Einundzwanzigstes Kapitel

[136] So wie man mitunter in der Ansetzung der Begriffe getäuscht wird, so kann es auch bei der Annahme von Sätzen geschehen; z.B. wenn eine und dieselbe Bestimmung mehreren Dingen unmittelbar zukommt und man bei einem dies nicht bemerkt und meint, dass sie in keinem solchen Dinge enthalten sei, während man von den anderen Dingen es weiss. So soll A in B und in C unmittelbar enthalten sein und diese beiden sollen in dem ganzen D enthalten sein; wenn man nun glaubt, dass A in allen B enthalten sei und dass dieses in D enthalten, und wenn man weiter glaubt, dass A in keinem C enthalten sei und dass C in dem ganzen D enthalten sei, so wird man über das Enthaltensein derselben Bestimmung A in demselben Gegenstande C ein Wissen und ein Nicht-Wissen haben.[136]

Eben dahin gehört der Fall, wenn Jemand sich über die Sätze innerhalb derselben Reihenfolge irrte; wenn z.B. A in B enthalten ist, und dieses in C und das C in D und man meinte, A sei zwar in dem ganzen B, aber in keinem C enthalten; denn dann wird man zu gleicher Zeit wissen, dass A in C enthalten, und annehmen, dass es nicht darin enthalten. Wäre dergleichen wohl etwas Anderes, als zu fordern, dass man das, was man weiss, nicht annehmen solle? Denn man weiss doch gewissermaassen, dass A in dem C vermittelst des B enthalten ist, da in dem Allgemeinen der Theil enthalten ist; also würde gefordert, dass man das, was man gewissermaassen weiss, nicht annehmen soll, was doch unmöglich ist. Was den vorher erwähnten Fall anlangt, so geht es, wenn der Mittelbegriff nicht aus derselben Schlussreihe genommen wird, nicht an, die Vordersätze beider Schlüsse in Bezug auf beide Mittelbegriffe für wahr anzunehmen, also dass z.B. anzunehmen, dass A in dem ganzen B und in keinem C enthalten und dass so diese beiden in dem ganzen D; denn dann wurde in dem einen Obersatz das Gegentheil des anderen entweder allgemein oder theilweise gesetzt werden. Denn wenn man annimmt, dass dem Ganzen, dem B einwohnt, A einwohne und man weiss, dass B in dem D enthalten, so weiss man auch, dass A im D enthalten ist, und wenn man weiter meint, A sei in keinem von dem enthalten, dem C einwohnt, so glaubt man auch, dass in dem, bei welchem B in einigen enthalten ist, A nicht enthalten sei. Aber das Glauben, dass Etwas in dem, welchen B zukommt, ganz enthalten sei, und wieder das Glauben, dass es in einigen dessen, welchen B zukommt, nicht enthalten sei, sind Gegensätze und zwar entweder gänzlich oder theilweise.

So darf man also die Voraussetzungen nicht nehmen; aber wohl kann man in einem Vordersätze der beiden Schlüsse denselben Mittelbegriff ansetzen, oder in den Vordersätzen der beiden Schlüsse verschiedene Mittelbegriffe ansetzen; so kann man z.B. setzen, dass A in dem ganzen B und B in D enthalten sei und daneben dass A in keinem C enthalten sei. Denn ein solcher Irrthum gleicht dem Irrthum über Einzelnes. Wenn z.B. A in dem ganzen B und B in dem ganzen C enthalten, so wird[137] A in dem ganzen C enthalten sein. Wenn man nun weiss, dass A in allen von dem enthalten, in dem B enthalten, so weiss man auch, dass A in dem C enthalten, allein es kann sein, dass man C nicht kennt, z.B. wenn A zwei rechte Winkel bezeichnet und B das Dreieck und C ein einzelnes, sinnlich wahrnehmbares Dreieck. Hier könnte man wohl meinen, dass C kein Dreieck sei, obgleich man weiss, dass jedes Dreieck zwei rechte Winkel enthält und man würde dann dasselbe zugleich wissen und nicht wissen. Denn das Wissen, dass jedes Dreieck zwei rechte Winkel enthält, ist kein einfaches Wissen, sondern besteht darin, dass man sowohl das Wissen des Allgemeinen hat als auch das Wissen des darunter enthaltenen Einzelnen. Wenn man daher zwar von dem C in seinem allgemeinen Begriffe weiss, dass es zwei rechte Winkel enthält, aber den einzelnen Fall nicht erkennt, so wird man nicht das Entgegengesetzte zugleich wissen.

