§ 7. Wie verhält sich die Wissenschaftslehre, als Wissenschaft, zu ihrem Gegenstande?21

[70] Jeder Satz in der Wissenschaftslehre hat Form und Gehalt: man weiss etwas; und es ist etwas, wovon man weiss. Nun aber ist ja die Wissenschaftslehre selbst die Wissenschaft von etwas; nicht aber dieses Etwas selbst. Mithin wäre dieselbe überhaupt mit allen ihren Sätzen Form eines gewissen vor derselben vorhandenen Gehaltes. Wie verhält sie sich zu diesem Gehalte, und was folgt aus diesem Verhältnisse?

Das Object der Wissenschaftslehre ist nach allem das System des menschlichen Wissens. Dieses ist unabhängig von der Wissenschaft desselben vorhanden, wird aber durch sie in systematischer Form aufgestellt. Was ist nun diese neue Form; wie ist sie von der Form, die vor der Wissenschaft vorher vorhanden seyn muss, unterschieden; und wie ist die Wissenschaft überhaupt von ihrem Objecte unterschieden?

Was unabhängig von der Wissenschaft im menschlichen Geiste da ist, können wir auch die Handlungen desselben nennen. Diese sind das Was, das vorhanden ist; sie geschehen auf eine gewisse bestimmte Art; durch diese bestimmte[70] Art unterscheidet sich die eine von der anderen; und dieses ist das Wie. Im menschlichen Geiste ist also ursprünglich vor unserem Wissen vorher Gehalt und Form, und beide sind unzertrennlich verbunden; jede Handlung geschieht auf eine bestimmte Art nach einem Gesetze, und dieses Gesetz bestimmt die Handlung. Es ist, wenn alle diese Handlungen unter sich zusammenhängen, und unter allgemeinen, besonderen und einzelnen Gesetzen stehen, für die etwanigen Beobachter auch ein System vorhanden.

Es ist aber gar nicht nothwendig, dass diese Handlungen wirklich der Zeitfolge nach in jener systematischen Form, in welcher sie als von einander dependirend werden abgeleitet werden, eine nach der anderen, in unserem Geiste vorkommen; dass etwa die, welche alle unter sich fasst, und das höchste, allgemeinste Gesetz giebt, zuerst, sodann die, welche weniger unter sich fasst u.s.f. vorkommen; ferner ist auch das gar nicht die Folge, dass sie alle rein und unvermischt vorkommen, so dass nicht mehrere, die durch einen etwanigen Beobachter gar wohl zu unterscheiden wären, als eine einzige erscheinen sollten. Z.B. die höchste Handlung der Intelligenz sey die, sich selbst zu setzen, so ist gar nicht nothwendig, dass diese Handlung der Zeit nach die erste sey, die zum deutlichen Bewusstseyn komme; und eben so wenig ist nothwendig, dass sie jemals rein zum Bewusstseyn komme, dass die Intelligenz je fähig; sey, schlechthin zu denken: Ich bin, ohne zugleich etwas anderes zu denken, dass nicht sie selbst sey.

Hierin liegt nun der ganze Stoff einer möglichen Wissenschaftslehre, aber nicht diese Wissenschaft selbst. Um diese zu Stande zu bringen, dazugehört noch eine, unter jenen Handlungen allen nicht enthaltene Handlung des menschlichen Geistes, nemlich die, seine Handlungsart überhaupt zum Bewusstseyn zu erheben. Da sie unter jenen Handlungen, welche alle nothwendig, und die nothwendigen alle sind, nicht enthalten seyn soll, so muss es eine Handlung der Freiheit seyn. – Die Wissenschaftslehre entsteht also, insofern sie eine systematische Wissenschaft seyn soll, gerade so, wie alle möglichen Wissenschaften, insofern sie systematisch seyn sollen, durch eine[71] Bestimmung der Freiheit; welche letztere hier insbesondere bestimmt ist, die Handlungsart der Intelligenz überhaupt zum Bewusstseyn zu erheben; und die Wissenschaftslehre ist von anderen Wissenschaften nur dadurch unterschieden dass das Object der letzteren selbst eine freie Handlung, das Object der ersteren aber nothwendige Handlungen sind.

