XV. Ihre Aufgabe ist unlösbar

Bestimmung der Aufgabe der Geschichtswissenschaft im Zusammenhang der Geisteswissenschaften

[93] Es besteht ein unlösbarer Widerspruch zwischen der Aufgabe welche diese beiden Wissenschaften sich gestellt haben, und den Hilfsmitteln, welche ihnen zur Lösung derselben zur Verfügung stehen.

Unter Philosophie der Geschichte verstehe ich eine Theorie, welche den Zusammenhang der geschichtlichen Wirklichkeit durch einen entsprechenden Zusammenhang zu einer Einheit verbundener Sätze zu erkennen unternimmt. Dieses Merkmal der Einheit des Gedankens ist von einer Theorie unabtrennbar, welche eben in der Erkenntnis vom Zusammenhang des Ganzen ihre unterscheidende Aufgabe hat. Daher hat die Philosophie der Geschichte bald in einem Plan des geschichtlichen Verlaufs diese Einheit gefunden, bald in einem Grundgedanken (einer Idee), bald in einer Formel oder einer Verbindung von Formeln, welche das Gesetz der Entwicklung ausdrücken. Die Soziologie (ich spreche hier nur von der französischen Schule derselben) steigert noch diesen Anspruch der Erkenntnis, indem sie vermöge der Erfassung dieses Zusammenhangs eine wissenschaftliche Leitung der Gesellschaft herbeizuführen hofft.

Nun ging uns aus der Vertiefung in den Zusammenhang der Einzelwissenschaften des Geistes die folgende Einsicht hervor. In diesen Wissenschaften hat die Weisheit vieler Jahrhunderte eine Zerlegung des Gesamtproblems der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit in Einzelprobleme vollbracht; in denselben sind diese Einzelprobleme einer streng wissenschaftlichen Behandlung unterworfen worden; der in ihnen durch diese beharrliche Arbeit geschaffene Kern von wirklicher Erkenntnis ist in langsamem, aber beständigem Wachstum begriffen. – Wohl ist notwendig, daß diese Wissenschaften sich des Verhältnisses ihrer Wahrheiten zu der Wirklichkeit, von welcher sie doch nur Teilinhalte darstellen, folgerecht der Beziehungen, in welchen sie zu den aus derselben Wirklichkeit durch Abstraktion ausgesonderten anderen Wissenschaften stehen, bewußt werden; gerade dies ist das Bedürfnis, daß aus der Natur der Aufgabe, welche diese Wirklichkeit dem menschlichen Wissen und Erkennen stellt, die Kunstgriffe, vermöge deren dasselbe sich in sie eingräbt, sie zerspaltet, zersetzt, verstanden werden; was das Erkennen mit seinen Werkzeugen bewältigen kann, was als unzersetzbare Tatsache widersteht und zurückbleibt, das muß sich hier zeigen: kurz, einer Erkenntnistheorie der[93] Geisteswissenschaften, oder tiefer: der Selbstbesinnung bedarf es, welche den Begriffen und Sätzen derselben ihr Verhältnis zur Wirklichkeit, ihre Evidenz, ihr Verhältnis zueinander sichert. Sie vollendet erst die echt wissenschaftliche Richtung dieser positiven Arbeiten auf klarbegrenzte und in sich sichere Wahrheiten. Sie legt erst die Grundlagen für das Zusammenwirken der Einzelwissenschaften in der Richtung auf die Erkenntnis des Ganzen. – Aber wie solchergestalt diese Einzelwissenschaften, bewußter in sich geworden durch eine solche Erkenntnistheorie, ihres Wertes und ihrer Grenzen sicher. Ihre Beziehungen in ihre Rechnung aufnehmend, nach allen Seiten voranschreiten: so sind sie die einzigen Hilfsmittel der Erklärung der Geschichte, und es hat keinen vorstellbaren Sinn, außerhalb ihrer eine Lösung des Problems vom Zusammenhang der Geschichte sich vorzustellen. Denn diesen Zusammenhang erkennen, heißt ihn, ein unermeßlich Zusammengesetztes, in seine Bestandteile auflösen, an dem Einfacheren Gleichförmigkeiten aufsuchen, vermöge ihrer dann dem Verwickelteren sich nähern. Daher findet die Anwendung der bisher dargestellten Einzelwissenschaften zur Erklärung des Zusammenhangs der Geschichte in der fortschreitenden Geschichtswissenschaft selber in immer höherem Grade statt. Das Verständnis jedes Teils von Geschichte fordert die Anwendung der vereinten Hilfsmittel verschiedener Einzelwissenschaften des Geistes, von der Anthropologie aufwärts. Wenn Ranke einmal ausspricht, er möchte sein Selbst auslöschen, um die Dinge zu sehen, wie sie gewesen sind, so drückt dies das tiefe Verlangen des wahren Geschichtschreibers nach der objektiven Wirklichkeit sehr schön und kräftig aus. Aber dies Verlangen muß sich mit der wissenschaftlichen Erkenntnis der psychischen Einheiten, aus denen diese Wirklichkeit besteht, der dauernden Gestaltungen, die in der Wechselwirkung derselben sich entwickeln und Träger des geschichtlichen Fortschritts sind, ausrüsten: sonst wird es diese Wirklichkeit nicht erobern, die nun einmal in bloßem Blicken, Gewahren nicht ergriffen wird, sondern nur durch Analysis, Zerlegung. Gibt es etwas, was als Wahrheitskern hinter der Hoffnung einer Philosophie der Geschichte verborgen ist, dann ist es dieses: geschichtliche Forschung auf dem Grunde einer möglichst umfassenden Beherrschung der Einzelwissenschaften des Geistes. Wie Physik und Chemie die Hilfsmittel des Studiums des organischen Lebens sind, so Anthropologie, Rechtswissenschaft, Staatswissenschaften die Hilfsmittel des Studiums des Verlaufs der Geschichte.

