§ 5. Welches ist die Grenze, die die allgemeine Wissenschaftslehre von der besonderen, durch sie begründeten Wissenschaft scheidet?

[62] Wir fanden oben (S. 3), dass ein und ebenderselbe Satz nicht in der gleichen Beziehung ein Satz der allgemeinen Wissenschaftslehre, und ein Grundsatz irgend einer besonderen Wissenschaft seyn könne; sondern dass etwa noch etwas hinzukommen müsse, wenn er das letztere seyn soll. – Das, was hinzukommen muss, kann nirgend anders her, als aus der allgemeinen Wissenschaftslehre entlehnt seyn, da in ihr alles mögliche menschliche Wissen enthalten ist; aber es muss dort nicht in eben dem Satze liegen, der jetzt durch den Zusatz diesselben zum Grundsatze einer besonderen Wissenschaft erhoben werden soll; denn sonst wäre er schon dort Grundsatz, und wir hätten keine Grenze zwischen der besonderen Wissenschaft, und den Theilen der allgemeinen Wissenschaftslehre. Es muss demnach etwa ein einzelner Satz der Wissenschaftslehre seyn, der mit dem Satze, der Grundsatz werden soll, vereinigt wird. – Da wir hier nicht einen unmittelbaren aus dem Begriffe der Wissenschaftslehre selbst hervorgehenden, sondern einen aus der Voraussetzung, dass es ausser[62] ihr wirklich noch andere von ihr getrennte Wissenschaften gebe, entspringenden Einwurf zu beantworten haben, so können wir ihn nicht anders, als gleichfalls durch eine Voraussetzung beantworten; und wir haben vor der Hand genug gethan, wenn wir nur irgend eine Möglichkeit der geforderten Begrenzung aufzeigen. Dass sie die wahre Grenze angebe – ob es gleich wohl der Fall seyn dürfte – können und sollen wir hier nicht beweisen.

Man setze demnach, die Wissenschaftslehre enthalte diejenigen bestimmten Handlungen des menschlichen Geistes, die er alle – sey es nun bedingt oder unbedingt – gezwungen und nothwendig vollbringt; sie stelle aber dabei, als höchsten Erklärungsgrund jener nothwendigen Handlungen überhaupt, ein Vermögen desselben auf, sich schlechthin ohne Zwang und Nöthigung zum Handeln überhaupt zu bestimmen; so wäre durch die Wissenschaftslehre ein nothwendiges und ein nicht nothwendiges oder freies Handeln gegeben. Die Handlungen des menschlichen Geistes, insofern er nothwendig handelt, wären durch sie bestimmt, nicht aber insofern er frei handelt. – Man setze ferner: auch die freien Handlungen sollten, aus irgend einem Grunde, bestimmt werden, so könnte das nicht in der Wissenschaftslehre geschehen, müsste aber doch, da von Bestimmung die Rede ist, in Wissenschaften, und also in besonderen Wissenschaften geschehen. Der Gegenstand dieser freien Handlungen könnte nun kein anderer seyn, als das durch die Wissenschaftslehre überhaupt gegebene Nothwendige, da nichts vorhanden ist, das sie nicht gegeben hätte, und sie überall nichts giebt, als das Nothwendige. Demnach müsste im Grundsatze einer besonderen Wissenschaft eine Handlung, die die Wissenschaftslehre frei gelassen hätte, bestimmt werden: die Wissenschaftslehre gäbe dem Grundsatze das Nothwendige und die Freiheit überhaupt, die besondere Wissenschaft aber gäbe der Freiheit ihre Bestimmung; und nun wäre die scharfe Grenzlinie gefunden, und sobald eine an sich freie Handlung eine bestimmte Richtung bekäme, schritten wir aus dem Gebiete der allgemeinen Wissenschaftslehre auf das Feld[63] einer besonderen Wissenschaft hinüber. – Ich mache mich durch zwei Beispiele deutlich.

Die Wissenschaftslehre giebt als nothwendig den Raum, und den Punct als absolute Grenze; aber sie lässt der Einbildungskraft die völlige Freiheit den Punct zu setzen, wohin es ihr beliebt. Sobald diese Freiheit bestimmt wird, z.B. ihn gegen die Begrenzung des unbegrenzten Raumes fortzubewegen, und dadurch eine Linie15 zu ziehen, sind wir nicht mehr im Gebiete der Wissenschaftslehre, sondern auf dem Boden einer besonderen Wissenschaft, welche Geometrie heisst. Die Aufgabe überhaupt, den Raum nach einer Regel zu begrenzen, oder die Construction in demselben, ist Grundsatz der Geometrie, und diese ist dadurch von der Wissenschaftslehre scharf abgeschnitten.

