Elfte Vorlesung

[156] [Materiale des absoluten Staats.]


Ehrwürdige Versammlung!


Zu bestimmen, auf welcher Stufe seiner Entwickelung der Staat im gegenwärtigen Zeitalter stehe, ist unsere Aufgabe, für deren Lösung die zunächst vorhergehenden Untersuchungen und Erörterungen unternommen wurden. Zuvorderst war die blosse Form des Staats, d.h. was überhaupt dazu gehöre, dass man nur im allgemeinen sagen könne, der Staat existire, anzugeben: und dieses ist in der letzten Stunde geschehen. – Sollte Einzelnen[156] diese Erörterung zu speculativ geschienen haben, – so dass sie ihnen um deswillen entweder schon damals nicht ganz klar geworden, oder dass sie ihnen nur jetzt nicht mehr ganz gegenwärtig sey; – so könnte dies meines Erachtens nur daher kommen, dass bei Auffassung der Staatsform der Blick über eine zu grosse Menge von Individuen, höchst verschieden in Ansehung äusserlicher Eigenschaften, zerstreut wird, und diesem Blicke dennoch angemuthet, diese Menge von Individuen als ein unzertrennliches organisches Ganzes zu fassen. Für den Verstand ist durch diese Menge und Verschiedenheit der Einzelnen das Geschäft des Zusammenfassens nicht schwieriger geworden; aber die Einbildungskraft, und noch mehr die gewöhnliche, nur auf den Verschiedenheiten der Individuen und Stunde haftende Ansicht ermüdet, wenn sie nicht schon einen gewissen Grad der Uebung erhalten hat. Um nun also denen, die allenfalls in der vorigen Stunde uns nicht ganz verstanden hätten, heute unseren Gedanken vollkommen klar zu machen, und anderen, denen das Ganze nur nicht mehr völlig gegenwärtig ist, es in Einem Blicke wieder vor die Augen zu bringen: – lassen Sie uns unsern Begriff an dem Beispiele einer kleineren Verbindung darstellen, welche keinesweges selbst der Staat sey, der wir aber die Form desselben, worauf allein es uns hier ankommt, lassen wollen.

Denken Sie sich eine Vereinigung mehrerer natürlicher Familien zu einer einzigen, die von nun an eine künstliche Familie wäre, – etwa durch einen Vertrag entstanden. Ihr Zweck könnte kein anderer seyn, als der: durch gemeinschaftliche Arbeit ihr physisches Daseyn, so gut es irgend möglich sey zu erwerben und zu erhalten; und darum wäre die Verbindung durchaus kein Staat, der keinesweges eine ökonomische Gesellschaft ist, und der einen ganz anderen Zweck hat, als den der blossen physischen Erhaltung der Individuen. Doch soll diese Familiengesellschaft im allgemeinen die Form des Staates tragen. Dies ist nur möglich auf folgende drei Weisen. Entweder sind alle Mitglieder der Gesellschaft verbunden, alle Kraft und Zeit lediglich auf Arbeit für die ganze Familie aufzuwenden, so dass sie durchaus für nichts weiter sorgen können; dagegen[157] aber haben auch alle ohne Ausnahme an den Gütern und Genüssen des Ganzen den gleichen Antheil: – es ist gar nichts im Hause, das nicht für alle sey, und das nicht auch wirklich, falls nur die Bedingung eintritt, für jeden aufgewendet werde. Dass jeder alle seine Kraft für die Familie aufwende, habe ich gesagt: es versteht sich, soviel er an Kraft besitzt. Es ist nicht verstattet, dass der Eine sage: ich bin stärker als alle übrigen, leiste darum dem Ganzen mehr, und muss eben darum auch im Genusse etwas vor den übrigen voraus haben; denn die Vereinigung und Verschmelzung aller zu einem Ganzen ist durchaus unbedingt; – dass dieser eben der stärkste ist, ist zufällig; wäre er der schwächste, so würde für ihn nicht weniger gesorgt seyn; oder wird er durch Zufall einst schwach oder krank, so dass er gar nichts mehr leisten könnte, so wird immer auf dieselbe Weise für ihn gesorgt seyn. – Wäre die vorausgesetzte Familienverbindung also organisirt, so trüge sie die absolute Form des Staats, sowie diese der Vernunft zufolge seyn soll, bestehend in der Gleichheit der Rechte aller.

