Vierunddreissigstes Kapitel

[64] Aus wie vielen und welchen Umständen bei den Disputationen die Fehlschlüsse entstehen, und wie man das Falsche aufdeckt und bewirkt, dass der Gegner Unglaubwürdiges behauptet; ferner, aus welchen Fragen der Schluss sich ergiebt, und wie man zu fragen hat und welche Ordnung man hierbei zu befolgen hat, endlich wozu alle dergleichen Begründungen nützlich sind und wie überhaupt die Antworten einzurichten sind und wie man die Begründungen und die Schlüsse aufzulösen hat, über dieses Alles mag das Bisherige hierauf gesagt sein. Denen, welche sich dessen erinnern, was ich im Anfange mir vorgesetzt, habe ich jetzt nur noch Einiges hierüber zu sagen und dann meine Untersuchung abzuschliessen.

Meine Absicht ist gewesen, die Mittel aufzufinden, durch welche man über einen aufgestellten Streitsatz aus den möglichst wahrscheinlichen Annahmen Schlüsse aufzustellen vermag; dies ist zwar das Geschäft der Dialektik an sich, und der auf die Probe stellenden dialektischen Kunst. Da aber wegen deren Verwandtschaft mit den sophistischen Begründungen dazu auch gehört, dass man einen Andern nicht blos dialektisch auf die Probe zu stellen vermag, sondern auch, dass man als ein Wissender[64] sich zu benehmen vermag, so habe ich nicht blos die genannte Thätigkeit zum Gegenstand meiner Untersuchung genommen, nämlich die Fähigkeit zur Führung der Rede als Fragender, sondern auch das Geschick, mit gleichen Mitteln die Rede als Antwortender aufzunehmen und den aufgestellten Satz zu vertheidigen. Den Grund dafür habe ich schon angegeben, da ja auch Sokrates auf diese Weise zwar Fragen stellte, aber nicht als Antwortender auftrat, weil er eingestand, dass er nichts wisse. Deshalb habe ich in dem Vorgehenden auch dargelegt, für wie Vieles und aus wie Vielem dieses Antworten geschehen und woher man das Nöthige dazu in Genüge entnehmen kann. Ferner habe ich dargelegt, wie man zu fragen und in welcher Ordnung man die Fragen zu stellen hat und wie man zu antworten und die Schlüsse des Fragenden aufzulösen hat. Ebenso habe ich über das, was sonst auch zu derselben Untersuchung der Begründungen gehört, Aufschluss gegeben. Ausserdem bin ich auch die Fehlschlüsse durchgegangen, wie ich schon vorher bemerkt habe.

Dass somit der genügende Abschluss für das, was ich mir vorgesetzt, erreicht worden, ist klar; doch dürfen wir nicht das übersehen, was in Bezug auf die Ausbildung dieser Lehre bisher geschehen ist. Alles, was die Wissenschaften überhaupt aufgefunden haben, ist theils schon von Anderen früher aufgefunden und dann von den Nachfolgern übernommen und theilweise vermehrt worden, theils ist es erst neuerlich aufgefunden. Das im Anfange Aufgefundene pflegt im ersten Fortgang nur wenig zuzunehmen, denn »der Anfang ist wohl vor Allem das Grösste«, wie man sagt, und deshalb auch das Schwerste. Je mehr er an Vermögen das Kräftigste ist, um so kleiner ist er an Umfang und daher am schwersten zu erkennen. Ist aber der Anfang gefunden, so ist das Hinzufügen des Uebrigen und das Vermehren leicht, wie dies ja auch bei der Lehre über die Redekunst und so ziemlich auch bei den übrigen Künsten allen Statt gehabt hat. Die, welche die Anfänge auffanden, brachten diese im Allgemeinen nur wenig weiter; aber die jetzt in diesen Künsten hochgeachteten Männer haben dieselben gleichsam durch Ueberlieferung von Vielen übernommen, welche sie stückweise weiter geführt hatten, und so haben auch sie selbst dieselben[65] vermehrt; Tisias trat ein nach den Ersten; dann Thrasymachos nach Tisias, dann Theodoros nach diesem, und so haben Viele viele Stücke zusammengetragen. Man braucht sich deshalb nicht zu wundern, wenn jetzt eine solche Kunst einen reichen Inhalt hat. Vor der hier geschehenen Untersuchung war aber nicht etwa schon Manches vorgearbeitet und Anderes nicht, sondern es war durchaus nichts vorhanden; denn auch der Unterricht, welchen die um Lohn Lehrenden über die streitsüchtigen Begründungen ertheilten, glich dem, wie Georgias die Sache behandelte. Sie liessen die bei den Rednern und bei den Sophisten vorkommenden Wendungen auswendig lernen, auf welche nach ihrer Meinung sowohl die Redner, wie die Sophisten bei ihren Erörterungen meistentheils gerathen waren. Der Unterricht der bei ihnen lernenden Schüler war daher schnell, aber unwissenschaftlich, denn sie unternahmen nicht einen Unterricht in der Kunst selbst, sondern in dem mittelst der Kunst bereits Ausgeführten. Es war ebenso, als wenn jemand verkündete, dass er eine Kunst lehren wolle, welche jeden Schmerz an den Füssen beseitige, dann aber nicht die Schuhmacherkunst lehrte, noch die Mittel, wodurch man dies erreichen könnte, sondern nur viele Arten des mannigfachen Schuhwerkes vorlegte. Ein solcher hat wohl für den Bedarf Abhilfe gebracht, aber die Kunst hat er nicht gelehrt. Bei der Redekunst war wohl Vieles und Altes, was darüber gesagt worden war, vorhanden, aber über die Kunst zu schliessen wusste man durchaus nichts zu sagen, sondern man musste sie durch gewohnheitsmässige Uebung zu gewinnen suchen und lange Zeit sich damit abmühen. Wenn Ihr nun bei näherer Betrachtung meint, dass meine Darstellung, für welche nur solche Anfänge vorlagen, sich so ziemlich neben die Bearbeitungen jener Wissenschaften stellen kann, welche durch Ueberlieferung von Einem zu dem Anderen gewachsen sind, so bleibt für Euch und für die, welche meine Lehre gehört haben, nur übrig, dass wegen des in der Darstellung Uebergangenen Nachsicht geübt, für das aber, was ich aufgefunden habe, mir viel Dank bewahrt bleibe.


Ende.[66]

Quelle:
Aristoteles: Sophistische Widerlegungen. Heidelberg 1883.
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