Anmerkung III

[153] Hieraus läßt sich nun ein leicht vorherzusehender, aber nichtiger, Einwurf gar leicht abweisen: »daß nämlich durch die Idealität des Raums und der Zeit die ganze Sinnenwelt in lauter Schein verwandelt werden würde«. Nachdem man nämlich zuvörderst alle philosophische Einsicht von der Natur der sinnlichen Erkenntnis dadurch verdorben hatte, daß man die Sinnlichkeit bloß in einer verworrenen Vorstellungsart setzte, nach der wir die Dinge immer noch erkenneten, wie sie sind, nur ohne das Vermögen zu haben, alles in dieser unseren Vorstellung zum klaren Bewußtsein zu bringen: dagegen von uns bewiesen worden, daß Sinnlichkeit nicht in diesem logischen Unterschiede, der Klarheit oder Dunkelheit, sondern in dem genetischen des Ursprungs[153] der Erkenntnisselbst, bestehe, da sinnliche Erkenntnis die Dinge gar nicht vorstellt, wie sie sind, sondern nur die Art, wie sie unsere Sinnen affizieren, und also, daß durch sie bloß Erscheinungen, nicht die Sachen selbst dem Verstande zur Reflexion gegeben werden: Nach dieser notwendigen Berichtigung regt sich ein aus unverzeihlicher und beinahe vorsätzlicher Mißdeutung entspringender Einwurf, als wenn mein Lehrbegriff alle Dinge der Sinnenwelt in lauter Schein verwandelte.

Wenn uns Erscheinung gegeben ist, so sind wir noch ganz frei, wie wir die Sache daraus beurteilen wollen. Jene, nämlich Erscheinung, beruhete auf den Sinnen, diese Beurteilung aber auf dem Verstande, und es frägt sich nur, ob in der Bestimmung des Gegenstandes Wahrheit sei oder nicht. Der Unterschied aber zwischen Wahrheit und Traum wird nicht durch die Beschaffenheit der Vorstellungen, die auf Gegenstände bezogen werden, ausgemacht, denn die sind in beiden einerlei, sondern durch die Verknüpfung derselben nach denen Regeln, welche den Zusammenhang der Vorstellungen in dem Begriffe eines Objekts bestimmen, und wie fern sie in einer Erfahrung beisammen stehen können oder nicht. Und da liegt es gar nicht an den Erscheinungen, wenn unsere Erkenntnis den Schein vor Wahrheit nimmt, d.i. wenn Anschauung, wodurch uns ein Objekt gegeben wird, vor Begriff vom Gegenstande, oder auch der Existenz desselben, die der Verstand nur denken kann, gehalten wird. Den Gang der Planeten stellen uns die Sinne bald rechtläufig, bald rückläufig vor, und hierin ist weder Falschheit noch Wahrheit, weil, so lange man sich bescheidet, daß dieses vorerst nur Erscheinung ist, man über die objektive Beschaffenheit ihrer Bewegung noch gar nicht urteilt. Weil aber, wenn der Verstand nicht wohl darauf Acht hat, zu verhüten, daß diese subjektive Vorstellungsart nicht vor objektiv gehalten werde, leichtlich ein falsches Urteil entspringen kann, so sagt man: sie scheinen zurückzugehen; allein der Schein kommt nicht auf Rechnung der Sinne, sondern des Verstandes, dem es allein zukommt, aus der Erscheinung ein objektives Urteil zu fällen.[154]

Auf solche Weise, wenn wir auch gar nicht über den Ursprung unserer Vorstellungen nachdächten, und unsre Anschauungen der Sinne, sie mögen enthalten was sie wollen, im Raume und Zeit nach Regeln des Zusammenhanges aller Erkenntnis in einer Erfahrung verknüpfen: so kann, nachdem wir unbehutsam oder vorsichtig sein, trüglicher Schein oder Wahrheit entspringen; das geht lediglich den Gebrauch sinnlicher Vorstellungen im Verstande, und nicht ihren Ursprung an. Eben so, wenn ich alle Vorstellungen der Sinne samt ihrer Form, nämlich Raum und Zeit, vor nichts als Erscheinungen, und die letztern vor eine bloße Form der Sinnlichkeit halte, die außer ihr an den Objekten gar nicht angetroffen wird, und ich bediene mich derselben Vorstellungen nur in Beziehung auf mögliche Erfahrung, so ist darin nicht die mindeste Verleitung zum Irrtum, oder ein Schein enthalten, daß ich sie vor bloße Erscheinungen enthalte; denn sie können dessen ungeachtet nach Regeln der Wahrheit in der Erfahrung richtig zusammenhängen. Auf solche Weise gelten alle Sätze der Geometrie vom Raume eben sowohl von allen Gegenständen der Sinne, mithin in Ansehung aller möglichen Erfahrung, ob ich den Raum als eine bloße Form der Sinnlichkeit, oder als etwas an den Dingen selbst Haftendes ansehe; wiewohl ich im ersteren Falle allein begreifen kann, wie es möglich sei, jene Sätze von allen Gegenständen der äußeren Anschauung a priori zu wissen; sonst bleibt in Ansehung aller nur möglichen Erfahrung alles eben so, wie, wenn ich diesen Abfall von der gemeinen Meinung gar nicht unternommen hätte.

Wage ich es aber, mit meinen Begriffen von Raum und Zeit über alle mögliche Erfahrung hinauszugehen, welches unvermeidlich ist, wenn ich sie vor Beschaffenheiten ausgebe, die den Dingen an sich selbst anhingen (denn was sollte mich da hindern, sie auch von eben denselben Dingen, meine Sinnen möchten nun auch anders eingerichtet sein, und vor sie passen oder nicht, dennoch gelten zu lassen?), alsdenn kann ein wichtiger Irrtum entspringen, der auf einem Scheine beruht, da ich das, was eine bloß meinem Subjekt[155] anhangende Bedingung der Anschauung der Dinge war, und sicher vor alle Gegenstände der Sinne, mithin alle nur mögliche Erfahrung galt, vor allgemein gültig ausgab, weil ich sie auf die Dinge an sich selbst bezog, und nicht auf Bedingungen der Erfahrung einschränkte.

Also ist es so weit gefehlt, daß meine Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit die ganze Sinnenwelt zum bloßen Scheine mache, daß sie vielmehr das einzige Mittel ist, die Anwendung einer der allerwichtigsten Erkenntnisse, nämlich derjenigen, welche Mathematik a priori vorträgt, auf wirkliche Gegenstände zu sicheren, und zu verhüten, daß sie nicht vor bloßen Schein gehalten werde, weil ohne diese Bemerkung es ganz unmöglich wäre auszumachen, ob nicht die Anschauungen von Raum und Zeit, die wir von keiner Erfahrung entlehnen, und die dennoch in unserer Vorstellung a priori liegen, bloße selbstgemachte Hirngespinste wären, denen gar kein Gegenstand wenigstens nicht adäquat korrespondierte, und also Geometrie selbst ein bloßer Schein sei, dagegen ihre unstreitige Gültigkeit in Ansehung aller Gegenstände der Sinnenwelt, eben darum, weil diese bloße Erscheinungen sind, von uns hat dargetan werden können.