Oder die Errichtung der vorausgesetzten Gesellschaft könnte also seyn, dass zwar vielleicht, – denn wir können diesen Punct sogar unbestimmt lassen, – dass, sage ich, vielleicht alle ohne Ausnahme alle ihre Kraft aufzuwenden hätten; auch keiner sey, dem nicht der Mitgenuss eines Theils dessen, was durch die gemeinschaftliche Arbeit gewonnen wird, zugesichert wäre; dennoch aber etwa das Edelste und Kostbarste dieses Ertrages der gemeinschaftlichen Kraft nur einigen welligen zu Theil würde, und die übrigen vom Mitgenusse desselben ausgeschlossen blieben. Es würde sich in diesem Falle ergeben, dass die ausgeschlossenen bei ihrer Kraftanwendung nur zum Theil für das Ganze, zum Theil aber nicht für dasselbe, zu welchem sie ja auch gehören, sondern nur für die wenigen Begünstigten gearbeitet hätten; und dass sie sonach, zwar nicht durchaus, aber doch in dieser letzteren Rücksicht, blosses Mittel für den Zweck dieser anderen wären. Diese Einrichtung würde die zweite mögliche Form des Staats vorstellen: die Gleichheit zwar des Rechts aller, keinesweges aber ihrer Rechte. Endlich konnte man sich die Verbindung also denken, dass[158] mehrere Mitglieder mit allen ihren Kräften arbeiteten, um einen stehenden und festen Vermögenszustand hervorzubringen; einige andere aber weder selbst Hand anlegten, noch auch die Arbeit jener leiteten, oder auf irgend eine Weise sich darum bekümmerten; – nur dass sie von Zeit zu Zeit kämen, und von den verarbeiteten Gütern so viel an sich rissen, als ihnen etwa leicht zugänglich wäre und gelüstete; ganz nach eigener Willkür, höchstens darauf sehend, dass die arbeitende Gesellschaft nicht ganz zu Grunde ginge; zu welcher Vorsicht jedoch sie abermals keiner zwingen könnte. Dieser Zustand der Gesellschaft trüge die Form der ersten Stufe der Entwickelung des Staats: die absolute Unterthänigheit der mehreren unter den eigenliebigen Zweck der wenigeren, und die absolute Rechtslosigkeit aller. – Dies wäre ein Bild der aufgezählten möglichen drei Grundformen der Staatsverfassung.

Von dieser Staatsverfassung, und der durch sie geforderten persönlichen und bürgerlichen Freiheit, unterschieden wir streng die Regierungsverfassung, und die mit ihr zusammenhängende politische Freiheit. Auch dasjenige, was wir über das Letzte beibrachten, lässt an unserem aufgestellten Bilde sich deutlich machen. – Nemlich alle durch die vorausgesetzte Familienverbindung vereinigten Kräfte sollten auf Erreichung des gemeinsamen Zwecks der ganzen Verbindung gerichtet werden. Dies kann nur dadurch geschehen, dass ein einiger Wille ihrer aller Kraftanwendung leite, – bestimme, was für die Zwecke der Gesellschaft jedesmal zuerst geschehen solle, und was hernach, was unausbleiblich geschehen müsse, und was allenfalls, wenn Zeit und Kraft nicht hinreichten, unterlassen werden könne: – ein Wille, welcher jeden an seinen Platz stelle, damit seine Kraftanwendung die der übrigen nicht störe, sondern unterstütze; – ein Wille endlich, dem jedes Individuum, in Rücksicht seiner Kraftanwendung für die Zwecke der Gesellschaft, seinen eigenen Willen unbedingt unterwerfe. Woher soll nun dieser Eine, den Willen Aller leitende Wille kommen? – Entweder alle nur mündigen Mitglieder der Gesellschaft versammeln sich, so oft es einer neuen Bestimmung über das Interesse der Gesellschaft bedarf; jeder ohne Ausnahme sagt, so gut er es[159] versteht, seine Meinung über die vorliegende Frage; und nach einer hinreichenden allgemeinen Ueberlegung entscheidet die Mehrheit der Stimmen: welcher Entscheidung von nun an jeder sein unseres Handeln unterwerfen muss, – was er nun auch von der Richtigkeit derselben im Herzen denken möge. Ist die Gesellschaft so eingerichtet, so hat, dem Rechte nach, jeder den gleichen Antheil an dem Ermessen des gemeinsamen Zwecks, welches Ermessen im Staate die Regierung heisst: und es ist sodann diejenige Freiheit, welche in Beziehung auf den Staat die politische genannt wild, dem Rechte nach unter alle gleich vertheilt. – Dem Rechte nach, habe ich, sowie in der vorigen Rede in Beziehung auf den Staat, so hier in Beziehung auf die fingirte Familienverbindung allemal mich ausgedrückt: denn, falls etwa jemand wäre, der nie den übrigen einleuchtende Gedanken über das Beste des Ganzen hätte, oder die, welche er hätte, nur nicht darzustellen vermöchte: so würde er in der Wirklichkeit selten oder nie Einfluss auf die Bestimmung des endlichen Beschlusses haben; aber er wäre von diesem Einflusse keinesweges durch das Recht, sondern nur durch seine eigene Unfähigkeit ausgeschlossen.

