LXVIII

Charakter der Idylle in Rücksicht auf den Gegenstand, den sie schildert

[280] Diesem Unterschiede in der Wirkung, welche beide Dichtungsarten hervorbringen, entspricht zugleich ein analoger in ihren Objecten oder wenigstens in der Behandlung derselben.

Das Natur-Daseyn des Menschen kann sich nicht durch einzelne Handlungen, sondern nur durch den ganzen Kreis der gewöhnlichen Thätigkeit, durch die ganze Art des Lebens beweisen. Der Pflüger, der Hirt, der stille Bewohner einer friedlichen Hütte überhaupt kann nur selten (und dann geht er schon immer aus diesem Kreise heraus) auf einzelne bedeutende Unternehmungen stossen; was ihn bezeichnet, ist nicht, dass er heute dieses oder jenes gethan hat, sondern dass er es morgen wiederholt, dass er so zu leben und zu handeln gewohnt ist; man kann nicht von ihm erzählen, man muss ihn beschreiben. Das Object der Idylle ist daher immer ein Zustand, das der Epopee eine Handlung des Menschen; jene ist immer nur beschreibend, diese durchaus erzählend.

Daher ist alles, was nur durch gewaltsame Unternehmungen zu Stande kommt, so wie alles, was aus dem gewöhnlichen Kreise der Existenz und des Lebens herausgeht, Krieg und Blutvergiessen, jede heftige Leidenschaft, die unruhige Thätigkeit der Wissbegierde, ja der ganze Forschungsgeist überhaupt, welcher der Kenntniss der[280] Gegenstände manchmal ihr Daseyn aufzuopfern bereit ist, der Idyllenstimmung zuwider. Wie sollte der Mensch, dessen ganzes Wesen in der reinsten Harmonie mit sich selbst, seinen Brüdern und der Natur besteht, auch nur des Gedankens an eigenmächtige Zerstörung fähig seyn? wie sollte er, der alles, wessen er bedarf, in der Nähe um sich herum findet, unruhig in eine weite Ferne schweifen? was könnte er endlich noch bedürfen, ausser dem ruhigen Daseyn, dem Genuss und der Freude am Leben und dem stillen Bewusstseyn eines schuldlosen und unbefleckten Gewissens, ausser dem Glück überhaupt, welches die Natur und sein eignes Gemüth ihm von selbst und freiwillig darbieten? Wie die Natur selbst, muss sein Daseyn in ununterbrochener Regelmässigkeit hinfliessen, wie die Jahrszeiten selbst, müssen alle Perioden seines Lebens sich von selbst die eine aus der andern entwickeln, und wie gross der Reichthum und die Mannigfaltigkeit von Gedanken und Empfindungen sey, die er in diesem einfachen Kreise zu bewahren weiss, so muss doch darin die Harmonie das Uebergewicht behaupten, die sich nie in einer einzelnen Aeusserung zeigt, sondern deren Gepräge immer nur dem ganzen Leben, dem ganzen Daseyn aufgedrückt ist.

Der Idyllendichter schildert daher immer, seiner Natur nach, nur Eine Seite der Menschheit, und sobald er uns in den Standpunkt stellt, von dem wir auch die andre gleich klar übersehen, geht er aus seinem Gebiet heraus, und je nachdem er mehr einen ruhigen und allgemeinen Ueberblick oder durch die Vergleichung beider eine bestimmte Empfindung erregt, in das der Epopee oder das der Satyre über. Denn diese beiden Gattungen, die Idylle und die Satyre, die auf den ersten Anblick einander gerade entgegengesetzt scheinen, sind auf gewisse Weise nahe mit einander verwandt; und gerade in Satyrendichtern findet man die rührendsten und schönsten Stellen über die Reinheit und Unschuld des einfachen Naturlebens, die sonst allein der Idylle eigenthümlich sind. Beide, die Idylle sowohl als die Satyre, schildern das Verhältniss unsres Wesens zur Natur, (nur dass die erstere beide in Harmonie,[281] die letztere sie in Widerspruch zeigt), und beide schildern diess Verhältniss für die Empfindung.

Denn der Idyllendichter steht (und diess bildet wiederum einen mächtigen Unterschied zwischen ihm und dem epischen) offenbar dem lyrischen näher. Da er Einer Seite der Menschheit einen partheiischen Vorzug vor der andern ertheilt, so erregt er dadurch mehr die Empfindung, als er das intellectuelle Vermögen in Thätigkeit setzt, das, immer allgemein und unpartheiisch, immer auch ein Ganzes umfasst.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 280-282.
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