Durch diese freie Handlung wird nun etwas, das schon an sich Form ist, die nothwendige Handlung der Intelligenz, als Gehalt in eine neue Form, die Form des Wissens, oder des Bewusstseyns aufgenommen, Und demnach ist jene Handlung eine Handlung der Reflexion. Jene nothwendigen Handlungen werden aus der Reihe, in der sie etwa an sich vorkommen mögen, getrennt und von aller Vermischung rein aufgestellt; mithin ist jene Handlung auch eine Handlung der Abstraction. Es ist unmöglich zu reflectiren, ohne abstrahirt zu haben.

Die Form des Bewusstseins, in welche die nothwendige Handlungsart der Intelligenz überhaupt aufgenommen werden soll, gehört ohne Zweifel selbst zu den nothwendigen Handlungsarten desselben; ihre Handlungsart wird in sie ohne Zweifel gerade so aufgenommen, wie alles, was darin aufgenommen wird: es hätte also an sich keine Schwierigkeit die Frage zu beantworten: woher denn zum Behuf einer möglichen Wissenschaftslehre diese Form kommen sollte. Aber, überhebt man sich der Frage über die Form, so fällt die ganze Schwierigkeit in die Frage über den Stoff. – Soll die nothwendige Handlungsart der Intelligenz an sich in die Form des Bewusstseyns aufgenommen werden, so müsste sie schon als solche bekannt seyn, sie müsste mithin in diese Form schon aufgenommen seyn; und wir wären in einem Cirkel eingeschlossen.

Diese Handlungsart überhaupt, soll nach dem obigen durch eine reflectirende Abstraction von allem, was nicht sie ist, abgesondert werden. Diese Abstraction geschieht durch Freiheit, und die philosophirende Urtheilskraft wird in ihr gar nicht durch blinden Zwang geleitet. Die ganze Schwierigkeit ist also in der Frage enthalten: nach welchen Regeln verfährt die Freiheit in jener Absonderung? wie weiss der Philosoph, was er[72] als nothwendige Handlungsweise der Intelligenz aufnehmen und was er als ein zufälliges liegen lassen solle?

Das kann er nun schlechterdings nicht wissen, wofern nicht etwa dasjenige, was er erst zum Bewusstseyn erheben soll, schon dazu erhoben ist; welches sich widerspricht. Also giebt es für dieses Geschäft gar keine Regel, und kann keine geben. Der menschliche Geist macht mancherlei Versuche; er kommt durch blindes Herumtappen zur Dämmerung, und geht erst aus dieser zum hellen Tage über. Er wird Anfangs durch dunkle Gefühle22 (deren Ursprung und Wirklichkeit die Wissenschaftslehre darzulegen hat) geleitet; und wir hätten noch heute keinen deutlichen Begriff, und wären noch immer der Erdkloss, der sich dem Boden entwand, wenn wir nicht angefangen hätten, dunkel zu fühlen, was wir erst später deutlich erkannten. – Dies bestätiget denn auch die Geschichte der Philosophie; und wir haben jetzt den eigentlichen Grund angegeben, warum dasjenige, was doch in jedem menschlichen Geiste offen da liegt, und was jeder mit Händen greifen kann, wenn es ihm deutlich dargelegt wird, erst nach mannigfaltigem Herumirren zum Bewusstseyn einiger wenigen gelangte. Alle Philosophen sind auf das aufgestellte Ziel ausgegangen, alle[73] haben durch Reflexion die nothwendige Handlungsart der Intelligenz von den zufälligen Bedingungen derselben absondern wollen, alle haben sie wirklich, nur mehr oder weniger rein, und mehr oder weniger vollständig, abgesondert; im Ganzen aber ist die philosophirende Urtheilskraft immer weiter vorgerückt und ihrem Ziele näher gekommen.

Da aber jene Reflexion, nicht insofern sie überhaupt vorgenommen wird oder nicht, denn in dieser Rücksicht ist sie frei; sondern insofern sie nach Gesetzen vorgenommen wird insofern unter der Bedingung, dass sie überhaupt statt finde, die Art derselben bestimmt ist – auch zu den nothwendigen Handlungsweisen der Intelligenz gehört, so müssen die Gesetze derselben im System dieser Handlungsweisen überhaupt vorkommen; und man kann hinterher, nach Vollendung der Wissenschaft, allerdings einsehen, ob man denselben Genüge geleistet habe oder nicht. Man dürfte also glauben, dass wenigstens hinterher ein evidenter Beweis der Richtigkeit unseres wissenschaftlichen Systems als eines solchen möglich wäre.

Aber die Reflexionsgesetze, die wir im Gange der Wissenschaft als die einzig-möglichen, durch welche eine Wissenschaftslehre zu Stande kommen könne, finden, – wenn sie auch mit denen, die wir als Regel unseres Verfahrens hypothetisch voraussetzten, Übereinstimmen, sind doch selbst das Resultat von ihrer vorherigen Anwendung; und es entdeckt sich sonach hier ein neuer Cirkel: Wir haben gewisse Reflexionsgesetze vorausgesetzt, und finden jetzt im Verlaufe der Wissenschaft die gleichen, als die einzig richtigen; also – haben wir in unserer Voraussetzung ganz recht gehabt, und unsere Wissenschaft ist der Form nach richtig. Wenn wir andere vorausgesetzt hätten, so würden wir ohne Zweifel in der Wissenschaft auch andere als die einzig-richtigen gefunden haben; es fragt sich nur, ob sie mit den vorausgesetzten übereingestimmt haben würden oder nicht; hätten sie nicht mit ihnen übereingestimmt, so war allerdings sicher, dass entweder die vorausgesetzten, oder die gefundenen, oder am wahrscheinlichsten beide falsch waren. Wir können also in dem Beweise hinterher[74] nicht auf die angezeigte fehlerhafte Art im Cirkel schliessen; sondern wir schliessen aus der Uebereinstimmung des Vorausgesetzten und des Gefundenen auf die Richtigkeit des Systems. Dieses ist aber nur ein negativer Beweis, der blosse Wahrscheinlichkeit begründet. Stimmen die vorausgesetzten und die gefundenen Reflexionen nicht überein, so ist das System sicher falsch. Stimmen sie überein, so kann es richtig seyn. Aber es muss nicht nothwendig richtig seyn; denn obgleich, wenn im menschlichen Wissen nur ein System ist, bei richtigem Folgern eine solche Uebereinstimmung sich nur auf eine Art finden kann, so bleibt doch immer der Fall möglich, dass die Uebereinstimmung von ungefähr durch zwei oder mehrere, Uebereinstimmung bewirkende unrichtige Folgerungen hervorgebracht sey. – Es ist, als ob ich die Probe der Division durch die Multiplication mache. Bekomme ich nicht die begehrte Grösse als Product, sondern irgend eine andere, so habe ich sicher irgendwo falsch gerechnet; bekomm' ich sie, so ist wahrscheinlich, dass ich richtig gerechnet habe, aber auch bloss wahrscheinlich; denn ich könnte in der Division und Multiplication den gleichen Fehler gemacht haben, etwa in beiden gesagt haben 5 x 9 = 36; und so bewiese die Uebereinstimmung nichts. – So die Wissenschaftslehre; sie ist nicht bloss die Regel, sondern sie ist zugleich die Rechnung. Wer an der Richtigkeit unseres Products zweifelt, zweifelt nicht eben an dem ewig gültigen Gesetze, dass man den einen Factor so vielmal setzen müsse, als der andere Einheiten habe; es liegt ihm vielleicht eben so sehr am Herzen als uns, und er zweifelt bloss daran, ob wir es wirklich beobachtet haben.