Oder der zweite Fall: – die Gesellschaft hat einem Ausschusse von wenigen Mitgliede, oder auch wohl einem einzigen Mitgliede, die Oberaufsicht und Leitung des Ganzen übertragen; so folgt aus dieser Uebertragung: dass sie selbst alles eigenen Ermessens und Urtheilens über die Verwaltung – es versteht sich so, dass nach diesem Ermessen wirklich gehandelt werde; denn bei sich selber denken, und allenfalls auch reden, mögen sie was sie wollen – dass sie, sage ich, sich alles eigenen Ermessens und Urtheilens über die Verwaltung begeben, und dem Willen ihres bevollmächtigten, Ausschusses oder einzelnen Mitgliedes, ihren wirklich thätigen Willen unbedingt unterworfen haben. Bei dieser Verwaltungsweise des Gesellschaftszweckes findet nun das, was im Staate politische Freiheit heisst, durchaus nicht statt, sondern in dieser Rücksicht nur Unterthänigkeit. Dennoch ist, wenn nur alle ohne Ausnahme an allen Gütern der Gesellschaft den gleichen Antheil haben, und wirklich nach der bestmöglichsten Einsicht alle Kräfte auf diesen gemeinsamen[160] Genuss aller, keinesweges aber auf irgend einen Privatgenuss gerichtet werden, die Einrichtung der Gesellschaft völlig rechtsgemäss; und diese Gesellschaft hat durch die Uebertragung der Verwaltung an wenige oder Einen nichts verloren, sondern vielmehr gewonnen, indem so viele Mitglieder, die ohnehin nichts zum gemeinen Nutzen taugliches in der Versammlung vorgebracht haben würden, gar nicht mehr genöthigt sind, mit Besuchung derselben ihre Zeit zu verlieren, sondern statt dessen ruhig fortfahren können, dasjenige zu treiben, was sie verstehen.

Soviel als gegenwärtig durch das aufgestellte Bild erläutert werden sollte, haben wir in der vorigen Rede über die Form des Staats, oder über die Frage, was dazu gehöre, dass nur überhaupt ein Staat sey, beigebracht. Aber, setzten wir damals hinzu, ein besonderer Staat, oder der Staat in einem besonderen Zeitalter ist auch danach zu bestimmen, ob und inwiefern der wahre Zweck aller Staaten, – oder, im Gegensatze mit der Form, ob und inwieweit das Materiale des Staats in ihm erreicht werde. Auch dieses Materiale des Staats müssen wir weiter erörtern, ehe wir die historische Ableitung beginnen können: wie der Staat allmählig auf diejenige Stufe gekommen, auf der er, unseres Erachtens, gegenwärtig steht.

Der Zweck des Staats ist, wie schon in der letzten Rede angezeigt worden, kein anderer, als der der menschlichen Gattung selber: dass alle ihre Verhältnisse nach dem Vernunftgesetze eingerichtet werden. Nun wird der Staat erst nach dem Zeitalter der Vernunftwissenschaft, in dem der Vernunftkunst, diesen Zweck mit klarem Bewusstseyn sich denken. Bis dahin fördert er ihn immerfort ohne sein eigenes wissen oder besonnenes Wollen; – getrieben durch das Naturgesetz der Entwicklung unserer Gattung, und indess er einen ganz anderen Zweck im Gesichte hat; an welchen seinen Zweck die Natur jenen ersten, den der gesammten Gattung, unabtrennlich gebunden. Der erwähnte eigene und natürliche Zweck des Staats in den früheren Epochen, vor dem Zeitalter der Vernunftwissenschaft, ist, gerade wie bei einzelnen denselben der der Selbsterhaltung; darum, da ja der Staat nur in der Gattung besteht, die Erhaltung[161] der Gattung, und, da die Gattung fortschreitend sich entwickelt, die Erhaltung derselben auf jeder Stufe ihrer Entwickelung: beides zuletzt Genannte, ohne dass der Staat es sich deutlich denkt. Mit Einem Worte: der Zweck des Staats, sich selbst zu erhalten, und der Zweck der Natur, die menschliche Gattung in die äusseren Bedingungen zu versetzen, in denen sie mit eigener Freiheit sich zum getroffenen Nachbilde der Vernunft machen könne, fallen zusammen; und indem auf die Erreichung des ersteren hingearbeitet wird, wird zugleich der letztere erreicht.

