§ 6. Wie verhält sich die allgemeine Wissenschaftslehre insbesondere zur Logik?

[66] Die Wissenschaftslehre soll für alle mögliche Wissenschaften die Form aufstellen. – Nach der gewöhnlichen Neigung, an der wohl auch etwas Wahres seyn mag, thut die Logik das gleiche. Wie verhalten sich diese beiden Wissenschaften, und wie verhalten sie sich insbesondere in Absicht jenes Geschäfts, das beide sich anmaassen?

Sobald man sich erinnert, dass die Logik allen möglichen Wissenschaften bloss und allein die Form, die Wissenschaftslehre aber nicht die Form allein, sondern auch den Gehalt geben solle, so ist ein leichter Weg eröffnet, um in diese höchst wichtige Untersuchung einzudringen. In der Wissenschaftslehre ist die Form vom Gehalte, oder der Gehalt von der Form nie getrennt; in jedem ihrer Sätze ist beides auf das innigste vereinigt. Soll in den Sätzen der Logik die blosse Form der möglichen Wissenschaften, nicht aber der Gehalt liegen, so sind sie nicht zugleich Sätze der Wissenschaftslehre, sondern sie sind von ihnen verschieden; und folglich ist auch die ganze Wissenschaft weder die Wissenschaftslehre selbst,[66] noch etwa ein Theil von ihr; sie ist, so sonderbar dies auch bei der gegenwärtigen Verfassung der Philosophie jemandem vorkommen möge, überhaupt keine philosophische, sondern sie ist eine eigene, abgesonderte Wissenschaft, wodurch jedoch ihrer Würde gar kein Abbruch geschehen soll.

Ist sie dies, so muss sich eine Bestimmung der Freiheit aufzeigen lassen, mit welcher das wissenschaftliche Verfahren aus dem Gebiete der Wissenschaftslehre auf das der Logik übertrete, und bei welcher sonach die Grenze zwischen beiden Wissenschaften liege. Eine solche Bestimmung der Freiheit ist denn auch leichtlich nachzuweisen. In der Wissenschaftslehre nemlich sind Gehalt und Form nothwendig vereinigt. Die Logik soll die blosse Form, vom Gehalte abgesondert, aufstellen; diese Absonderung kann, da sie keine ursprüngliche ist, nur durch Freiheit geschehen. Die freie Absonderung der blossen Form vom Gehalte wäre es sonach, durch welche eine Logik zu Stande käme. Man nennt eine solche Absonderung Abstraction; und demnach besteht das Wesen der Logik in der Abstraction von allem Gehalte der Wissenschaftslehre.

Auf diese Art wären die Sätze der Logik bloss Form, welches unmöglich ist; denn es liegt im Begriffe des Satzes überhaupt, dass er beides, Gehalt sowohl als Form, habe. (§ 1) Mithin müsste das, was in der Wissenschaftslehre blosse Form ist, in der Logik Gehalt seyn, und dieser Gehalt bekäme wieder die allgemeine Form der Wissenschaftslehre, die aber hier bestimmt als Form eines logischen Satzes gedacht würde. Diese zweite Handlung der Freiheit, durch welche die Form (überhaupt, Marg.) zu ihrem eigenen Gehalte19 wird, und in sich selbst zurückkehrt, heisst Reflexion. Keine Abstraction ist ohne Reflexion; und keine Reflexion ohne Abstraction möglich. Beide Handlungen, von einander abgesondert gedacht, und jede für sich betrachtet, sind Handlungen der Freiheit; wenn in eben dieser Absonderung beide aufeinander bezogen werden, so ist unter Bedingung der einen, die zweite nothwendig;[67] für das synthetische Denken aber sind beide nur eine und ebendieselbe Handlung, angesehen von zwei Seiten.

Hieraus ergiebt sich das bestimmte Verhältniss der Logik zur Wissenschaftslehre. Die erstere begründet nicht die letztere, sondern die letztere begründet die erstere: die Wissenschaftslehre kann schlechterdings nicht aus der Logik bewiesen werden, und man darf ihr keinen einzigen logischen Satz, auch den des Widerspruchs nicht, als gültig vorausschicken; hingegen muss jeder logische Satz, und die ganze Logik aus der Wissenschaftslehre bewiesen werden; – es muss gezeigt werden, dass die in der letzteren aufgestellten Formen, wirkliche Formen eines gewissen Gehaltes in der Wissenschaftslehre seyen. Also entlehnt die Logik ihre Gültigkeit von der Wissenschaftslehre, nicht aber die Wissenschaftslehre die ihrige von der Logik.

