§ 29.

[72] Wir fassen alles Bisherige in ein gemeinschaftliches Resultat zusammen.

1) Das Wissen, wenn es sich selbst anschaut, findet sich als ein inneres für und in sich Entspringen. Wenn es sich anschaut, sage ich: denn ebensowohl, wie es überhaupt nicht seyn könnte, kann es auch nicht für sich seyn. Seine Duplicität hängt ebensowohl ab von der Freiheit, als seine Simplicität. Der Eingang der Wissenschaftslehre ist Freiheit; darum kann sie sich nicht aufdringen, als ob sie jemand in seinem wirklichen Wissen schon hätte, und sie ihm aus demselben nur durch Analyse entwickelt werden könnte, sondern sie beruht auf einem absoluten Acte der Freiheit, auf einer neuen Schöpfung.

Es schaut sich – dies ist ein zweiter Theil unserer Behauptung – ferner an als absolut entspringend; wenn es ist, seyend, schlechthin weil es ist, durchaus keine Bedingung seiner Wirklichkeit voraussetzend. Diese Einsicht der Absolutheit, dieses Wissen des Wissens von sich selbst und, was davon unabtrennlich ist, ist absolut, ist Vernunft. Das blosse einfache Wissen, ohne dass es sich wiederum als Wissen fasse,[72] mag es übrigens auf das Mannigfaltigste im Denken sich bewegen, ist Verstand. Das gewöhnliche, auch philosophische, Wissen versteht allerdings nach Vernunft- (Denk-) Gesetzen, gezwungen dazu, weil es ausserdem gar nicht Wissen wäre: es hat also Vernunft, aber es fasst nicht die Vernunft. Diesen Philosophen ist ihre Vernunft nicht innerlich, für sich geworden; sie ist ausser ihnen, in der Natur, in einer wunderlichen Naturseele, die sie Gott nennen. Ihr Wissen (Verstehen) setzt daher Objecte d. i. eben die entäusserte Vernunft. Alle ihre blosse Verstandesgewissheit setzt ins Unendliche ein anderes Gewisses voraus; sie können über den Rückschritt ins Unendliche nicht hinaus, weil sie den Quell der Ungewissheit, das absolute Wissen, nicht kennen. Ihr (nur verständiges) Handeln setzt einen Zweck auch die entäusserte Vernunft von einer anderen Seite, voraus, und schon diese ganze Spaltung der Vernunft in theoretische und praktische, in der praktischen die Spaltung in den Gegensatz von Object und Zweck, entsteht aus Vernachlässigung der Vernunft.

2) In dieser Anschauung des Entspringens entsteht nun dem Wissen ein Nichtseyn, das sich an das erste gleichsam – dies ohne Zuthun der Freiheit – anlegt, und inwiefern dieses Entspringen ein absolutes ist, ein absolutes, nicht weiter zu erklärendes oder abzuleitendes Nichtsein. Das Nichtsein soll dem Entspringen, als factischem, vorausgehen: vom Nichtseyn soll zum Seyn fortgegangen werden, nicht umgekehrt. (Auch dieses Anlegen und seine Ordnung beruht auf der unmittelbaren Anschauung, keinesweges auf einem höheren Satze, Erkenntniss oder dgl. Freilich wird Jeder sagen: es ist ja natürlich, dass einem Ursprunge, wenn er ein wirklicher, absoluter Ursprung seyn soll, ein Nichtseyn vorausgehe; dies sehe ich unmittelbar ein. Wenn er aber zum Beweise angehalten wird, wird er ihn zu führen nicht vermögen, sondern sich auf absolute Gewissheit berufen. Sein Satz ist also unsere absolute Anschauung, in Worten ausgedrückt, und gründet sich auf sie, keinesweges, dass sie sich auf ihn gründen sollte; unsere Lehre bleibt in der Anschauung.[73]

3) Nun lasse man dieses also beschriebene Wissen wiederum auf sich reflectiren, oder in sich und für sich seyn. Dies kann es schlechthin, so gewiss alles Wissen es kann, laut der längst nachgewiesenen Grundform desselben; – nicht aber muss es dies. Wenn aber nur die erste und Grundanschauung dauerhaft und stehend, nicht etwa nur wie ein Blitzfunke, der sogleich wieder verschwindet und der ersten Dunkelheit Platz macht, vollzogen wird: so erfolgt diese Reflexion von selbst; ja sie ist nichts Anderes, als das zum Stehen Bringen jener Anschauung selbst.

Zuvörderst diese Reflexion oder dies neue Wissen, als erfassend das absolute Wissen als solches, kann nicht über dasselbe hinausgehen, noch es weiter erklären wollen, durch dasselbe gleichsam hindurchdringen, so dass das Wissen nie zu Ende käme. Es bekommt einen festen Standpunct, ein ruhendes, unveränderliches Object. (Dies ist sehr bedeutend.) So viel über ihre Form; sprechen wir von ihrem Inhalte.

Es ist sodann offenbar ein Doppeltes des Wissens in ihr, theils des absoluten Entspringens, theils des daran sich anlegenden Nichtseyns, oben, alles Wissens, hier, da in der Reflexion doch davon gewusst wird, nur des Entspringens, also eben eines ruhenden absoluten Seyns, das dem Wissen entgegengesetzt ist, und von dem das Wissen ausgeht in seinem Entspringen.