Es bleibt demnach, selbst bei der höchsten Einheit des Systems, welches die negative Bedingung seiner Richtigkeit ist, noch immer etwas übrig, das nie streng erwiesen, sondern nur als wahrscheinlich angenommen werden kann, nemlich, dass diese Einheit selbst nicht von ungefähr durch unrichtige Folgerung entstanden sey. Man kann mehrere Mittel anwenden, um diese Wahrscheinlichkeit zu erhöhen; man kann die Reihe der Sätze zu mehreren Malen, wenn sie unserem Gedächtniss nicht mehr gegenwärtig sind, durchdenken; man[75] kann den umgekehrten Weg machen, und vom Resultate zum Grundsatze zurück gehen; man kann über seine Reflexion selber wieder reflectiren u. s. f: die Wahrscheinlichkeit wird immer grösser, aber nie wird Gewissheit, was blosse Wahrscheinlichkeit war. Wenn man sich dabei nur bewusst ist, redlich geforscht23, und sich nicht schon die Resultate vorgesetzt zu haben, die man finden wollte, so kann man sich mit dieser Wahrscheinlichkeit gar wohl begnügen, und darf von jedem, der die Zuverlässigkeit unseres Systems in Zweifel zieht, fordern, dass er uns die Fehler in unseren Folgerungen nachweise; aber nie darf man auf Infallibilität Anspruch machen. – Das System des menschlichen Geistes, dessen Darstellung die Wissenschaftslehre seyn soll, ist absolut gewiss und infallibel; alles was in ihm begründet ist, ist schlechthin wahr; es irret nie, und was je in einer Menschenseele nothwendig gewesen[76] ist oder seyn wird, ist wahr. Wenn die Menschen irrten, so lag der Fehler nicht im Nothwendigen, sondern die reflectirende Urtheilskraft machte ihn in ihrer Freiheit, indem sie ein Gesetz mit einem anderer verwechselte. Ist unsere Wissenschaftslehre eine getroffene Darstellung dieses Systems, so ist sie schlechthin gewiss und infallibel, wie jenes; aber die Frage ist eben davon, ob und inwiefern unsere Darstellung getroffen sey24; und darüber können wir nie einen strengen, sondern nur einen Wahrscheinlichkeit begründenden Beweis führen. Sie hat nur unter der Bedingung, und nur insofern Wahrheit, als sie getroffen ist. Wir sind nicht Gesetzgeber des menschlichen Geistes, sondern seine Historiographen; freilich nicht Zeitungsschreiber, sondern pragmatische Geschichtsschreiber.

Hierzu kommt noch der Umstand, dass ein System wirklich im Ganzen richtig seyn kann, ohne dass die einzelnen[77] Theile desselben die völlige Evidenz haben. Es kann hier und da unrichtig gefolgert, es können Mittelsätze übersprungen, es können erweisbare Sätze ohne Beweis aufgestellt oder unrichtig bewiesen seyn, und die wichtigsten Resultate sind dennoch richtig. Dies scheint unmöglich; es scheint, dass eine haarkleine Abweichung von der geraden Linie nothwendig zu einer sich ins unendliche vergrössernden Abweichung führen müsse: und so würde es allerdings seyn, wenn der Mensch alles, was er weiss, durch deutliches Denken zu Stande bringen müsste; und nicht vielmehr ohne sein Bewusstseyn die Grundanlage der Vernunft in ihm waltete, und durch neue Verirrungen von der geraden Bahn des formaliter und logisch richtigen Raisonnements ihn zu dem materialiter einzig wahren Resultate wieder zurückleitete, zu welchem er durch richtige Folgerung aus den unrichtigen Zwischensätzen nie wieder hätte gelangen können; und wenn nicht oft das Gefühl durch Verursachung einer neuen Verirrung von der geraden Bahn des Raisonnements die alten Verirrungen berichtigte, und ihn nicht wieder dahin zurückleitete, wohin er durch richtige Folgerung nie wieder zurückgekommen wäre.

