XIII

Anwendung des Vorigen auf Herrmann und Dorothea – Reine Objectivität dieses Gedichts – Erste Stufe derselben

[157] Wenn wir uns bisher bemühten, den grossen oder vielmehr den reinen und ächt dichterischen Styl demjenigen entgegenzusetzen, der nur mit Unrecht diesen Namen führt; so war es in der That nicht, bloss zu beweisen, dass das vorliegende Gedicht ungezweifelt dem ersteren angehört; diesen Beweis hätte uns die Empfindung des Lesers von selbst erlassen. Wir verweilten nur darum so lange bei der Entwicklung des Begriffs der Kunst, bei der Zergliederung ihrer Bestimmung und der Schilderung ihrer Wirkung, um desto voller[157] zu empfinden, was es heisst, dass der allgemeine Charakter aller Kunst so unverkennbar in demselben ausgeprägt ist, dass er dadurch zu seinem eigenthümlichen und unterscheidenden wird.

Was das letzte Ziel jedes künstlerischen Bemühens ist, dahin hat diess Gedicht in der That ein auffallendes und entschiedenes Streben, dahin gelangt es mit dem glücklichsten Erfolge. Der ächte Dichter, haben wir gesehn, wirkt allein auf die Einbildungskraft; er bestimmt sie, frei und gesetzmässig einen Gegenstand aus sich selbst zu erzeugen; er stellt einzelne Gestalten vor ihr auf und zeigt ihr in ihnen die Welt und die Menschheit in ihren letzten und grössesten Verbindungen. Gerade dasselbe erfährt auch der Leser Herrmanns und Dorotheens. Von dem ersten Gesange an fühlt er seine Phantasie mächtig angezogen; die einzelnen Theile der Handlung, die sich vor ihm bewegt, gehen wie von selbst aus ihr und aus einander hervor; er glaubt sich Theilnehmer des Familienkreises weniger Menschen und wird zu einer Höhe der Ansicht erhoben, über die er selbst bewundernd erstaunt.

Nicht Worte sind es, die seinem Ohre nachhallen, nicht einzelne Gedanken und Aussprüche, die sich, aus dem Ganzen herausgerissen, seiner Seele eingeprägt haben; so vieles ihm auch davon noch gegenwärtig geblieben ist, das die Erinnerung bei ähnlichen Vorfällen des Lebens zurückführen wird, so sind in dem Momente, wo er dem Dichter bis ans Ende gefolgt ist, es doch nur die Sache, die Handlung, die Personen, die lebendig vor ihm dastehen.

Er sieht den Jüngling, dessen Gefühle bis dahin unentfaltet, ihm selbst unbewusst, gebunden schlummerten, durch eine plötzlich auflodernde Leidenschaft von den Banden befreit, die sein Inneres hemmten, sieht, da dieser Zauber in ihm gelöst ist, die edelsten und höchsten Entschlüsse in ihm aufkeimen, sieht ihn beim ersten Blicke das Mädchen erkennen, das die Natur für ihn bestimmt hat, und sich mit reinem Vertrauen dieser Empfindung überlassen; sieht das Mädchen, das, muthig und thätig, in eigner Bedrängniss noch hülfreich ist, eitlen Hofnungen nicht träge vertraut, in[158] wahrer Noth nicht feige verzweifelt, edler Liebe nicht unempfänglich stille Wünsche im bescheidenen Busen birgt, aber, wenn ihr Ehrgefühl aufgeregt wird, mit weiblichem Muth die verborgensten Falten ihres Herzens aufdeckt; sieht die Menschheit, wie sie in allen ihren Formen reine und grosse Charaktere bewahrt, wie sie einzeln vertheilt, was verbunden in geschlossenem Kreise innere Vollendung mit äusserer Zufriedenheit paart; sieht endlich das Schicksal, wie es Individuen und Nationen auseinanderschleudert, aber nichts gegen die unermüdliche Kraft des Menschen vermag, der, wo es ihn hinwirft, immer wieder von neuem Fuss fasst, sich von neuem eine Hütte baut, neue Bande knüpft, sich ein neues Glück und neue Freuden schaft.

So vollkommen objectiv hat der Dichter seinen Stoff behandelt. So ist es immer Ein Gegenstand, der ihn beschäftigt, und dieser Eine rein erzeugt durch die Einbildungskraft.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 157-159.
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