durch Trägheit Sorgfalt überwindet, geht zu Grund.

Wer durch Pflicht die Lüste überwindet, dem wird gehorcht.

Wer durch Lüste Pflichten überwindet, dem geht es übel.

Alles Ding, das nicht stark ist, wird krumm,

Wer nicht sorgfältig ist, wird nicht recht,

Die Krummen werden vernichtet,

Die Sorgfältigen dauern zehntausend Geschlechter.


Dies ist das Geheimnis eines gesammelten Wandels, durch den man den Nachkommen Dauer verschaffen kann.«

Ferner habe ich vernommen: »Eine Macht, die durch Güte erlangt und durch Güte bewahrt wird, deren Maß ist hundert Geschlechter. Wenn sie durch Güte erlangt wird und durch Nichtgüte gewahrt, so ist ihr Maß zehn Geschlechter. Wenn sie durch Nichtgüte erlangt wird und durch Nichtgüte gewahrt, so kommt sie in einem Geschlecht notwendig zu Fall.«

1

Die östlichen Stufen des Palastes sind die Stufen für den König; es war also nach seiner Thronbesteigung. In den Bambusannalen steht, daß im 41. Jahr des Königs Dschou Sin von der Yindynastie der Westgraf Tschang (König Wen) gestorben sei und im 42. Jahr der Westgraf Fa (König Wu) die Scharlachurkunde von Lü Schang erhalten habe. Der Kommentator Kung bezweifelt diese chronologische Angabe wegen des Fehlens der dreijährigen Trauerzeit. Umgekehrt dürfte hier ein Beweis dafür vorliegen, daß diese Trauerzeit erst von Kung Dsï (Konfuzius) eingeführt worden ist.

2

Dan Schu, eine alte geheimnisvolle Urkunde, die der Sage nach von dem roten Vogel im Schnabel auf die Erde gebracht worden war.

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 296-297.
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