Also wird, wenn auch eine allgemein-geltende Wissenschaftslehre aufgestellt werden sollte, die philosophirende Urtheilskraft noch immer selbst in diesem Felde an ihrer fortdauernden Vervollkommenung zu arbeiten, – sie wird noch immer Lücken auszufüllen, Beweise zu schärfen, Bestimmungen noch näher zu bestimmen haben.

Noch habe ich zwei Anmerkungen hinzu zu setzen:

Die Wissenschaftslehre setzt die Regeln der Reflexion und[78] Abstraction als bekannt und gültig voraus; sie muss dies nothwendig thun, und sie hat sich dessen nicht zu schämen, oder ein Geheimniss daraus zu machen und es zu verstecken. Sie darf sich ausdrücken und Schlüsse machen, gerade, wie jede andere Wissenschaft; sie darf alle logischen Regeln voraussetzen, und alle Begriffe anwenden, deren sie bedarf. Diese Voraussetzungen geschehen aber bloss, um sich verständlich zu machen; also ohne die mindeste Folge daraus zu ziehen. Es muss alles Erweisbare erwiesen, – ausser jenem ersten und höchsten Grundsatze müssen alle Sätze abgeleitet werden So ist z.B. weder der logische Satz der Gegensetzung (des Widerspruchs, der alle Analyse begründet) noch der des Grundes (nichts ist entgegengesetzt, das nicht in einem dritten gleich wäre, und nichts ist gleich, das nicht in einem dritten entgegengesetzt wäre, welcher alle Synthesis begründet) vom absolut ersten Grundsatze, wohl aber von den beiden auf ihm beruhenden Grundsätzen abgezogen. Die beiden letzteren sind zwar auch Grundsätze, aber nicht absolute; es ist nur etwas in ihnen absolut. Diese Sätze demnach, sowie die logischen Sätze, die auf ihnen beruhen, müssen zwar nicht bewiesen, aber abgeleitet werden. – Ich mache mich noch deutlicher. – Das, was die Wissenschaftslehre aufstellt, ist ein gedachter und in Worte gefasster Satz; dasjenige im menschlichen Geiste, welchem dieser Satz correspondirt, ist irgend eine Handlung desselben, die an sich gar nicht nothwendig gedacht werden müsste. Dieser Handlung muss nichts vorausgesetzt werden, als dasjenige, ohne welches sie als Handlung unmöglich wäre; und das wird nicht stillschweigend vorausgesetzt, sondern es ist das Geschäft der Wissenschaftslehre, es deutlich und bestimmt, und als dasjenige aufzustellen, ohne welches die Handlung unmöglich seyn würde. Es sey z.B. die Handlung D die vierte in der Reihe, so muss ihr die Handlung C vorhergehen, und als ausschliessende Bedingung ihrer Möglichkeit (der Möglichkeit der Handlung C) erwiesen werden; und dieser muss wiederum die Handlung B vorhergehen. Die Handlung A aber ist schlechthin möglich, sie ist ganz unbedingt; und mithin darf und soll ihr gar nichts vorausgesetzt werden.[79]

– Das Denken der Handlung A aber ist ganz eine andere Handlung, die weit mehr voraussetzt. Setzet, dieses Denken sey in der Reihe der aufzustellenden Handlungen D, so ist klar, dass zum Behuf desselben A B C vorausgesetzt, und zwar, da jenes Denken das erste Geschäft der Wissenschaftslehre seyn soll, stillschweigend vorausgesetzt werden müssen. Erst im Satze D werden die Voraussetzungen des ersten erwiesen werden; aber dann wird wieder mehreres vorausgesetzt seyn. Die Form der Wissenschaft eilt demnach ihrem Stoff beständig vor; und das ist der oben angezeigte Grund, warum die Wissenschaft als solche nur Wahrscheinlichkeit hat. Das Dargestellte und die Darstellung sind in zwei verschiedenen Reihen. In der ersten wird nichts unerwiesenes vorausgesetzt; für die Möglichkeit des zweiten muss nothwendig vorausgesetzt werden, was sich erst später erweisen lässt.

