Zwölftes Bruchstück

Der Denker

[51] 207

Beisammenwohnen fördert Furcht,

Gesiedeltsein Unsauberkeit;

Wo keiner siedelt, keiner wohnt,

Wohl darf's der Denker ausersehn.


208

Gebornes wer getilgt hat ungedeihbar,

Gebiert es neu sich, kein Erkeimen duldet,

Ihn heißt allein man, Denker ihn und Wandrer:

Er hat den Friedenspfad erschaut, der Seher.


209

Die Felder zählt er und ermißt die Saaten:

Befruchtend nimmer läßt er keines keimen,

Als Denker all sein Leben sieht er enden;

Ermessen mag er nicht und nimmer zählen.


210

Verstanden hat er innig alle Stätten,

Nicht eine will er irgend noch entdecken:

Als Denker unbegehrsam ist er gierlos,

Nie schwimmt er wieder, angelangt am Ufer.


211

Allüberwinder, Allerkenner, kundig,

Von allen Dingen ewig abgeschieden,

Verlassend alles, lebenswahngeläutert:

Ihn künden wohl die Weisen an als Denker.


[52] 212

Den Tiefbedachten, tugendecht Bewährten,

Der einig worden Schauung übt besonnen,

Entfesselt, unbeklommen, ohne Wahn besteht:

Ihn künden wohl die Weisen an als Denker.


213

Verschwiegen wandernd, einsam, unermüdlich,

Getadelt ob gepriesen unerschüttert,

Dem Löwen gleich, den kein Gelärm verschüchtert,

Dem Winde gleich, der nicht am Netze haftet,

Wie Lotus, den kein Tropfen kann beträufeln,

Der andern Lenker, unlenkbar von andern:

Ihn künden wohl die Weisen an als Denker.


214

Wer im Gewoge wie ein Pfeiler wuchs empor,

Vor wem die Menge murmelt leisen Flüsterton,

Wer gierentgangen sich erzeugte Sinngewalt:

Ihn künden wohl die Weisen an als Denker.


215

Wer Schwachen sich wie Starken gleich bestätigt,

Unheilsam Handeln fern hat abgewiesen,

Der Forscher, der ungrad und grad ergründet:

Ihn künden wohl die Weisen an als Denker.


216

Wer sich gebändigt, Böses hat verwunden,

Als Jüngling, als ein Mann in sich verschwiegen,

Selbst unverstörbar keinen mag verstören:

Ihn künden wohl die Weisen an als Denker.


217

Erlesne Kost, gemeine, überbliebne,

Nur Brocken braucht er, wer von Atzung andrer lebt,

Er hält es kein Beloben, kein Betadeln wert:

Ihn künden wohl die Weisen an als Denker.


[53] 218

Alleinig wandernd wer da keine Paarung will,

Noch jung an Jahren sich vernestelt nirgendwo,

Dem Rausche der Berückung abhold, abgekehrt:

Ihn künden wohl die Weisen an als Denker.


219

Der Welt Erforscher, fand er höchstes Heiltum,

Hin durch die Meeresflut entkam er über so,

Zerhieb den Knoten, ohne Fessel wahnversiegt:

Ihn künden wohl die Weisen an als Denker.


220

Ungleich sind beide fremd geworden Freunden hier,

Der Hausner, der sein Weib ernährt, und wer entsagt:

Um andrer Weh' bekümmern selten Hausner sich,

Der Wesen Wohl, ein Klausner denkt es immer aus.


221

Wie da ein Pfau, der blau behalste Hahn der Luft,

In Flugeseile folgen keinem Schwane kann,

So kann der Hausner eifern keinem Mönche nach,

Dem fernen Denker, der im Walde Schauung übt.

Quelle:
Die Reden Gotamo Buddhos. Bd. 3, Zürich/Wien 1957, S. 51-54.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Unsühnbar

Unsühnbar

Der 1890 erschienene Roman erzählt die Geschichte der Maria Wolfsberg, deren Vater sie nötigt, einen anderen Mann als den, den sie liebt, zu heiraten. Liebe, Schuld und Wahrheit in Wien gegen Ende des 19. Jahrhunderts.

140 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon