I. Von der ursprünglichen Anlage zum Guten in der menschlichen Natur

[672] Wir können sie, in Beziehung auf ihren Zweck, füglich auf drei Klassen, als Elemente der Bestimmung des Menschen, bringen:

1) Die Anlage für die Tierheit des Menschen, als eines lebenden;

2) Für die Menschheit desselben, als eines lebenden und zugleich vernünftigen;[672]

3) Für seine Persönlichkeit, als eines vernünftigen, und zugleich der Zurechnung fähigen Wesens.8

1. Die Anlage für die Tierheit im Menschen kann man unter dem allgemeinen Titel der physischen und bloß mechanischen Selbstliebe, d.i. einer solchen bringen, wozu nicht Vernunft erfordert wird. Sie ist dreifach: erstlich, zur Erhaltung seiner selbst; zweitens, zur Fortpflanzung seiner Art, durch den Trieb zum Geschlecht, und zur Erhaltung dessen, was durch Vermischung mit demselben erzeugt wird; drittens, zur Gemeinschaft mit andern Menschen, d.i. der Trieb zur Gesellschaft. – Auf sie können allerlei Laster gepfropft werden (die aber nicht aus jener Anlage, als Wurzel, von selbst entsprießen). Sie können Laster der Rohigkeit der Natur heißen, und werden, in ihrer höchsten Abweichung vom Naturzwecke, viehische Laster: der Völlerei, der Wollust, und der wilden Gesetzlosigkeit (im Verhältnisse zu andern Menschen) genannt.

2. Die Anlagen für die Menschheit können auf den allgemeinen Titel der zwar physischen, aber doch vergleichenden Selbstliebe (wozu Vernunft erfordert wird) gebracht[673] werden; sich nämlich nur in Vergleichung mit andern als glücklich oder unglücklich zu beurteilen. Von ihr rührt die Neigung her, sich in der Meinung anderer einen Wert zu verschaffen; und zwar ursprünglich bloß den der Gleichheit: keinem über sich Überlegenheit zu verstatten, mit einer beständigen Besorgnis verbunden, daß andere darnach streben möchten; woraus nachgerade eine ungerechte Begierde entspringt, sie sich über andere zu erwerben. – Hierauf, nämlich auf Eifersucht und Nebenbuhlerei, können die größten Laster, geheimer und offenbarer Feindseligkeiten gegen alle, die wir als für uns Fremde ansehen, gepfropft werden: die eigentlich doch nicht aus der Natur, als ihrer Wurzel, von selbst entsprießen, sondern, bei der besorgten Bewerbung anderer zu einer uns verhaßten Überlegenheit über uns, Neigungen sind, sich der Sicherheit halber diese über andere als Vorbauungsmittel selbst zu verschaffen: da die Natur doch die Idee eines solchen Wetteifers (der an sich die Wechselliebe nicht ausschließt) nur als Triebfeder zur Kultur brauchen wollte. Die Laster, die auf diese Neigung gepfropft werden, können daher auch Laster der Kultur heißen; und werden im höchsten Grade ihrer Bösartigkeit (da sie alsdann bloß die Idee eines Maximum des Bösen sind, welches die Menschheit übersteigt), z.B. im Neide, in der Undankbarkeit, der Schadenfreude, u.s.w., teuflische Laster genannt.

3. Die Anlage für die Persönlichkeit ist die Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz, als einer für sich hinreichenden Triebfeder der Willkür. Die Empfänglichkeit der bloßen Achtung für das moralische Gesetz in uns wäre das moralische Gefühl, welches für sich noch nicht einen Zweck der Naturanlage ausmacht, sondern nur, sofern es Triebfeder der Willkür ist. Da dieses nun lediglich dadurch möglich wird, daß die freie Willkür es in seine Maxime aufnimmt: so ist Beschaffenheit einer solchen Willkür der gute Charakter; welcher, wie überhaupt jeder Charakter der freien Willkür, etwas ist, das nur erworben werden kann, zu dessen Möglichkeit aber dennoch[674] eine Anlage in unserer Natur vorhanden sein muß, worauf schlechterdings nichts Böses gepfropft werden kann. Die Idee des moralischen Gesetzes allein, mit der davon unzertrennlichen Achtung, kann man nicht füglich eine Anlage für die Persönlichkeit nennen; sie ist die Persönlichkeit selbst (die Idee der Menschheit ganz intellektuell betrachtet). Aber, daß wir diese Achtung zur Triebfeder in unsere Maximen aufnehmen, der subjektive Grund hiezu scheint ein Zusatz zur Persönlichkeit zu sein, und daher den Namen einer Anlage zum Behuf derselben zu verdienen.

Wenn wir die genannten drei Anlagen nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit betrachten, so finden wir, daß die erste keine Vernunft, die zweite zwar praktische, aber nur andern Triebfedern dienstbare, die dritte aber allein für sich selbst praktische, d.i. unbedingt gesetzgebende Vernunft zur Wurzel habe: Alle diese Anlagen im Menschen sind nicht allein (negativ) gut (sie widerstreiten nicht dem moralischen Gesetze), sondern sind auch Anlagen zum Guten (sie befördern die Befolgung desselben). Sie sind ursprünglich; denn sie gehören zur Möglichkeit der menschlichen Natur. Der Mensch kann die zwei ersteren zwar zweckwidrig brauchen, aber keine derselben vertilgen. Unter Anlagen eines Wesens verstehen wir sowohl die Bestandstücke, die dazu erforderlich sind, als auch die Formen ihrer Verbindung, um ein solches Wesen zu sein. Sie sind ursprünglich, wenn sie zu der Möglichkeit eines solchen Wesens notwendig gehören; zufällig aber, wenn das Wesen auch ohne dieselben an sich möglich wäre. Noch ist zu merken, daß hier von keinen andern Anlagen die Rede ist, als denen, die sich unmittelbar auf das Begehrungsvermögen und den Gebrauch der Willkür beziehen.

8

Man kann diese nicht, als schon in dem Begriff der vorigen enthalten, sondern man muß sie notwendig als eine besondere Anlage betrachten. Denn es folgt daraus, daß ein Wesen Vernunft hat, gar nicht, daß diese ein Vermögen enthalte, die Willkür unbedingt, durch die bloße Vorstellung der Qualifikation ihrer Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung zu bestimmen, und also für sich selbst praktisch zu sein; wenigstens so viel wir einsehen können. Das allervernünftigste Weltwesen könnte doch immer gewisser Triebfedern, die ihm von Objekten der Neigung herkommen, bedürfen, um seine Willkür zu bestimmen, hiezu aber die vernünftigste Überlegung, sowohl was die größte Summe der Triebfedern, als auch die Mittel, den dadurch bestimmten Zweck zu erreichen, betrifft, anwenden: ohne auch nur die Möglichkeit von so etwas, als das moralische schlechthin gebietende Gesetz ist, welches sich als selbst, und zwar höchste, Triebfeder ankündigt, zu ahnen. Wäre dieses Gesetz nicht in uns gegeben, wir würden es, als ein solches, durch keine Vernunft herausklügeln, oder der Willkür anschwatzen: und doch ist dieses Gesetz das einzige, was uns der Unabhängigkeit unsrer Willkür von der Bestimmung durch alle andern Triebfedern (unsrer Freiheit) und hiemit zugleich der Zurechnungsfähigkeit aller Handlungen bewußt macht.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 672-675.
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