Die Reflexion, welche in der ganzen Wissenschaftslehre, insofern sie Wissenschaft ist, herrscht, ist ein Vorstellen; daraus aber folgt gar nicht, dass alles, worüber reflectirt wird, auch nur ein Vorstellen seyn werde. In der Wissenschaftslehre wird das ich vorgestellt; es folgt aber nicht, dass es bloss als vorstellend vorgestellt werde: es können sich noch wohl andere Bestimmungen darin auffinden lassen. Das Ich als philosophirendes Subject ist unstreitig nur vorstellend; das Ich als Object des Philosophirens könnte wohl noch etwas mehr seyn. Das Vorstellen ist die höchste und absolut-erste Handlung des Philosophen als solchen; die absolut-erste Handlung des menschlichen Geistes könnte wohl eine andere seyn. Dass es so seyn werde, ist vor aller Erfahrung vorher schon darum wahrscheinlich, weil sich die Vorstellung vollkommen erschöpfen lässt, und ihr Verfahren durchgängig nothwendig ist; mithin einen letzten Grund seiner Nothwendigkeit haben muss, der als letzter Grund keinen höheren haben kann. Unter dieser Voraussetzung könnte eine Wissenschaft, die auf den Begriff der Vorstellung aufgebaut ist, zwar eine höchst nützliche Propädeutik der Wissenschaft, aber sie könnte nicht die Wissenschaftslehre selbst seyn. – So viel aber folgt aus der[80] obigen Angabe sicher, dass die gesammten Handlungsarten der Intelligenz, welche die Wissenschaftslehre erschöpfen soll, nur in der Form der Vorstellung – nur insofern, und sowie sie vorgestellt werden – zum Bewusstseyn gelangen.[81]


21

Es ist zu merken, dass von dieser Frage bis jetzt völlig abstrahirt worden, dass also alles Vorhergehende nach der Beantwortung derselben zu modificiren ist.

22

Es erhellet daraus, dass der Philosoph der dunklen Gefühle des Richtigen oder des Genie In keinem geringeren Grade bedürfe, als etwa der Dichter oder der Künstler; nur in einer anderen Art. Der letztere bedarf des Schönheits-, jener des Wahrheits-Sinnes; dergleichen es allerdings giebt. [Anmerkung zur 1. Ausgabe.]

Es hat sich – Ich sehe nicht recht ein, wie und warum – ein sonst achtungswürdiger philosophischer Schriftsteller über die unschuldige Aeusserung der obenstehenden Anmerkung ein wenig ereifert. »Man möge das leere Wort Genie Seiltänzern, französischen Köchen – schönen Geistern, Künstlern u.s.w. überlassen; und für solide Wissenschaften lieber also Theorie des Erfindens aufstellen.« – Ja wohl sollte man das; und es wird ganz sicher geschehen, sobald die Wissenschaft überhaupt bis zur Möglichkeit einer solchen Erfindung vorgerückt seyn wird. Aber inwiefern sieht denn die obige Aeusserung mit einem solchen Vorhaben in Widerspruch? – Und wie wird denn eine solche Theorie des Erfindens selbst erfunden werden? Etwa durch eine Theorie der Erfindung einer Theorie des Erfindens? Und diese? [Anmerkung zur 2. Ausgabe.]