Lassen Sie uns dieses im Einzelnen zeigen.

In der Mischung aus ursprünglicher Cultur und aus ursprünglicher Wildheit, – aus welcher Mischung nach obigem die allein einer Entwickelung fähige menschliche Gattung besteht, – ist der allererste und nächste Zweck der: dass die Wilden cultivirt werden. Wiederum, wo es auch nur zu den ersten Anfängen eines Staats gekommen, dass Freie anderen Freien auf Bestand und nach einer Regel unterworfen werden, da ist schon Cultur: – künstliche nemlich, und durch Cultivirung hervorgebrachte, keinesweges etwa die ursprüngliche des Normalvolks, von der wir hier nicht reden; – und wir können deswegen den Staat, besonders den in jedem Zeitalter als Staat vollkommensten, zugleich als den Sitz der höchsten Cultur desselben Zeitalters betrachten. Mit den Zwecken dieser Cultur steht nun die Wildheit allenthalben, wo sie mit ihnen zusammentrifft, im Widerspruche und bedroht unaufhörlich die Erhaltung des Staats; der Staat befindet sich demnach schon durch den Zweck seiner Selbsterhaltung in natürlichem Kriege gegen die ihn umgebende Wildheit, und ist genöthigt, ihr soviel Abbruch zu thun, als er immer kann; welches letztere gründlich nur dadurch möglich ist, dass er die Wilden selber in Ordnung und unter Gesetz bringe, und insofern sie cultivire. Der Staat befördert sonach, nichts denkend als sich selber, dennoch mittelbar den allerersten Zweck der menschlichen Gattung. Dieser natürliche Krieg aller Staaten gegen die sie umgebende Wildheit ist für die Geschichte sehr bedeutend; fast er allein ist es, der ein lebendiges und[162] fortschreitendes Princip in dieselbe bringt; wir werden auf dieses Princip zurückkommen, und ich ersuche daher, es zu merken. – Selbst alsdann, nachdem das allgemeine Reich der Cultur so mächtig geworden, dass es von der auswärtigen Wildheit nichts mehr zu befürchten hat – nachdem es vielleicht durch weite Meere davon getrennt ist –, wird dennoch dieses Reich die Wilden, die zu ihm nicht mehr kommen können, selber aufsuchen, getrieben durch seine eigene innere Bedürftigkeit – um die von jenen nicht gebrauchten Producte ihrer Länder oder ihren Boden an sich zu nehmen, oder selbst ihre Kräfte, theils unmittelbar durch Sklaverei, theils mittelbar durch einen bevortheilenden Handel, sich zu unterwerfen. So ungerecht diese Zwecke auch an sich erscheinen mögen, so wird dennoch dadurch der erste Grundzug des Weltplans, die allgemeine Verbreitung der Cultur, allmählig befördert; und nach derselben Regel wird es unablässig so fortgehen, bis das ganze Geschlecht, das unsere Kugel bewohnt, zu einer einzigen Völkerrepublik der Cultur zusammengeschmolzen sey.

Ein zweiter nothwendiger Zweck der menschlichen Gattung ist der: dass die sie umgebene und auf ihre Existenz, so wie auf ihr Handeln, Einfluss habende Natur ganz. und vollkommen unter die Botmässigkeit des Begriffs gebracht werde. Keine Naturgewalt soll schaden, – soll die Zwecke der Cultur stören, oder die Resultate solcher Zwecke vernichten können; jede ihrer Aeusserungen soll sich im voraus berechnen lassen, und es sollen Vorkehrungsmittel gegen die Verletzung von ihnen vorhanden und bekannt seyn. Alle brauchbare Naturkraft soll genöthigt werden können, ganz nach der Absicht der Menschen und zum Nutzen derselben sich zu äussern. Die eigene Kraft des Menschen soll durch zweckmässige Vertheilung der nöthigen Arbeitszweige unter mehrere, deren jeder nur Eines, aber dieses recht lerne, durch Naturwissenschaft und Kunst durch schickliche Werkzeuge und Maschinen bewaffnet und über alle Naturgewalt erhöhet werden: so dass ohne viel Zeit- und Kraftaufwand alle irdischen Zwecke des Menschen erreicht werden, und er Zeit übrig behalte, um seine Betrachtung[163] in sein Inneres und auf das Ueberirdische zu wenden. Dies ist der Zweck der menschlichen Gattung als solcher.