Ferner, die Wissenschaftslehre wird nicht durch die Logik, aber die Logik wird durch die Wissenschaftslehre bedingt und bestimmt. Die Wissenschaftslehre bekommt nicht etwa von der Logik ihre Form, sondern sie hat sie in sich selbst, und stellt sie erst für die mögliche Abstraction durch Freiheit auf. Im Gegentheil aber bedingt die Wissenschaftslehre die Gültigkeit und Anwendbarkeit logischer Sätze. Die Formen, welche die letztere aufstellt, dürfen in dem gewöhnlichen Geschäfte des Denkens und in den besonderen Wissenschaften auf keinen anderen Gehalt angewendet werden, als auf denjenigen, den sie schon in der Wissenschaftslehre in sich fassen – nicht nothwendig auf den ganzen Gehalt, den sie dort in sich fassen, denn dadurch würde keine besondere Wissenschaft entstehen, sondern nur Theile der Wissenschaftslehre wiederholt werden, aber doch nothwendig auf einen Theil desselben, auf einen in und mit jenem Gehalt begriffenen Gehalt. Ausser jener Bedingung ist die durch ein solches Verfahren zu Stande gebrachte besondere Wissenschaft ein Luftgebäude, so logisch richtig auch in derselben gefolgert seyn möge20.[68]

Endlich, die Wissenschaftslehre ist nothwendig – nicht eben als deutlich gedachte, systematisch aufgestellte Wissenschaft, aber doch als Naturanlage – die Logik aber ist ein künstliches Product des menschlichen Geistes in seiner Freiheit. Ohne die erstere würde überhaupt kein Wissen und keine Wissenschaft möglich seyn; ohne die letztere würden alle Wissenschaften nur später haben zu Stande gebracht werden können. Die erstere ist die ausschliessende Bedingung aller Wissenschaft; die letztere ist eine höchst wohlthätige Erfindung, um den Fortgang der Wissenschaften zu sichern und zu erleichtern.

Ich trage das hier systematisch abgeleitete in Beispielen vor:

A = A ist ohne Zweifel ein logisch richtiger Satz, und insofern er das ist, ist seine Bedeutung die: wenn A gesetzt ist, so ist A gesetzt. Es entstehen hierbei die zwei Fragen: Ist denn A gesetzt? – und inwiefern und warum ist A gesetzt, wenn es gesetzt ist – oder, wie hängt jenes Wenn und dieses So überhaupt zusammen?

Setzet: A im obigen Satze bedeute Ich, und habe also seinen bestimmten Gehalt: so hiesse der Satz zuvörderst: Ich bin Ich: oder wenn ich gesetzt bin, so bin ich gesetzt. Aber, weil das Subject des Satzes das absolute Subject, das Subject schlechthin ist, so wird in diesem einzigen Falle, mit der Form des Satzes zugleich sein innerer Gehalt gesetzt: Ich bin gesetzt, weil ich mich gesetzt habe. Ich bin, weil ich bin. – Die Logik also sagt: Wenn A ist, ist A; die Wissenschaftslehre: Weil A (dieses bestimmte A – Ich) ist, ist A. Und hierdurch würde die Frage: Ist denn A (dieses bestimmte A) gesetzt? so beantwortet: Es ist gesetzt, denn es ist gesetzt. Es ist unbedingt und schlechthin gesetzt.

Setzet: A in obigem Satze bedeute nicht das Ich, sondern irgend etwas Anderes, so lässt sich aus dem obigen die Bedingung einsehen, unter welcher man sagen könne: A ist gesetzt; und wie man berechtigt sey zu schliessen: Wenn A gesetzt ist, so ist es gesetzt. – Nemlich der Satz: A = A gilt ursprünglich nur vom Ich; er ist von dem Satze der Wissenschaftslehre:[69] Ich bin Ich, abgezogen; aller Gehalt also, worauf er anwendbar seyn soll, muss im Ich liegen, und unter ihm enthalten seyn. Kein A also kann etwas Anderes seyn, als ein im Ich gesetztes, und nun hiesse der Satz so: Was im Ich gesetzt ist, ist gesetzt; ist A im Ich gesetzt, so ist es gesetzt, (insofern es nemlich gesetzt ist, als möglich, wirklich oder nothwendig) und so ist er unwidersprechlich wahr, wenn das Ich Ich seyn soll. – Ist ferner das Ich gesetzt, weil es gesetzt ist, so ist alles, was im Ich gesetzt ist, gesetzt, weil es gesetzt ist; und wenn nur A etwas im Ich Gesetztes ist, so ist es gesetzt, wenn es gesetzt ist; und die zweite Frage ist auch beantwortet.

19

Zur Form der Form, als ihres Gehaltes. [1. Ausgabe.]

20

So die vorkantischen dogmatischen Systeme, die einen falschen Begriff des Dinges aufstellen.

Quelle:
Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Band 1, Berlin 1845/1846, S. 66-70.
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