23

Der Philosoph bedarf nicht bloss das Wahrheitssinnes, sondern auch der Wahrheitsliebe. Ich rede nicht davon, dass er nicht durch seine Sophisticationen, deren er sich selbst wohl bewusst ist, von denen er aber etwa glaubt, dass sie keiner seiner Zeitgenossen entdecken werde, die schon vorausgesetzten Resultate zu behaupten suchen solle; dann weiss er selbst, dass er die Wahrheit nicht liebt. Doch ist hierüber jeder sein eigener Richter, und kein Mensch hat ein Recht, einen anderen Menschen dieser Unlauterkeit zu bezüchtigen, wo die Anzeigen nicht ganz offen da liegen. Aber auch gegen die unwillkürlichen Sophisticationen, denen kein Forscher mehr ausgesetzt ist, als der Forscher des menschlichen Geistes, muss er aus seiner Hut seyn: er muss es nicht nur dunkel fühlen, sondern es zum klaren Bewusstseyn und zu seiner höchsten Maxime erheben, dass er nur Wahrheit suche, wie sie auch ausfalle und dass selbst die Wahrheit, dass es überall keine Wahrheit gebe, ihm willkommen seyn würde, wenn sie nur Wahrheit wäre. Kein Satz, so trocken und so spitzfindig er aussehe, muss ihm gleichgültig – alle müssen Ihm gleich heilig seyn, weil sie alle in das eine System der Wahrheit geboren, und jeder alle unterstützt. Er muss nie fragen: was wird hieraus folgen? sondern seines Weges gerade fortgehen, was auch immer folgen möge. Er muss keine Mühe scheuen, und sich dennoch beständig in der Fähigkeit erhalten, die mühsamsten und tiefsinnigsten Arbeiten aufzugeben, sobald ihm die Grundlosigkeit derselben entweder gezeigt wird, oder er sie selbst entdeckt. Und wenn er sich denn auch verrechnet hätte, was wäre es mehr? was träfe ihn weiter, als das bis jetzt allen Denkern gemeinschaftliche Loos?

24

Man hat die Bescheidenheit dieser Aeusserung der nachherigen grossen – Unbescheidenheit des Verf. entgegengestellt. Allerdings konnte derselbe unmöglich voraussehen, mit welcherlei Einwürfen, und welchem Vortrage dieser Einwürfe er es zu thun haben würde, und kannte die grössere Anzahl der philosophischen Schriftsteller bei weitem nicht so wohl, als er sie seitdem kennt; ausserdem würde er nicht verfehlt haben, sein betragen auch aus diejenigen Fälle, die wirklich eingetreten sind, vorher zu sagen. Inzwischen enthält die obige Aeusserung nichts, was mit seinem nachherigen Benehmen in Widerspruch stünde. Er redet oben von Einwendungen gegen seine Folgerungen; aber so weit sind bis jetzt die Gegner noch nicht gekommen: sie streiten noch über den Grundsatz, d.h. über die ganze Ansicht, welche der Verf. der Philosophie giebt; und darüber findet, seiner damaligen und gegenwärtigen innigsten Ueberzeugung nach, gar kein Streit statt, wenn man nur weiss, wovon die Rede ist; und aus einen solchen Widerstreit hat er in der That nicht gerechnet Er redet von Einwendungen, die sich wenigstens das Ansehen der Gründlichkeit, das Ansehen, dass sie wirklich etwas beweisen, und nachweisen, geben; und dergleichen sind ihm von denjenigen, die seine vorgebliche Unbescheidenheit getroffen haben soll, nicht vorgekommen. – Hier ist die Erklärung, deren Nothwendigkeit der Verf. damals nicht voraussetzen durfte. Ein Geschwätz, dessen Urheber die nöthigen Vorerkenntnisse nicht erworben, und die nöthigen Vorübungen nicht angestellt haben, dem man es sogleich anhört, dass sie nicht wissen, wovon die Rede ist, dass in einem bellenden und geifernden Tone vorgebracht wird, dass da es unmöglich aus Ueberzeugung und aus Eifer für den Fortgang der Wissenschaften hervorgehen kann, aus anderen nichtswürdigen Bewegungsgründen (Eifersucht, Rachsucht, Ruhmsucht, Honorariensucht u. dergl.) entspringen muss, – ein solches Geschwätz verdient nicht die geringste Schonung, und die Entgegnung darauf gehört gar nicht unter die Regel wissenschaftlicher Streite.

Warum machen diese Ausleger aus diesen und ähnlichen Aeusserungen nicht vielmehr den Schluss – den einzigen, welcher Statt hat – dass der Ton, der ihnen so misfällt, lediglich durch den ihrigen entstanden ist? [Anmerkung zur 2. Ausgabe.]

Quelle:
Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Band 1, Berlin 1845/1846.
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