Der Staat, je grösser der Theil der Kraft und der Zeit seiner Bürger ist, die er für seinen Zweck der Selbsterhaltung bedarf und in Anspruch nimmt, und je inniger er seine Mitglieder zu durchdringen und sie zu seinen Werkzeugen zu machen strebt; je mehr muss er, da er doch die physische Existenz seiner Bürger wollen muss, die Mittel dieser Existenz durch Erhöhung der beschriebenen Herrschaft über die Natur zu erweitern suchen: – er muss sonach alle die vorhergenannten Zwecke der Gattung um seines eigenen Zweckes willen zu seinen Zwecken machen. Er wird somit – wie man gewöhnlich diese Zwecke ausspricht, – die Industrie zu beleben, die Landwirthschaft zu verbessern, Manufacturen, Fabriken, das Maschinenwesen zu vervollkommnen, Erfindungen in den mechanischen Künsten und in der Naturwissenschaft zu ermuntern suchen. Möge man immer glauben, dass er dieses alles nur darum thue, um die Auflagen vermehren und eine grössere Armee halten zu können; – mögen sogar die Regierenden selber, wenigstens dem grösseren Theile nach, keines höheren Zwecks sich bewusst seyn; – dennoch befördert er ohne alles sein Wissen den angezeigten Zweck der menschlichen Gattung, als Gattung.

Der äussere Zweck jener Herrschaft der Gattung über die Natur ist, wie wir schon in einer unserer ersten Reden erinnert, wiederum ein doppelter: entweder nemlich soll die Natur bloss dem Zwecke unserer sinnlichen, leichteren und angenehmeren Subsistenz unterworfen werden, – welches die mechanische Kunst giebt; oder sie soll dem höheren geistigen Bedürfnisse des Menschen unterworfen, und ihr das majestätische Gepräge der Idee aufgedrückt werden, – welches die schöne Kunst giebt. Ein Staat, der noch für seine Selbsterhaltung vieles zu fürchten hat und grosser Anstrengungen bedarf, um diese zu sichern, wird zwar, wenn er auch nur zu den allerersten Einsichten in seinen wahren Vortheil gekommen, die mechanische Kunst, in dem weiteren Sinne, den wir diesem Ausdrucke oben gegeben, auf alle Weise befördern:[164] da er aber dieses thut, lediglich, um einen recht grossen Ueberschuss von Volkskraft für den Zweck seiner eigenen Sicherheit zu Gebote zu haben, so wird er diesen Ueberschuss auch lediglich für diesen Zweck anwenden, und für planmässige und allgemeine Beförderung der schönen Kunst, – oder auch wohl noch höherer Zwecke der Menschheit, – gar wenig übrig behalten. Erst nachdem der Staat, eben um seiner Selbsterhaltung willen, seinen Bürgern die Natur für den mechanischen Gebrauch unterworfen, und diese Bürger selbst im höchsten und gleichen Grade zu seinen Werkzeugen gemacht; – nachdem ferner das gesammte Reich der Cultur zu dem der Wildheit, und die besonderen Staaten in welche das erstere getheilt seyn mag, zu einander in ein solches Verhältniss gekommen sind, dass keiner mehr ängstlich um seine äusserliche Sicherheit besorgt seyn dürfe; – erst alsdann entsteht die Frage: worauf der bei der mechanischen Bearbeitung der Natur entbehrliche Ueberschuss von Volkskraft, der bisher der Sicherheit des Staats aufgeopfert wurde, und der, sowie alle Bürger, gänzlich in der Botmässigkeit des Staats ist, gerichtet werden solle? und es giebt keine andere Antwort auf diese Frage, als: dass er der schönen Kunst geweiht werden solle. Während des Krieges vermag die Kunst kaum aufzuleben, viel weniger aber unaustilgbar und nach einem sicheren Plane fortzuschreiten: Krieg aber ist nicht nur, wenn Krieg geführt wird, sondern die allgemeine Unsicherheit aller vor allen, und die daraus erfolgende immerwährende Bereitschaft zum Kriege, ist auch Krieg, und hat. für das Menschengeschlecht fast dieselben Folgen, als der geführte Krieg. Nur der wirkliche, d.h. der ewige, Friede wird die Künste, so wie wir dieses Wort verstehen, gebären.

