XIV

Zweite Stufe der Objectivität unsres Gedichts – Verwandtschaft seines Styls mit dem Styl der bildenden Kunst

[159] Kein Begriff ist in der Theorie der Kunst so wichtig, als der der Objectivität; keiner erfordert zugleich eine so genaue und ausführliche Erörterung.

Denn eines Theils ist das Object der Kunst nie ein wirkliches Object und trägt daher immer nur gewissermassen uneigentlich diesen Namen. Die Kunst bleibt allein innerhalb des Kreises der Einbildungskraft, also innerhalb unsres Gemüths; es ist daher immer nur ein ideales Beziehen derselben Kraft auf die Natur und die Sache oder auf den Menschen und die Person. Von dieser Seite muss man sich zuerst vor Verwechslung und Irrthum hüten.

Dann aber ist dieser Begriff auch andren Theils von sehr verschiedenem Umfange. Denn obgleich jeder Künstler ohne Ausnahme objectiv seyn muss, so ist doch dem einen diess Gesetz noch strenger vorgeschrieben, als dem andren; es giebt einige, denen man, in Vergleichung mit andren, sogar[159] die entgegengesetzte Benennung geben könnte; und man muss daher immer genau unterscheiden, in welchem Umfange der Begriff der Objectivität genommen, welchem andren er gerade an der Stelle, wo er vorkommt, entgegengesetzt ist.

Diese Vorsicht ist um so nothwendiger, als jene Vieldeutigkeit des Begriffs nicht von einem irrigen Gebrauche desselben herrührt, sondern in der That in der Sache selbst wesentlich gegründet ist. Der Künstler soll den Menschen mit der Natur in die engste und mannigfaltigste Verbindung bringen. Um diess Geschäft ganz zu vollenden, muss er bald den äussern Gegenstand, bald die innere Stimmung stärker geltend machen. Ja selbst ohne diess zu wollen, kann er es kaum vermeiden. Da er, um einen Gegenstand durch die Einbildungskraft zu erzeugen, zugleich bildend und stimmend verfahren, das Object darstellen und das Subject zubereiten muss, so kann er in dem Verhältniss, in dem er sich zwischen dieser doppelten Arbeit vertheilt, unmöglich immer dieselbe Gleichheit beobachten. Schwerlich findet man daher nur zwei Dichternaturen, die hierin vollkommen mit einander übereinstimmten.

Dennoch müssen sie alle eine gewisse Gränze bewahren. Schon im Allgemeinen dürfen sie weder den wirklichen Gegenstand selbst zeigen noch die Empfindung unmittelbar und anders, als durch die Einbildungskraft berühren; und noch engere Schranken bestimmen ihnen einzelne Gattungen der Kunst. Diese allgemeine Aehnlichkeit macht jenen besondren Unterschied fein und schwer zu entdecken.

Diese Betrachtungen war es nothwendig vorauszuschicken, um im Folgenden Misdeutungen vorzubeugen. Denn die Entwicklung der reinen Objectivität unsres Gedichts ist es, die uns jetzt zunächst beschäftigen muss.

Schon die Totalwirkung desselben beweist, wie emsig unser Dichter bemüht ist, bloss und allein die Form Eines Gegenstandes zu zeichnen. Im Einzelnen lässt sich diess nicht vollständiger zeigen, als dadurch dass man diese Objectivität von Stufe zu Stufe beschreibt und genauer beschränkt.[160]

Bisher haben wir nur der ersten erwähnt, nur derjenigen, auf welcher sich diess Gedicht als ein grosses und ächtes Kunstwerk bewährt, der Bestimmtheit, mit der es einen rein durch die Einbildungskraft erzeugten Gegenstand hinstellt.

Aber wie viel mehr ist das, was wir bei genauerer Betrachtung gewahr werden! Wenn wir länger bei demselben verweilen, wenn wir ihm in allen seinen einzelnen Theilen folgen, wenn wir dann sehen, wie vollendet alle Umrisse sind, wie fest sich jede Gestalt unsrer Phantasie einprägt, wie klar jede sich an die andre stellt, um zusammen eine schön geschlossene und leicht übersehbare Gruppe zu bilden; dann können wir uns nicht verläugnen, dass die Stimmung, mit der wir es verlassen, der Stimmung ähnlich ist, mit welcher sonst ihrer Gattung nach ganz verschiedene Künste, mit welcher die Werke der Mahlerei und der Plastik auf uns einwirken. Denselben Charakter trägt auch die Bewegung an sich, die es uns darstellt. Nirgends reisst uns dieselbe gleichsam in lyrischem Taumel mit sich fort; doch überall ist sie so lebendig und mannigfaltig, dass wir einer bewegten Welt zuzusehen meynen. Ueberall ist Handlung und Gestalt; wir fühlen so wenig, dass wir bloss Zuhörer des Dichters sind, dass wir unmittelbar vor dem Gemählde seines Pinsels zu stehen glauben.

Wir sehen daher hier eine höhere Stufe der Objectivität; wir erblicken die reinen Formen sinnlicher Gegenstände; wir können es als ein charakteristisches Merkmahl dieses Gedichts aufstellen, dass es mehr an die Forderungen und das Wesen der Kunst überhaupt und der bildenden insbesondre, als einseitig an die eigenthümliche Natur der Dichtkunst erinnert.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 159-161.
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