Aehnlich verhält es sich mit dem Beweis in Plato's Menon, wonach das Lernen ein Wiedererinnern sei. Denn es wird dort keineswegs gefolgert, dass man das Einzelne schon früher gewusst habe; sondern dass man bei Vorführung des Einzelnen es gleichsam als in dem Allgemeinen enthalten wiedererkenne; denn Manches wisse man sofort, wie z.B. dass die Gestalt zusammen zwei rechte Winkel enthalte, wenn man wisse, dass sie ein Dreieck sei. Ebenso verhält es sich auch in andern Fällen.

Durch das Wissen des Allgemeinen weiss man also das Besondere, aber nicht durch ein, diesem Besonderen eigenthümliches Wissen. Deshalb kann man auch darüber sich irren, aber nicht so, dass man Entgegengesetztes zugleich weiss, sondern dass man das Wissen des Allgemeinen hat und sich in dem Besonderen irrt. Ebenso ist es nun in den vorhin besprochenen Fällen; auch hier ist der Irrthum in Bezug auf den Mittelbegriff kein Gegensatz von dem Wissen des Schlusses; und auch die Annahme je eines der Mittelbegriffe enthält keinen widersprechenden Gegensatz. Denn es kann sein, dass man weiss, A sei in dem ganzen B und dieses wieder in dem ganzen C enthalten und dass man doch glaubt, A sei nicht in C enthalten. So kann man wissen, dass alle Mauleselinnen keine Jungen gebären und doch glauben, dass diese Mauleselin gebäre; denn man weiss nicht, dass[138] A in dem C enthalten ist, weil man den in beiden Sätzen enthaltenen Mittelbegriff nicht mit in Betracht nimmt. Also ist klar, dass man sich täuschen wird, wenn man den einen Satz weiss und den andern nicht, nämlich nicht, wie das Wissen des Allgemeinen sich zu dem Wissen des Besondern verhält. Denn von den sinnlichen Dingen, die nicht in die Wahrnehmung fallen, wissen wir nichts; ja selbst dann, wenn man sie wahrnehmen sollte, weiss man nur, dass man das Allgemeine und auch das Besondere weiss, aber man weiss es nicht durch ein gleichsam thätiges Wissen. Denn das Wissen wird in einem dreifachen Sinne gebraucht; entweder als ein Wissen des Allgemeinen, oder als ein Wissen des Besondern, oder als ein thätiges Wissen; deshalb hat auch das Irren diesen dreifachen Sinn. Deshalb kann das Wissen und das Irren bei Ein und Demselben stattfinden, nur nicht in entgegengesetzter Weise. Dies ist dann der Fall, wenn man jeden der beiden Vordersätze weiss, aber sie nicht vorher näher in Betracht gezogen hat; denn wer annimmt, dass eine Mauleselin gebäre, hat nicht das thätige Wissen und deshalb liegt in seiner Annahme kein Irrthum, welcher seinem Wissen entgegengesetzt ist; denn nur wenn er seinen Irrthum erschlossen hätte, wäre dieser dem Allgemeinen entgegengesetzt.

Man könnte wohl einwenden, dass, wer annimmt, das Gut-sein sei das Schlecht-sein, auch annähme, dass beides dasselbe sei. Denn A soll das Gut-sein bedeuten, B das Schlecht-sein und C wieder das Gut-sein. Wenn jemand nun B und C für dasselbe hält, so wird er auch annehmen, dass C das B ist und ebenso, dass B das A ist, also auch C das A. Denn so wie, wenn es wahr ist, dass B von dem C und A von dem B gelte, auch wahr sei, dass A von dem C gelte, so wird dies auch gelten, wenn diese Sätze blos angenommen werden; und ebenso wird dies auch für das Sein gelten; denn wenn C und B dasselbe sind und ebenso B und A, so ist auch C und A dasselbe; folglich gelte dies auch für das blosse Meinen.

Dieser Einwand wäre indess nur begründet und folgte nur dann aus dem Vorstehenden mit Nothwendigkeit, wenn man den ersten Satz zugeben müsste; allein hier dürfte das Falsche liegen, nämlich dass jemand annähme, das Schlecht-sein sei das Gut-sein, ausgenommen[139] wenn dies nur beziehungsweise behauptet wird, da man solchen Ausspruch in vielerlei Sein auffassen kann. Indess bedarf dies einer genauem Untersuchung.

Quelle:
Aristoteles: Erste Analytiken oder: Lehre vom Schluss. Leipzig [o.J.], S. 136-140.
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