Durch die Wissenschaftslehre ist eine ihrem Seyn und ihren Bestimmungen nach als unabhängig von uns anzusehende Natur16, und die Gesetze, nach denen sie beobachtet werden soll und muss17, als nothwendig gegeben; aber die[64] Urtheilskraft behält dabei ihre völlige Freiheit, diese Gesetze überhaupt anzuwenden oder nicht; oder bei der Mannigfaltigkeit der Gesetze sowohl als der Gegenstände, welches Gesetz sie will, auf einen beliebigen Gegenstand anzuwenden, z.B. den menschlichen Körper als rohe oder organisirte oder als animalisch belebte Materie zu betrachten. Sobald aber die Urtheilskraft die Aufgabe erhält, einen bestimmten Gegenstand nach einem bestimmten Gesetze zu beobachten18, um zu sehen, ob und inwiefern er mit demselben übereinkomme oder nicht, ist sie nicht mehr frei, sondern unter einer Regel, und wir sind demnach nicht mehr in der Wissenschaftslehre, sondern auf dem Felde einer anderen Wissenschaft, welche die Naturwissenschaft heisst. Die Aufgabe überhaupt, jeden in der Erfahrung gegebenen Gegenstand an jedes in unserem Geiste gegebenes Naturgesetz zu halten, ist Grundsatz der Naturwissenschaft: sie besteht durchgängig aus Experimenten, (nicht aber aus dem leidenden Verhalten gegen die regellosen Einwirkungen der Natur auf uns), die man sich willkürlich aufgiebt, und denen die Natur entsprechen kann oder nicht: und dadurch ist denn die Naturwissenschaft genugsam von der Wissenschaftslehre überhaupt geschieden.

Also sieht man schon hier – welches wir bloss im Vorbeigehen erinnern – warum bloss die Wissenschaftslehre absolute Totalität haben, alle besondere Wissenschaften aber unendlich[65] seyn werden. Die Wissenschaftslehre enthält bloss das Nothwendige; ist dies in jeder Betrachtung nothwendig, so ist es dasselbe auch in Absicht der Quantität, d.h. es ist nothwendig begrenzt. Alle übrigen Wissenschaften gehen auf die Freiheit, sowohl die unseres Geistes als der von uns schlechthin unabhängigen Natur. Soll dieses wirkliche Freiheit seyn, und soll sie schlechthin unter keinem Gesetze stehen, so lässt sich ihr auch kein Wirkungskreis vorschreiben, welches ja durch ein Gesetz geschehen müsste. Ihr Wirkungskreis ist demnach unendlich. – Man hat also von einer erschöpfenden Wissenschaftslehre keine Gefahr für die ins Unendliche fortgehende Perfectibilität des menschlichen Geistes zu besorgen; sie wird dadurch gar nicht aufgehoben, sondern vielmehr völlig sicher und ausser Zweifel gesetzt, und es wird ihr eine Aufgabe angewiesen, die sie in Ewigkeit nicht endigen kann.

15

Eine Frage an die Mathematiker! – Liegt nicht der Begriff des Geraden schon im Begriffe der Linie? Giebt es andere Linien als gerade? und ist die sogenannte krumme Linie etwas anderes, als eine Zusammenreihung unendlich vieler, unendlich naher Puncte? Der Ursprung derselben, als Grenzlinie des unendlichen Raumes, (von dem Ich als Mittelpuncte werden unendlich viele unendliche Radien gezogen, denen aber unsere eingeschränkte Einbildungskraft doch einen Endpunct setzen muss; diese Endpuncte als Eins gedacht sind die ursprüngliche Kreislinie) scheint mir dafür zu bürgen; und es wird daraus klar, dass, und warum die Aufgabe, als durch eine gerade Linie zu messen, unendlich ist, und nur in einer vollendeten Annäherung zum Unendlichen erfüllt werden könnte. – Gleichfalls wird daraus klar, warum die gerade Linie sich nicht definiren lässt. [Anmerkung zur 1. Ausgabe.]

16

Nicht-Ich. [1. Ausgabe.]

17

So sonderbar dies manchem Naturforscher vorkommen möge, so wird es sich doch zu seiner Zeit zeigen, dass es sich streng erweisen lässt: dass er selbst erst die Gesetze der Natur, die er durch Beobachtung von ihr zu lernen glaubt, in sie hineingelegt habe, und dass sie sich, das kleinste, wie das grösste, der Bau des geringfügigsten Grashalms, wie die Bewegung der Himmelskörper, vor alter Beobachtung vorher aus dem Grundsatze alles menschlichen Wissens ableiten lassen. Es ist wahr, dass kein Naturgesetz und überhaupt kein Gesetz zum Bewusstseyn kommt, wenn nicht ein Gegenstand gegeben wird, auf den es angewandt werden kann; es ist wahr, dass nicht alle Gegenstände nothwendig, und nicht alle in dem gleichen Grade, damit übereinkommen müssen; es ist wahr, dass kein einziger ganz und völlig mit ihnen übereinkommt, noch übereinkommen kann; aber eben darum ist es wahr, dass wir sie nicht durch Beobachtung lernen, sondern als aller Beobachtung zum Grunde legen, und dass es nicht sowohl Gesetze ihr die von uns unabhängige Natur, als Gesetze für uns selbst sind, wie wir die Natur zu beobachten haben. [Anmerkung zur 1. Ausgabe.]

18

Z.B. ob thierisches Leben sich aus dem bloss Unorganischen erklären lasse, ob etwa Crystallisation der Uebergang von der chemischen Verbindung zur Organisation sey, ob magnetische und elektrische Kraft im Wesen einerlei, oder verschieden seyen u.s.w.

Quelle:
Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Band 1, Berlin 1845/1846, S. 62-66.
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