Es ist zweitens so weit gefehlt, daß diese meine Prinzipien darum, weil sie aus den Vorstellungen der Sinne Erscheinungen machen, statt der Wahrheit der Erfahrung sie in bloßen Schein verwandeln sollten, daß sie vielmehr das einzige Mittel sein, den transzendentalen Schein zu verhüten, wodurch Metaphysik von je her getäuscht, und eben dadurch zu den kindischen Bestrebungen verleitet worden, nach Seifenblasen zu haschen, weil man Erscheinungen, die doch bloße Vorstellungen sind, vor Sachen an sich selbst nahm, woraus alle jene merkwürdige Auftritte der Antinomie der Vernunft erfolgt sind, davon ich weiter hin Erwähnung tun werde, und die durch jene einzige Bemerkung gehoben wird: daß Erscheinung, so lange als sie in der Erfahrung gebraucht wird, Wahrheit, sobald sie aber über die Grenze derselben hinausgeht und transzendent wird, nichts als lauter Schein hervorbringt.[156]

Da ich also den Sachen, die wir uns durch Sinne vorstellen, ihre Wirklichkeit lasse, und nur unsre sinnliche Anschauung von diesen Sachen dahin einschränke, daß sie in gar keinem Stücke, selbst nicht in den reinen Anschauungen von Raum und Zeit, etwas mehr als bloß Erscheinung jener Sachen, niemals aber die Beschaffenheit derselben an ihnen selbst vorstellen, so ist dies kein der Natur von mir angedichteter durchgängiger Schein, und meine Protestation wider alle Zumutung eines Idealism ist so bündig und einleuchtend, daß sie sogar überflüssig scheinen würde, wenn es nicht unbefugte Richter gäbe, die, indem sie vor jede Abweichung von ihrer verkehrten obgleich gemeinen Meinung gerne einen alten Namen haben möchten, und niemals über den Geist der philosophischen Benennungen urteilen, sondern bloß am Buchstaben hingen, bereit ständen, ihren eigenen Wahn an die Stelle wohl bestimmter Begriffe zu setzen, und diese dadurch zu verdrehen und zu verunstalten. Denn daß ich selbst dieser meiner Theorie den Namen eines transzendentalen Idealisms gegeben habe, kann keinen berechtigen, ihn mit dem empirischen Idealism des Cartes (wiewohl dieser nur eine Aufgabe war, wegen deren Unauflöslichkeit es, nach Cartesens Meinung, jedermann frei stand, die Existenz der körperlichen Welt zu verneinen, weil sie niemals gnugtuend beantwortet werden könnte), oder mit dem mystischen und schwärmerischen des Berkeley (wowider und andre ähnliche Hirngespinste unsre Kritik vielmehr das eigentliche Gegenmittel enthält) zu verwechseln. Denn dieser von mir sogenannte Idealism betraf nicht die Existenz der Sachen (die Bezweifelung derselben aber macht eigentlich den Idealism in rezipierter Bedeutung aus), denn die zu bezweifeln, ist mir niemals in den Sinn gekommen, sondern bloß die sinnliche Vorstellung der Sachen, dazu Raum und Zeit zuoberst gehören, und von diesen, mithin überhaupt von allen Erscheinungen, habe ich nur gezeigt: daß sie nicht Sachen (sondern bloße Vorstellungsarten), auch nicht den Sachen an sich selbst angehörige Bestimmungen sind. Das Wort transzendental aber, welches[157] bei mir niemals eine Beziehung unserer Erkenntnis auf Dinge, sondern nur aufs Erkenntnisvermögen bedeutet, sollte diese Mißdeutung verhüten. Ehe sie aber denselben doch noch fernerhin veranlasse, nehme ich diese Benennung lieber zurück und will ihn den kritischen genannt wissen. Wenn es aber ein in der Tat verwerflicher Idealism ist, wirkliche Sachen (nicht Erscheinungen) in bloße Vorstellungen zu verwandeln, mit welchem Namen will man denjenigen benennen, der umgekehrt bloße Vorstellungen zu Sachen macht? Ich denke, man könne ihn den träumenden Idealism nennen, zum Unterschiede von dem vorigen, der der schwärmende heißen mag, welche beide durch meinen, sonst sogenannten transzendentalen, besser kritischen, Idealism haben abgehalten werden sollen.[158]

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 5, Frankfurt am Main 1977, S. 153-159.
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