Erst nachdem der Staat vollkommene äussere Sicherheit haben wird, sagte ich, wird ihm die Frage entstehen: worauf die, für seine bisherigen Zwecke, überflüssige Volkskraft gerichtet werden solle? Offenbar ist auch diese Frage eine durch den Zweck seiner Selbsterhaltung ihm aufgenöthigte Frage; in. dem er von einer so beträchtlichen Kraft, welche ungeleitet und unberechnet wäre, dennoch aber unmöglich ganz ruhen könnte, nur Störungen und Hindernisse in seinen berechneten[165] Planen, demnach die Aufhebung des bisher bestandenen inneren Friedens zu erwarten hätte, – und so zeigt es sich denn: wie in allen angeführten Rücksichten der Staat unter einer höheren, ihm vielleicht verborgenen Leitung stehe, und wie er, indess er nur seinen eigenen Zweck der Selbsterhaltung zu befördern glaubt, dennoch den höheren Zweck der Entwickelung des Menschengeschlechtes befördere.

Uebrigens haben wir den letzten Punct: wie und unter welchen äusseren Bedingungen der Staat sogar durch die Sorge für seine Selbsterhaltung genöthigt werde, die allgemeine und allen seinen Mitgliedern zugängliche schöne Kunst sich zum Zwecke zu machen, bloss um der Vollständigkeit willen angeführt; keinesweges aber, als ob diese Betrachtung in die Charakteristik der gegenwärtigen Zeit, oder irgend einer ihr vorhergegangenen Zeit gehöre. Sollte diese letzte Aeusserung jemanden, der an das viele Reden von Kunst, und von Beförderung der Kunst auch durch unsere Grossen, gedächte, befremden, so bitten wir einen solchen, zu bedenken: dass auch uns dieses Reden wohl nicht entgangen seyn möge; dass ebensowenig uns entgangen seyn könne, dass zweimal, zuerst durch einen besonderen Zusammenfluss von Umständen, worunter besonders einer, der nie wieder eintreten kann; ein andermal von der christlichen Kirche aus, eine Morgenröthe für die Kunst angebrochen, deren Strahlen noch bis auf den heutigen Tag in Nachbildungen fortleuchten; dass aber demohngeachtet das Wort: schöne Kunst, und besonders über die ganze Nation und alle Arbeitszweige derselben zu verbreitende schöne Kunst, bei uns eine andere Bedeutung haben dürfte, als die gewöhnliche: – über welche Bedeutung die ausführliche Rechenschaft zu geben, die zum Verständnisse erfordert würde, wir hier weder die Aufforderung haben, noch die Zeit.