Dieser klare Zusammenhang kann methodisch so ausgedrückt werden: Die höchst zusammengesetzte Wirklichkeit der Geschichte kann mir vermittels der Wissenschaften erkannt werden, welche die Gleichförmigkeiten[94] der einfacheren Tatsachen erforschen, in die wir diese Wirklichkeit zerlegen können. Und so beantworten wir die oben gestellte Frage zunächst dahin: Die Erkenntnis des Ganzen der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit, welcher wir uns als dem allgemeinsten und letzten Problem der Geisteswissenschaften entgegengetrieben fanden, verwirklicht sich sukzessive in einem auf erkenntnistheoretischer Selbstbesinnung beruhenden Zusammenhang von Wahrheiten, in welchem auf die Theorie des Menschen die Einzeltheorien der gesellschaftlichen Wirklichkeit sich aufbauen, diese aber in einer wahren fortschreitenden Geschichtswissenschaft angewandt werden, um immer mehreres von der tatsächlichen, in der Wechselwirkung der Individuen verbundenen geschichtlichen Wirklichkeit zu erklären. In diesem Zusammenhang von Wahrheiten wird die Beziehung zwischen Tatsache, Gesetz und Regel vermittels der Selbstbesinnung erkannt. In ihm ergibt sich auch, wie weit wir noch von jeder absehbaren Möglichkeit einer allgemeinen Theorie des geschichtlichen Verlaufs entfernt sind, in welchem bescheidenen Sinn überhaupt von einer solchen die Rede sein kann. Universalgeschichte, sofern sie nicht etwas Übermenschliches ist, würde den Abschluß dieses Ganzen der Geisteswissenschaften bilden.36

Ein solches Verfahren vermag freilich nicht den geschichtlichen Verlauf auf die Einheit einer Formel oder eines Prinzips zurückzuführen, sowenig als die Physiologie das Leben. Die Wissenschaft kann sich der Auffindung einfacher Erklärungsprinzipien durch die Analysis und die Handhabung der Mehrheit von Erklärungsgründen nur nahem. Die Philosophie der Geschichte müßte sonach ihre Ansprüche aufgeben, wollte sie des Verfahrens, an welches schlechterdings alle wirkliche Erkenntnis des geschichtlichen Verlaufs gebunden ist, sich bedienen. So, wie sie ist, quält sie sich an der Quadratur des Zirkels ab. Daher denn auch für den Logiker ihr Kunstgriff durchsichtig genug ist. – Ich kann, wenn ich mich an die Erscheinung eines Zusammenhanges von Wirklichkeit halte, die meiner Anschauung sich darbietenden Züge in einer sie zusammenhaltenden Abstraktion verknüpfen, in welcher, als in einer Art von Allgemeinvorstellung, das Bildungsgesetz dieses Zusammenhangs enthalten ist. Irgendeine wenn auch noch so schwankende und verworrene Allgemeinvorstellung der geschichtlichen Wirklichkeit entsteht in jedem, der sich mit ihr beschäftigt hat und nun den Zusammenhang dieser Wirklichkeit in einem geistigen Bilde vereinigt. Solche Abstraktionen gehen auf allen Gebieten der Arbeit der Analysis voran. Eine Wesenheit dieser Art[95] war die geheimnisvolle vollkommene Kreisbewegung, welche die alte Astronomie zugrunde legte, sowie die Lebenskraft, in welcher die Biologie vergangener Tage die Ursache der Haupteigenschaften des organischen Lebens ausdrückte. Und jede Formel, welche Hegel, Schleiermacher oder Comte aufgestellt haben, das Gesetz der Geschichte auszudrücken, gehört diesem natürlichen Denken an, das überall der Analysis vorausgeht und eben – Metaphysik ist. Diese anspruchsvollen Allgemeinbegriffe der Philosophie der Geschichte sind nichts als die notiones universales, welche Spinoza so meisterhaft in ihrem natürlichen Ursprung und ihrer verhängnisvollen Wirkung auf das wissenschaftliche Denken geschildert hat.37 – Natürlich heben diese Abstraktionen, welche den Verlauf der Geschichte ausdrücken, aus diesem, der mit dem Bewußtsein unermeßlichen Reichtums die Seele bewegt, stets nur eine Seite heraus, und so sondert jede Philosophie eine etwas andere Abstraktion aus diesem Gewaltigen, Wirklichen aus.38 Wollte man aus des Aristoteles Stufenfolge von Naturkräften bis zum Menschen ein Prinzip der Philosophie der Geschichte ableiten, so würde es von dem Comtes in Rücksicht seines eigentlichen Gehaltes sich etwa so unterscheiden, wie der Blick auf dieselbe Stadt von verschiedenen Höhen aus, ebenso dieses von der Humanität Herders,39 dem Hindurchdringen der Vernunft durch die Natur bei Schleiermacher, oder Hegels Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit. – Und wie zu weite Definitionen als Sätze wahr sind und nur als Definitionen falsch, so pflegt auch das, was in dem faltigen Gewand dieser Formeln sich birgt, nicht unrichtig zu sein, nur ein ärmlicher und unzureichender Ausdruck der machtvollen Wirklichkeit, deren Gehalt auszudrücken es beansprucht.

