§ 2.

[7] Als dieser negativ religiöse Geist sich als das wahre, absolute Wesen, vor dem alles andere als ein Eitles und Nichtiges verschwinden müsse, geltend machte, herrschender Zeitgeist wurde, war es daher eine unausbleibliche Folge, daß nicht nur die Kunst und die schönen Wissenschaften, sondern überhaupt die Wissenschaften an und für sich zugrunde gingen. Nicht die vielen Kriege und Stürme damaliger Zeiten, nicht die natürliche Roheit damaliger Völker, nur jene negativ religiöse Tendenz war der eigentliche, wenigstens geistige Grund ihres Verfalls und Untergangs, denn für den Geist von dieser Tendenz subsumieren sich selbst die Künste und Wissenschaften unter den Begriff eines nur Eitlen und Weltlichen, eines bloßen Menschentandes.2[7]

Besonders war es auch die Natur, die bei der Herrschaft jener Tendenz in die Nacht der Vergessenheit und Ignoranz sinken mußte. Wie konnte der beschränkte, der nur in seinem von dem Wesen der Welt abgezogenen Gotte lebende Christ einen Sinn für die Natur und ihr Studium haben? Die Natur, deren wesentliche Form die Sinnlichkeit ist, die er gerade als das zu Verneinende, als das vom Göttlichen Abziehende faßte, hatte für ihn nur die Bedeutung eines Endlichen, Eitlen, Wesenlosen. Wie kann aber der Geist sich auf das konzentrieren, das zum Gegenstande ernster, anhaltender Beschäftigung machen, was ihm nur die Bedeutung eines Endlichen und Eitlen hat? Was hat es überdem für ein Interesse, die zeitliche Kreatur, das elende Geschöpf zu erkennen, wenn man den Schöpfer kennt? Wie kann der, der im vertrauten Umgange mit dem Herrn lebt, sich so herabwürdigen, in dasselbe Verhältnis zu seiner Dienstmagd zu treten? Und was hatte auf jenem Standpunkte negativer Religiosität die Natur für eine andere Stellung und Bedeutung als die einer Dienstmagd Gottes? Die theologisch teleologische Betrachtungsweise der Natur ist die einzige diesem[8] Standpunkte gemäße, aber eben diese ist keine objektive, physikalische, in die Natur selbst eindringende Betrachtungsweise derselben.

Die Natur war daher dem menschlichen Geiste auf jenem Standpunkte wie aus den Augen verschwunden. Gleichwie in die geweihten Andachtsstätten jener Zeiten das Licht nicht durch ein rein durchsichtiges Medium, sondern durch buntbemalte Fenster getrübt fiel, gleich als wäre das reine Licht für die fromme, von der Welt und Natur sich zu Gott hinwendende Gemeinde etwas Abziehendes und Störendes, gleich als könnte sich nicht das Licht der Natur mit dem Lichte der Andacht vertragen, nur im Dunkel, nur in der Verschleierung der Natur der Geist in die Lichtflamme der Andacht auflodern, so fiel selbst da noch in jenen Zeiten, wo der Geist wieder zum Denken erwachte, den Blick auf die Natur wieder richtete, das Licht der Natur nur getrübt und gebrochen durch das Medium der aristotelischen Physik in den Menschen, weil er, von jener negativen Religiosität beherrscht und bestimmt, sich gleichsam scheute, die eigenen Augen aufzutun und mit eigener Hand die verbotene Frucht vom Baume der Erkenntnis zu brechen.

Wenngleich einzelne im Mittelalter sich besonders eifrig mit dem Studium der Natur beschäftigten, wenngleich überhaupt sogenannte weltliche Gelehrsamkeit noch in Klöstern und Schulen sich erhielt und geschätzt wurde3, so blieben doch immer die Wissenschaften eine untergeordnete Nebenbeschäftigung des menschlichen Geistes, hatten nur eine kümmerliche, beschränkte Bedeutung und mußten sie so lange haben, als der religiöse Geist die oberste geschichtliche Behörde, die Legislativgewalt, und die Kirche seine Exekutivgewalt war.

2

»Quae enim communicatio«, sagt z.B. Hieronymus (»Epist.«, XXII, c. 13), »luci ad tenebras? Qui consensus Christo cum Belial? quid facit cum psalterio Horatius? cum evangeliis Maro? cum apostolis Cice ro? Nonne scandalizatur frater, si te viderit in idoleo recumbentem? Et licet omnia munda mundis et nihil rejiciendum, quod cum gratiarum actione percipitur, tamen simul bibere non debemus calicem Christi et calicem Daemoniorum... Domine si unquam habuero codices saeculares, si legero, te negavi.« – In den Regeln des h. Isidorus wurde ausdrücklich geboten: »Gentilium autem libros vel haereticorum volumina monachus legere caveat.« Gregor der Große machte dem Bischof von Vienne, Desiderius, große Vorwürfe darüber, daß er die Grammatik (klassische Literatur) lehre und mit jungen Leuten heidnische Dichter lese. »Quia in uno ore se cum Jovis laudibus Christi laudes non capiunt, et quam grave nefandumque sit episcopis canere, quod nec laico religioso conveniat, ipse considera... Si posthac evidenter ea, quae ad nos perlata sunt, falsa esse claruerit, nec vos nugis et saecularibus litteris studere constiterit, Deo nostro gratias agimus.« Die Gebildeteren und Humaneren unter den Christen des Mittelalters schätzten wohl auch das Studium der sogenannten profanen Literatur, aber nicht um seiner selbst willen. Vergl. Heeren, »Geschichte des Studiums der klassischen Literatur«, I. Bd. – Selbst Alcuin billigte im späten Alter nicht einmal das Lesen der heidnischen Dichter und Schriftsteller. – Aus demselben Prinzipe kommt es, wenn selbst unter den Protestanten manche die Wissenschaften verschmähten, z.B. Job. Amos Comenius die Metaphysik, den Aristoteles und Cartesius, die Kritik und Philologie wegwirft und darauf den Vers macht »Du lernest, liesest, schreibst, und gleichwohl kommt der Tod; studiere Jesum selbst, dies eine ist dir not.« Man sehe hierüber auch Arnold an und seine und anderer Urteile in seiner »Kirchen- und Ketzerhistorie«, T. II, Bd. XVI, c. X. Von dem Schul- und akademischen Wesen sonderlich bei den Lutheranern.

3

Vergl. z.B. Heeren, »Geschichte des Studiums der klassischen Literatur«, I. Bd., und Meiners' »Historische Vergleichung der Sitten und Verfassungen usw. des Mittelalters«, II. Bd., IX. Abschnitt.

Quelle:
Ludwig Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza. Leipzig 1976, S. 7-9.
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