4) Sehen wir auf das Verhältniss dieses Doppelten in der Reflexion darauf. Das Fassen des absoluten Seyns ist ein Denken, und inwiefern darauf reflectirt wird, ein inneres Denken, Denken für sich. Dagegen ist das Fürsich des Entspringens eine Anschauung. Nun ist weder das Eine noch das Andere für sich reflectirt, sondern Beides ist reflectirt, als das absolute Wissen. Beides müsste daher wieder in seinem Verhältnisse, und zwar als das absolute Wissen zusammengefasst werden. Zuvörderst, da die Freiheit für sich ist ein unbestimmtes Quantitiren, sie aber durch das absolute Seyn (ursprüngliche Denken oder wie man will) zufolge des ersten Gliedes ist, müsste diese Bestimmung im Wissen – im Wissen, sage ich, ausdrücklich,[74] als solchem, und hierdurch erhebt das Wissen sich über sich selbst, indem es sein, nur ihm immanentes Gesetz einsieht und es von dem Absoluten absondert, – die eines Quantitirens seyn.

Dies würde als absolutes Wissen gefasst, hiesse: irgend ein Quantitiren würde als das durch das absolute Seyn oder Denken geforderte unmittelbar begriffen, – und in diesem Zusammenfallen ginge erst das Bewusstseyn auf. Hoffentlich ist nun die ganze Sache klar, und Jeder kann durchaus beurtheilen, ob er sie versteht, wenn er nachfolgende Fragen beantworten kann und sie richtig beantwortet.

a. In welchem Standpuncte oder Focus hebt das absolute Wissen an, oder – welches dasselbe ist – wo steht alles relative Wissen still, ist zu Ende und hat sich selbst umfasst? Antwort: Im Wissen von einem bestimmten Quantitiren, als bestimmt durch das absolute Seyn (= A), weder im Wissen vom Quantitiren für sich, noch von der Bestimmung desselben durch das absolute Seyn, sondern in dem (nicht Indifferenz– sondern) Identitätspuncte beider – in der imperceptibeln, also nicht weiter ergreifbaren, erklärbaren, subjectivirbaren Einheit des absoluten Seyns und Fürsichseyns im Wissen, über welche selbst die Wissenschaftslehre nicht hinauskann.

b. Woher denn nun also im Wissen die Duplicität? Formaliter: aus dem absoluten Fürsich, nicht an sich Geheftetseyn, sondern aus sich Herausgehen dieses Wissens selbst, seiner absoluten Reflexionsform, die eben damit unendliche Reflexibilität in sich schliesst, das freie Vermögen des Wissens (daher seyn könnend oder auch nicht), jeden seiner Zustände objectivirend vor sich hinzustellen. Materialiter: dass dieses, nun ebenso gefundene, nicht erzeugte, Wissen – ein Denken einer absoluten Quantitabilität ist.

c. Woher denn also nun im Wissen das absolute Seyn und die Quantitabilität? Antwort: Eben aus einer Disjunction jenes Höheren, des Denkens und der Anschauung, – in der vor sich hinstellenden Anschauung oder Reflexion. (Das Wissen[75] findet sich und findet sich fertig: durchgeführter Realismus der Wissenschaftslehre.)

d. Ist denn nun die Anschauung dem Denken, oder das Denken der Anschauung gleich? Keinesweges: das Wissen macht sich zu keinem der beiden, sondern es findet sich als dieses Beides; ohnerachtet es sich, als in diesen beiden sich findend, allerdings macht, mit Freiheit (freier Reflexion) sich erhebt zu diesem höchsten Begriffe seiner selbst.

Hier ist nun bisher der Knoten des absoluten Misverständnisses gewesen. (Das werde ich nicht erleben, dass man dies versteht, d.h. durchdringt und anwendet!) – Das Wissen macht sich seinem Wesen, seiner Grundmaterie nach: – halber, ungründlicher Idealismus. – Das Seyn, Objective, ist das erste; das Wissen, die Form des Fürsichseyns, folgt aus dem Wesen des Seyns: – leerer, nichts erklärender Dogmatismus. – Beides ist theils dem Begriffe nach auseinanderzuhalten, theils, dem Verhalten in der Wirklichkeit nach, schlechthin zu vermitteln und zu vereinigen, wie es hier geschehen ist: – transcendentaler Idealismus. – Nun aber ist dies gefundene Doppelte durchaus nichts Anderes, als was im Bisherigen Denken und Anschauung hiess in ihrer ursprünglichsten Bedeutung, und ihr Verhältniss zu einander, wovon sogleich.

e. Woher denn nun das Verhältniss beider zu einander im Wissen (- im Wissen, sagen wir, weil da allein ja ein Verhältniss seyn kann – )? Antwort: Daher, dass das Denken das in sich feste und unbewegliche ist, – durchdrungen vom Realen, vom Seyn, und dasselbe durchdringend (Subject-objectiv in ursprünglicher Einheit, Vernunft der Potenz, nach, daher absolute Wissbarkeit ist, die reale, substantielle Grundlage alles Wissens, u.s.w.): – dass die Anschauung aber die Beweglichkeit selbst ist, die jenes Substantielle zur Unendlichkeit des Wissens ausbreitet: dass also die letztere durch das erstere in Ruhe gebracht und dadurch allein für die Reflexion fixirt wird, ein absolutes und zugleich unendliches, inhaltsvolles, nicht vergängliches und in sich verschwindendes, Wissen wird.

Dies ist der Begriff des absoluten Wissens; und gleichfalls[76] ist erklärt – aus jener absoluten Form des Wissens (vgl. b.) – wie das Wissen (in der Wissenschaftslehre) sich selbst in seinem absoluten Begriffe ergreifen und durchdringen kann. Die Wissenschaftslehre erklärt in Einem Schlage und aus Einem Principe sich selbst und ihren Gegenstand, das absolute Wissen, ist also selbst der höchste Focus, die Selbstvollziehung und Selbsterkenntniss des absoluten Wissens, als solchen; und trägt daran das Gepräge eigener Vollendung.[77]

Quelle:
Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Band 2, Berlin 1845/1846, S. 72-78.
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