Da nun Philosophie der Geschichte in ihrer Formel die ganze Wesenheit des Weltlaufs auszudrücken beansprucht, so will sie in derselben zugleich mit dem Kausalzusammenhang auch den Sinn des geschichtlichen Verlaufs, d.h. seinen Wert und sein Ziel aussprechen, sofern sie einen solchen neben dem Kausalzusammenhang anerkennt. Die Enden unseres Bewußtseins, Wissen von Wirklichkeit und Bewußtsein von Wert und Regel, sind in ihrer Allgemeinvorstellung in eins gebunden: sei es nun, daß nach ihr in dem metaphysischen Weltgrunde diese Einheit angelegt ist, als eine Verwirklichung[96] des Weltzweckes vermöge des Systems der wirkenden Ursachen, oder daß die Zwecke, welche der Mensch sich setzt, die Werte, die er den Tatsachen der Wirklichkeit gibt, mit Spinoza und den Naturalisten als eine ephemere Form inneren Lebens in gewissen Erzeugnissen der Natur angesehen werden, welche nicht in deren blinde Macht zurückreichen. Sei also Geschichtsphilosophie teleologisch oder naturalistisch: ihr weiteres Merkmal ist, daß in ihrer Formel des Weltlaufs auch der Sinn, Zweck, Wert, welchen sie in der Welt verwirklicht sieht, vertreten ist. Negativ ausgedrückt, sie begnügt sich nicht mit der Erforschung des zugänglichen Kausalzusammenhangs, indem sie das Gefühl vom Werte des Weltlaufs, wie es in unserem Bewußtsein als Tatsache auftritt, walten läßt, ohne es weder zu verstümmeln, noch vorwitzig in die Forschung zu mischen. Das tut der wahre Einzelforscher. Sie geht auch nicht von den Werten und Regeln zurück zu dem Punkte im Selbstbewußtsein, an welchem diese mit dem Vorstellen und Denken verknüpft sind. Das tut der kritische Denker. Sonst würde sie erkennen, daß Wert und Regel nur in der Beziehung auf unser System der Energien da sind und daß sie ohne Beziehung auf ein solches System keinen vorstellbaren Sinn mehr haben. Ein Arrangement der Wirklichkeit kann nie an sich, sondern immer nur in seiner Beziehung zu einem System von Energien Wert haben. Hieraus ergibt sich weiter: naturgemäß finden wir, was im System unserer Energien als Wert empfunden, als Regel dem Willen vorgestellt wird, im geschichtlichen Weltlauf als den wert- und sinnvollen Gehalt desselben wieder; jede Formel, in der wir den Sinn der Geschichte ausdrücken, ist nur ein Reflex unseres eigenen belebten Inneren; selbst die Macht, welche der Begriff von Fortschritt hat, liegt weniger in dem Gedanken eines Zieles, als in der Selbsterfahrung unseres ringenden Willens, unserer Lebensarbeit und des frohen Bewußtseins von Energie in ihr: welche Selbsterfahrung sich in dem Bilde eines allgemeinen Fortschreitens auch dann projizieren würde, wenn in der Wirklichkeit des geschichtlichen Weltlaufs ein solcher Fortschritt sich keineswegs ganz klar aufzeigen ließe. So beruht auf diesem Tatbestand das unvertilgbare Gefühl von dem Wert und Sinn des geschichtlichen Weltlebens. Und ein Schriftsteller wie Herder ist mit seiner Allgemeinvorstellung der Humanität niemals über das verworrene Bewußtsein dieses Reichtums des Menschendaseins, dieser Fülle seiner freudigen Entfaltungen hinausgegangen. Hieraus aber würde Philosophie der Geschichte, noch weiter in der Selbstbesinnung fortschreitend, haben folgern müssen: aus einer unermeßlichen Mannigfaltigkeit einzelner Werte baut sich der Sinn der geschichtlichen Wirklichkeit auf, wie aus derselben Mannigfaltigkeit von Wechselwirkungen sein Kausalzusammenhang.[97] Der Sinn der Geschichte ist also ein außerordentlich Zusammengesetztes. So hätte auch hier wieder dieselbe Aufgabe sich ergeben, Selbstbesinnung, welche im Gemütsleben den Ursprung von Wert und Regel und ihre Beziehung zu Sein und Wirklichkeit erforscht, und allmähliche, langsame Analysis, welche diese Seite des verwickelten geschichtlichen Ganzen zerlegt. Denn was dem Menschen wertvoll sei und welche Regeln das Tun der Gesellschaft leiten sollen, das kann nur mit Hilfe der geschichtlichen Forschung mit irgendeiner Aussicht auf allgemeingültige Fassung untersucht werden. Und so stehen wir wieder vor demselben Grundverhältnis: die Philosophie der Geschichte, anstatt sich der Methoden der geschichtlichen Analysis und der Selbstbesinnung zu bedienen (welche ihrer Natur nach ebenfalls analytisch ist), verbleibt in Allgemeinvorstellungen, welche entweder den Totaleindruck des geschichtlichen Weltlaufs in einer Abbreviatur wie eine Wesenheit hinstellen oder dieses zusammengezogene Bild von einem allgemeinen metaphysischen Prinzip aus entwerfen.