Bis hierher und nicht weiter erstreckt sich die besonnene Beförderung des Vernunftzweckes durch den Staat, indess er nur seinen eigenen Zweck zu befördern scheint. Die höheren Zweige der Vernunftcultur: Religion, Wissenschaft, Tugend, können nie Zwecke des Staates werden. Nicht die Religion: von der abergläubischen Furcht vor der Gottheit. als einem menschenfeindlichen[166] Wesen, welche wohl die alten Völker auf den Gedanken brachte, dieselbe auch im Namen der Nation zu versöhnen, und so Nationalreligionen zu errichten, – ist hier nicht die Rede. Die wahre Religion ist so alt als die Welt, und darum älter als irgend ein Staat. Es lag in den Veranstaltungen der über die Entwickelung unseres Geschlechtes wachenden Vorsehung, dass diese wahre Religion zu rechter Zeit aus der Verborgenheit, in der sie bisher aufbewahrt worden, wieder hervorging und über das Reich der Cultur sich verbreitete; schon im voraus versehen mit dem Anspruche, dass der Staat über sie keine Gewalt habe; und den Regierenden als Bedingung ihrer Aufnahme in den Schooss dieser Religion anmuthend die Anerkenntniss, dass sie Gott unterworfen, und vor ihm mit jedem ihrer Unterthanen ganz gleich seyen; anheimfallend in Rücksicht ihrer Aufbewahrung und Verbreitung einer insofern vom Staate völlig unabhängigen Gesellschaft, der Kirche. Hierbei muss es nun nothwendig bleiben, eben weil die Regierenden sich selber von dem Bedürfnisse der Religion nie ausschliessen können: und hierbei wird es bleiben bis ans Ende der Tage. – Ebensowenig kann die Wissenschaft jemals ein Zweck des Staates werden. Es ist in dieser Rücksicht zuvörderst dasjenige, was Einzelne, Regierende oder Theilnehmer an der Regierung, aus eigener Vertrautheit und Interesse an Wissenschaft oder Kunst für dieselben thun, als Ausnahme von der Regel abzuziehen. Was aber den fortdauernden Gang und die Regel anbetrifft, so muss dem Staate, je mehr er seine Form verbessert und den Bürger vollständig zu seinem Werkzeuge macht, die strenge Wissenschaft, – weit über das gewöhnliche Leben erhaben, und auf dasselbe unmittelbar nicht einfliessend, – gerade umsomehr fremde werden, und ihm sogar als unnütze Vergeudung einer Kraft und einer Zeit erscheinen, die in seinem unmittelbaren Dienste weit besser angebracht würde; – und immermehr wird die Benennung: blosse Speculation, das sichere Zeichen der Verwerfung werden. Zwar würde sich leicht erweisen lassen, dass keiner ein überall brauchbarer und allenfalls über das Hergebrachte auch zum Neuen herauszugehen vermögender Staatsdiener seyn könne, der nicht erst in der Schule der ernsten Wissenschaft[167] gebildet worden. Aber diese Einsicht setzt entweder den Besitz der Wissenschaft selber, oder, falls es an diesem mangelt, eine Selbstverläugnung voraus, die sich nicht füglich anmuthen lässt. Bei dieser Tage der Sachen ist die strenge Wissenschaft glücklich genug, wenn sie: entweder durch eine Inconsequenz, oder durch die Hoffnung, dass über kurz oder lang die dürre Speculation doch zu mancher nützlichen Erfindung fuhren werde, oder unter dem Schutze der Kirche, oder etwa, da doch jederman gern lange leben und gesund seyn will, unter dem Schutze der Heilkunde, – vom Staate geduldet wird.

Endlich, auch die Tugend kann kein Zweck des Staates seyn. Die Tugend ist der dauernde, ohne alle Ausnahme waltende gute Wille, die Zwecke der menschlichen Gattung aus allen Kräften zu befördern, und besonders im Staate sie auf die von ihm angewiesene Weise zu befördern; die Lust und Liebe zu solchem Thun, und ein unüberwindlicher Widerwille gegen alles andere Handeln. Der Staat aber, in seiner wesentlichen Eigenschaft als zwingende Gewalt, rechnet auf den Mangel des guten Willens, sonach auf den Mangel der Tugend und auf das Vorhandenseyn des bösen Willens; und will durch die Furcht vor der Strafe den ersteren ersetzen den Ausbruch des letzteren unterdrücken. In dieser Sphäre streng sich haltend, braucht er auf Tugend nie zu rechnen, noch dieselbe für Erreichung seiner Zwecke in Anschlag zu bringen. Wären alle seine Mitglieder tugendhaft, so verlöre er seinen Charakter als zwingende Gewalt gänzlich, und würde bloss der Leiter, Führer und treue Rath der Willigen.

Dennoch befördert der Staat, – und zwar ohne es sich deutlich gedacht oder nur unter einer anderen Gestalt verdeckt, ausdrücklich zum Zwecke zu machen, – durch sein blosses Daseyn die Möglichkeit der allgemeinen Entwickelung der Tugend unter dem Menschengeschlechte dadurch, dass er äussere gute Sitte und Sittlichkeit, welche freilich noch lange nicht Tugend ist, hervorbringt. Unter einer alle Vergebungen gegen das äussere Recht der Mitbürger streng und ohne Ausnahme systematisch umfassenden Gesetzgebung und einer Verwaltung, welcher nie oder höchst selten die wirkliche Vergebung verborgen und[168] ohne die bestimmte, durch das Gesetz angedrohte Strafe bleibt, wird jeder Gedanke der Vergebung, als ohnedies vergeblich und zu nichts als zu gewisser Strafe führend, schon in der Geburt erdrückt. Lebe die Nation nur eine Reihe von Menschenaltern hindurch in Friede und Ruhe unter dieser Verfassung; werden neue Generationen, und die von ihnen wiederum abstammenden Generationen, in derselben geboren, und wachsen aufwachsend in sie hinein: so wird allmählig die Mode ganz ausgehen, zur Ungerechtigkeit auch nur innerlich versucht zu werden; und die Menschen werden ruhig und rechtlich ohne die äussere Erscheinung auch nur des mindesten bösen Willens untereinander leben; gleich als ob alle von Herzen tugendhaft wären, – da es doch vielleicht nur das dermalen freilich ruhende Gesetz ist, welches sie bändigt, und wir im Momente, da dieses aufgehoben würde, ganz andere Erscheinungen erblicken würden.