Mit so einfacher Deutlichkeit als von keinem anderen Bestandteil der Metaphysik kann nun von dieser Philosophie der Geschichte gezeigt werden, daß in dem religiösen Erlebnis ihre Wurzeln liegen, und daß sie, von diesem Zusammenhang losgelöst, vertrocknet und verwest. Der Gedanke eines einheitlichen Plans der Menschengeschichte, einer Erziehungsidee Gottes in ihr ist von der Theologie geschaffen worden. Ihr waren in Beginn und Ende aller Geschichte feste Punkte für eine solche Konstruktion gegeben: so entstand eine wirklich auflösbare Aufgabe, zwischen Sündenfall und letztem Gericht die verbindenden Fäden durch den geschichtlichen Weltlauf zu ziehen. – In der mächtigen Schrift de civitate dei hat Augustinus aus der metaphysischen Welt den Geschichtsverlauf auf dieser Erde entspringen lassen und ihn dann wieder in diese metaphysische Welt aufgelöst. Denn nach ihm hebt schon in den Regionen der Geisterwelt der Kampf zwischen dem himmlischen und dem irdischen Staate an; Dämonen treten den Engeln gegenüber; Kain als der civis hujus seculi dem Abel als dem peregrinus in seculo; die Weltmonarchie Babylon und Rom, welches es in der Weltherrschaft ablöst, das zweite Babylon treten dem Gottesstaat gegenüber, der im jüdischen Volke sich entwickelt, im Erscheinen Christi den Mittelpunkt seiner Geschichte hat und seitdem als eine Art von metaphysischer Wesenheit, ein mystischer Körper, auf dieser Erde sich entwickelt. Bis dann das Ringen der Dämonen und der sie anbetenden irdischen civitas mit dem Gottesstaate auf dieser Erde im Weltgericht endet und alles in die metaphysische Welt wiederum zurückkehrt. – Diese Philosophie der Geschichte[98] bildet den Mittelpunkt der mittelalterlichen Metaphysik des Geistes. Sie empfing durch die Theorie von den geistigen Substanzen, welche die allgemeine Metaphysik des Mittelalters entwickelt hat, eine Grundlage von strengerer metaphysischer Haltung; in der Ausgestaltung der Papstkirche und ihrem Kampf mit dem Kaisertum erhielt sie eine gewaltige Aktualität und einleuchtende Gegenwärtigkeit; in der kanonistischen Theorie von der rechtlichen Natur dieses mystischen Körpers gelangte sie zu den einschneidendsten Folgerungen für die Auffassung der äußeren Organisation der Gesellschaft. Die harten Realitäten, mit denen sie operiert, gestatten, solange sie in Geltung bleiben, keinem der Zweifel Eingang, die sonst jeden Versuch, den Sinn der Geschichte in einem formelhaften Zusammenhang auszudrücken, belasten. Niemand kann fragen, warum das mühsame Aufwärtsklimmen der Menschheit notwendig war, da der Sündenfall vor seinen Augen liegt. Niemand kann fragen, warum der Segen der Geschichte nur einer Minderheit zugute komme, da der Ratschluß Gottes und der böse Wille die Antwort in der einen oder anderen Wendung in sich schließen. Auch kann der Zusammenhang dieser Geschichte, vermöge deren der Weltlauf einen einheitlichen Sinn hat und die Menschheit eine reale Einheit ist, von niemandem in Frage gestellt werden: da nach der massiven Vorstellung des Traditionalismus (verstärkt durch die Auffassung der Zeugung als eines Aktes der bösen Lust) das verderbte Blut Adams jedes Element dieses Ganzen durchströmt und mit seiner dunkeln Farbe fingiert und da andererseits in dem mystischen Körper der Kirche von oben her eine ebensolche reale Leitung der Gnade stattfindet. – Die Literatur, welche in den Grundlinien, die Augustin gezogen, verharrt, erstreckt sich bis auf Bossuets Discours sur l'histoire universelle, und indem der Bischof von Meaux eine strengere Vorstellung von Kausalzusammenhang sowie einen Begriff von nationalem Gesamtgeist einfügt, bildet er das Zwischenglied zwischen dieser theologischen Philosophie der Geschichte und den Versuchen des 18. Jahrhunderts. Turgots Plan einer Universalgeschichte entfaltete sich an dem Gedanken, die von Bossuet behandelte Aufgabe rational zu lösen: er hat die Philosophie der Geschichte säkularisiert. Vicos principj di scienza nuova lassen die äußeren Umrisse der theologischen Philosophie der Geschichte stehen: innerhalb dieses ungeheuren Gebäudes hat seine positive Arbeit, wirkliche historische Forschung in philosophischer Absicht, sich in der alten Völkergeschichte angesiedelt und das Problem der Entwicklungsgeschichte der Völker, der allen Völkern gemeinsamen Epochen dieser Entwicklungsgeschichte verfolgt.

Der Gedanke eines einheitlichen Planes in dem geschichtlichen[99] Weltlauf wandelt sich, indem er im 18. Jahrhundert von den festen Prämissen des theologischen Systems losgelöst festgehalten wird: aus seiner massiven Realität wird ein metaphysisches Schattenspiel. Aus dem Dunkel eines unbekannten Anfangs treten nunmehr die rätselhaft verwickelten Vorgänge des geschichtlichen Weltlaufs hervor, um sich in dasselbe Dunkel nach vorwärts zu verlieren. Wozu dies mühsame Emporklimmen der Menschheit? Wozu das Weltelend? Wozu die Beschränkung des Fortschreitens auf eine Minderzahl ? Vom Standpunkt des Augustin alles wohl zu begreifen, auf dem Standpunkt des 18. Jahrhunderts Rätsel, für deren Auflösung jeder klare Anhaltspunkt fehlt. Daher ist jeder Versuch des 18. Jahrhunderts, den Plan und Sinn in der Menschengeschichte aufzuzeigen, nur Transformation des alten Systems: Lessings Erziehung des Menschengeschlechtes, Hegels Selbstentwicklung Gottes, Comtes Umwandlung der hierarchischen Organisation sind nichts anderes. Da der mystische Körper, welcher im Mittelalter den Zusammenhang der Weltgeschichte in sich schloß, sich in der Denkart des 18. Jahrhunderts in Individuen auflöst: muß ein Ersatz gefunden werden in einer Vorstellung, welche diese Einheit der Menschheit aufrechterhält. Zwei Wendungen treten ein, welche beide zu diesem Zweck die Metaphysik zu Hilfe rufen und beide jede wirklich wissenschaftliche Behandlung des Problems ausschließen.

Die eine derselben substituiert metaphysische Wesenheiten, wie die allgemeine Vernunft, der Weltgeist solche sind, und betrachtet die Geschichte als Entwicklung von diesen. Gewiß macht sich auch hier wieder geltend, daß solche Formeln eine Wahrheit bergen. Die Verbindung des Individuums mit der Menschheit ist Realität. Ist doch eben dies das tiefste psychologische Problem, das Geschichte uns aufgibt, wie das Mittel des Fortschreitens in ihr in letzter Instanz die aufopfernde Hingebung des Individuums ist, an Personen, die es liebt, an den Zweckzusammenhang eines Systems der Kultur, welchem sein innerer Beruf eingeordnet ist, an das Gesamtleben der Verbände, als deren Glied es sich fühlt, ja an eine ihm unbekannte Zukunft, der seine Arbeit dient: Sittlichkeit also; denn diese hat eben kein anderes Merkmal als Selbstaufopferung. Aber die Formeln vom Zusammenhang des einzelnen mit dem geschichtlichen Ganzen, wahr in dem, was sie vom persönlichen Gefühle dieses Zusammenhangs aussagen, treten in Widerspruch mit jedem gesunden Empfinden, indem sie alle Werte des Lebens in eine metaphysische Einheit, welche sich in der Geschichte entfaltet, versenken. Was ein Mensch in seiner einsamen Seele, mit dem Schicksal ringend, in der Tiefe seines Gewissens durchlebt, das ist für ihn da, nicht für den Weltprozeß und nicht für irgendeinen Organismus der menschlichen Gesellschaft. Aber dieser[100] Metaphysik ist die ergreifende Wirklichkeit des Lebens nur in einem Schattenriß sichtbar.

Auch ändert es hieran nichts, wenn, sozusagen in einer weiteren Verflüchtigung, dieser allgemeinen Vernunft die Gesellschaft als eine Einheit substituiert wird. Das Band, das sie zur Einheit macht, aus dem Erlebnis in eine Formel umgewandelt, ist ein metaphysisches. Es war daher nicht eine willkürliche Wendung im Geiste Comtes, die aus den Begebenheiten seines Lebens oder gar aus dem Verfall seiner Intelligenz hervorgegangen wäre, sondern ein Schicksal, das in dem ursprünglichen Widerspruch zwischen seiner Formel des einheitlichen Zusammenhangs in der Geschichte sowie der in ihr gegründeten Tendenz auf Organisation der Gesellschaft vermittels einer geistigen Macht und seiner positiven Methode gelegen war, wenn er von seiner philosophie positive und ihrer Methode zu einer Art von Religion als Grundlage der künftigen Gesellschaft fortschritt. Der Zwiespalt seiner Anhänger, der hierüber entstand, verdeutlicht nur diesen Widerspruch eines Systems, welches aus den Gesetzen des Naturzusammenhangs den Imperativ für die Gesellschaft abzuleiten unternahm.

Der deutsche Individualismus war gezwungen, eine andere Wendung des Gedankens zu versuchen: auch sie führte ihn auf Metaphysik. Die unendliche Entwicklung des Individuums, in ihrem Verhältnis zur Entwicklung des Menschengeschlechts, wurde ihm das Hilfsmittel einer Lösung des geschichtsphilosophischen Problems. Aber die Metaphysik kämpft hier schon mit dem kritischen Bewußtsein der Grenzen geschichtlichen Erkennens, und dieser Kampf zieht sich durch die ganze Gedankenarbeit dieser Richtung.

Kant selber fand in dem Plan der Vorsehung den Zusammenhang der Geschichte. Denn »das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zustande zu bringen, ist der Antagonismus derselben in der Gesellschaft« – die »ungesellige Geselligkeit«40 des Menschen. Seine Hypothese schränkt sich auf die Untersuchung ein, wie in der Geschichte das Problem der Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft aufgelöst wird. »Befremdend bleibt es aber immer hierbei: daß die älteren Generationen nur scheinen um der späteren willen ihr mühseliges Geschäft zu treiben, um nämlich diesen eine Stufe zu bereiten, von der diese das Bauwerk, welches die Natur zur Absicht hat, höher bringen könnten; und daß doch nur die spätesten das Glück haben sollen, in dem Gebäude zu wohnen, woran eine lange Reihe ihrer Vorfahren (freilich[101] ohne ihre Absicht) gearbeitet hatten, ohne doch selbst an dem Glück, das sie vorbereiteten, Anteil nehmen zu können. Allein so rätselhaft dieses auch ist, so notwendig ist es doch zugleich, wenn man einmal annimmt: eine Tiergattung soll Vernunft haben und als Klasse vernünftiger Wesen, die insgesamt sterben, deren Gattung aber unsterblich ist, dennoch zu einer Vollständigkeit der Entwicklung dieser Anlagen gelangen.«41

Lessing hatte diese Schwierigkeit durch den Gedanken der Seelenwanderung gelöst. »Wie? Wenn es nun gar so gut als ausgemacht wäre, daß das große langsame Rad, welches das Geschlecht seiner Vollkommenheit näherbringt, nur durch kleinere schnellere Räder in Bewegung gesetzt würde, deren jedes sein Einzelnes eben dahin liefert? Nicht anders! Eben die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner Vollkommenheit gelangt, muß jeder einzelne Mensch erst durchlaufen haben.«42

Herder verhält sich realistischer, kritischer als beide. Ob er gleich sein Werk als Ideen zu einer Philosophie der Geschichte bezeichnete, so hat er doch den Ausdruck, dessen sich schon Voltaire bedient, in anderem Verstande genommen und eine Formel über den Sinn der Geschichte nicht aufgestellt. Seine große und bleibende Leistung entsprang aus einer Kombination der positiven Wissenschaften in philosophischem, d.h. zusammenfassendem Geiste. Mit dem Griff des Genies verband er die Naturkunde jener Zeit mit dem Gedanken einer Universalgeschichte, wie er vor dem Geiste eines Turgot stand, von Voltaire aufgefaßt, in Deutschland aber von Schlözer in seiner merkwürdigen »Vorstellung der Universalhistorie« aufgenommen worden war. Vermöge dieser Verbindung erwuchsen aus den schon im Altertum wertgehaltenen Beobachtungen über den Zusammenhang der Naturbedingungen mit dem geschichtlichen Leben nun jene leitenden Ideen, die Ritters allgemeiner Geographie zugrunde liegen. Er verknüpfte weiter mit Betrachtungen über die aufsteigende Reihe der Organisationen bis zum Menschen, die er mit Goethe teilte und die auf die Naturphilosophie gewirkt haben, einen Schluß der Analogie auf höhere Stufen des geistigen Reiches und von diesen auf Unsterblichkeit: an diesem Schluß hat schon Kant getadelt, daß er höchstens auf die Existenz anderer höherer Wesen deuten könne. Von diesem Punkte ab jedoch ist seine Arbeit wesentlich die des Universalhistorikers. Im Zusammenwirken[102] der beiden Faktoren der Naturbedingungen und des Menschenwesens will er die Menschengeschichte in strengem Kausalzusammenhang entwickeln. Ist er doch ein Schüler von Leibniz und durch Spinoza nur noch härter gegen die äußeren Endzwecke gestimmt.43 Die Zweckmäßigkeit, die in der Weltgeschichte wie im Naturreich waltet, vollzieht sich nach ihm nur in der Form des Kausalzusammenhangs. Dieser weisen Zurückhaltung entspricht nun, daß er zwar das Problem Lessings anerkannte – aber es als transzendent zurückließ. »Wenn jemand sagte, daß nicht der einzelne Mensch, sondern das Geschlecht erzogen werde, so spräche er für mich unverständlich, da Geschlecht und Gattung nur allgemeine Begriffe sind, außer, insofern sie in einzelnen Wesen existieren – als wenn ich von der Tierheit, der Steinheit im allgemeinen spräche.« Er verwirft das ausdrücklich als mittelalterliche Metaphysik, und er steht also mit Lessing auf dem gesunden Boden des Realismus, der nur Individuen kennt, sonach als Sinn des Weltlaufs auch nur Entwicklung der Individuen. Aber in bezug auf jede Vorstellung von der Art dieser Entwicklung der Individuen bemerkt er, mit deutlichem Wink auf Lessing: »Auf welchen Wegen dies geschehen werde – welche Philosophie der Erde wäre es, die hierüber Gewißheit gäbe?«

Ich entwickle nicht, wie nahe Lotzes Auffassung der Philosophie der Geschichte sich mit der von Herder berührt, sowohl in bezug auf die Verknüpfung von kausaler mit teleologischer Betrachtung, als in bezug auf den Realismus, der nur Individuen und was ihrer Entwicklung dient, anerkennt. An diesem Punkte hat Lotze doch über Herder hinausgehen zu müssen geglaubt. Er tut das, indem er sozusagen die Methode, in welcher Kant den Glauben an Gott und die Unsterblichkeit begründete, auf den planvollen Zusammenhang der Geschichte anwendet und so als Bedingung desselben einen Anteil der Abgeschiedenen an dem Fortschritt der Geschichte aufzuzeigen sucht. »Keine Erziehung« der Menschheit ist denkbar, ohne daß ihre Endergebnisse einst Gemeingut derer werden, die in dieser irdischen Laufbahn auf verschiedenen Punkten zurückgeblieben sind; keine Entwicklung einer Idee hat Bedeutung, wenn nicht zuletzt allen offenbar wird, was sie zuvor ohne ihr Wissen als Träger dieser Entwicklung erlitten.44 Gefühl gegen Gefühl (denn in ein solches verschwimmt nun hier schließlich die Betrachtung des Plans der Geschichte, die[103] einst in Augustinus mit so harten Realitäten begann, und scheint sich so selber in einen feinen Nebel aufzulösen): diese elegische Vorstellung von einem beschaulichen Anteil der Abgeschiedenen an dem, was wir hier durchkämpfen, welche an die Engelsköpfe erinnert, die auf alten Bildern aus dem Himmelsgewölk den Märtyrern zusehen, wie sie sich noch plagen müssen, erscheint uns in den Stunden nüchterner Kritik als zuviel, in träumenden aber als zuwenig, da das Endergebnis der Entwicklung der Menschheit nur im Erlebnis besessen werden kann, nicht in müßiger Betrachtung.

36

Ausführlich habe ich über Universalgeschichte gehandelt in meiner Abhandlung aber Schlosser, Preußische Jahrbücher, April 1862.

37

Scholion zu prop. 40 des zweiten Buchs der Ethik, sowie de intellectus emendatione.

38

Ex. gr. qui saepios cum admiratione hominum staturam contemplati sunt, sub nomine hominis intelligunt animal erectae staturae; qui vero aliud assueti sunt contemplari, aliam hominum communem imaginem formabunt etc.

39

Vgl. das vierte und fünfte Buch der Ideen, an welches dann das fünfzehnte anknüpft, sowie den von Job. Müller mitgeteilten Entwurf des letzten Bandes gegen den Schloß.

40

Kant Werke Rosenkr. Bd. 7, S. 321.

41

Kant Werke Rosenkr. Bd. 7, S. 320 f.

42

Lessing, Erziehung des Menschen § 92, 93. Für meine nähere Ansicht aber den Zusammenhang der Seelenwanderungslehre mit Lessings System verweise ich auf meine Untersuchungen in: Lessing, Preuß. Jahrbücher 1867 (jetzt in Das Erlebnis und die Dichtung), nebst den Erörterungen von Const. Rößler ebenda, und meiner Entgegnung.

43

Ideen, Buch 14, 6: »Die Philosophie der Endzwecke hat der Naturgeschichte keinen Vorteil gebracht, sondern ihre Liebhaber vielmehr statt der Untersuchung mit scheinbarem Wahne befriedigt; wieviel mehr die tausendzweckige, ineinandergreifende Menschengeschichte.«

44

Lotze, Mikrokosmos 3, 52 (I. Aufl.).

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 93-104.
Lizenz:
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