Man befürchte nicht mit gewissen Vernünftlern, die sich auch wohl Philosophen nennen, und welche die Tugend nur als einen blossen Gegensatz kennen und nur dem Laster gegenüber sie zu denken vermögen, – dass in einem solchen Zustande gar keine Tugend mehr möglich seyn werde. Meinen diese die äussere Handlung in der Gesellschaft, welche über das Gebot noch hinausgeht, und welche vielleicht aus innerer Tugend, vielleicht auch aus anderen Quellen entspringen kann; so haben sie ganz recht: im vollendeten Staate findet der Tugendhafte alles auf die Gesellschaft sich Beziehende, was er liebt und allein zu thun begehrt, auch schon äusserlich geboten, und alles, was er verabscheut und nie thun möchte, auch schon äusserlich verboten; in diesem Staate lässt sich über das Gebotene nie hinausgehen, und es ist in ihm aus der äusseren Handlung nie zu ermessen, ob jemand aus Liebe des Guten, oder ob er aus Furcht der Strafe und mit Widerwillen recht handle. Aber dieser äusseren Anerkennung bedarf auch die Tugend nicht; sie beruht in der Liebe zum Guten ohne alle Rücksicht darauf, dass es geboten ist, und in dem Widerwillen gegen das Böse ohne alle Rücksicht darauf, dass es verboten ist: sie genüget sich selbst, und ist im eigenen Bewusstseyn selig.[169]

Und so ist es denn immer zuzugestehen, dass durch die Vollendung aller Verhältnisse der menschlichen Gattung, und insbesondere durch die Vollendung des alle übrigen Verhältnisse umschliessenden Staates, alle freiwillige Aufopferung, aller Heroismus, alle Selbstverläugnung, kurz alles, was wir an dem Menschen zu bewundern pflegen, aufgehoben wird, und nur die Liebe des Guten, als das einige Unvergängliche, übrigbleibt. Zu dieser Liebe kann der Mensch nur mit Freiheit sich erheben; oder vielmehr, die Flamme derselben entzündet ganz von selbst sich in jedem Gemüthe, welches nur erst die Liebe des Bösen rein aus sich austilgte. Der Staat kann die Entwickelung dieser Liebe dadurch, dass er die entgegengesetzte Liebe des Bösen tief in das geheimste Innere der Brust zurückscheucht und ihr durchaus keine Vortheile verstattet, sondern eitel Nachtheil ihr zuwiegt, – lediglich erleichtern. In wessen Gemüthe diese Flamme der himmlischen Liebe sich entzündet, der schwebet, so gebunden er auch äusserlich erscheine, dennoch innerlich frei und selbstständig selbst über dem Staate; nicht dieser giebt dem Willen desselben das Gesetz, sondern sein Gesetz stimmt nur zufällig, und weil es das vollkommene Gesetz ist, mit dem Willen desselben überein. Diese Liebe, so wie sie das einige Unvergängliche ist und die einige Seligkeit, so ist sie auch die einige Freiheit; und nur durch sie wird man der Fesseln des Staates, so wie aller anderen Fesseln, die uns hienieden drängen und beengen, erledigt. Wohl den Menschen, dass sie für diese Liebe nicht die nur langsam sich vorbereitende Vollendung des Staates zu erwarten haben, sondern in jedem Zeitalter und unter allen Umständen jedes Individuum sich zu ihr erheben kann![170]

Quelle:
Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Band 7, Berlin 1845/1846, S. 156-171.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters
Philosophische Bibliothek Band 247: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Gustav Adolfs Page

Gustav Adolfs Page

Im Dreißigjährigen Krieg bejubeln die deutschen Protestanten den Schwedenkönig Gustav Adolf. Leubelfing schwärmt geradezu für ihn und schafft es endlich, als Page in seine persönlichen Dienste zu treten. Was niemand ahnt: sie ist ein Mädchen.

42 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon