IV. Der Materialismus in Griechenland und Rom nach Aristoteles. Epikur

[74] Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, wie jene Entwicklung in Gegensätzen, welche durch Hegel eine so große Bedeutung für die philosophische Betrachtung der Geschichte gewonnen hat, stets aus den allgemeinen kulturhistorischen Verhältnissen zu erklären ist. Eine mächtig sich ausbreitende und scheinbar ihr ganzes Zeitalter durchdringende Richtung lebt sich aus und findet in der jüngeren Generation keinen rechten Boden mehr, während aus andern, bisher verborgen strömenden Gedankenkreisen sich frische Kräfte erheben und, an den veränderten Charakter der Völker und Staaten anknüpfend, ein neues Losungswort ausgeben. Generationen erschöpfen sich in der Hervorbringung von Ideen wie der Boden, welcher längere Zeit das gleiche Produkt hervorbringt, und aus dem Brachfeld sprießt die reichste Saat hervor.

Ein solcher Wechsel von Kraft und Ohnmacht tritt auch in der Geschichte des griechischen Materialismus hervor. Materialistische Denkweise beherrschte die Philosophie des fünften Jahrhunderts vor Christo, das Zeitalter eines Demokrit und Hippokrates. Erst gegen Ende dieses Jahrhunderts wurde durch Sokrates eine spiritualistische Richtung angebahnt, die, mannigfach modifiziert, in den Systemen des Plato und Aristoteles das folgende Jahrhundert beherrscht.

Aber aus der eigenen Schule des Aristoteles gingen wieder Männer hervor, wie Dicäarch und Aristoxenus, welche die Substantialität der Seele leugneten; endlich der berühmte Physiker Strato aus Lampsakus, dessen Lehre, soviel sich aus den spärlichen Überlieferungen entnehmen läßt, von einer rein materialistischen sich kaum unterscheidet.

Den des Aristoteles betrachtete Strato nur noch als das auf Empfindung beruhende Bewußtsein.55 Die Tätigkeit der Seele faßte er als wirkliche Bewegung. Alles Sein und Leben leitete er her aus den der Materie innewohnenden Naturkräften.

Wenn wir jedoch finden, daß das ganze dritte Jahrhundert wieder durch eine neue Hebung materialistischer Denkweise bezeichnet[74] ist, so macht Stratos Reform der peripatetischen Schule hier nur eine vermittelnde Richtung geltend. Entscheidend ist das System und die Schule Epikurs. Ja, selbst die großen Gegner dieses Mannes, die Stoiker, neigen auf dem Gebiete der Physik entschieden zu materialistischer Auffassungsweise.

Die kulturhistorische Wendung, welche der neuen Strömung Bahn machte, war der Untergang der griechischen Freiheit und der Zusammenbruch des hellenischen Lebens, jener kurzen aber in ihrer Art einzigen Blütezeit, an deren Schluß wir die athenische Philosophie auftreten sehen. Sokrates und Plato waren Athener und Männer jenes echt hellenischen Geistes, der freilich schon unter ihren Augen zu schwinden begann. Aristoteles steht nach Zeit und Persönlichkeit schon auf der Schwelle des Übergangs; aber gestützt auf Plato und Sokrates schloß er sich noch ganz der hinter ihm liegenden Periode an. Wie eng schließt sich bei Plato und Aristoteles die Ethik noch an die Idee des Staates an! Die radikalen Reformen des platonischen Staates sind aber wie die konservativen Erörterungen der aristotelischen Politik einem Staatsideal gewidmet, welches dem überhand nehmenden Individualismus kräftig Widerstand leisten soll.

Der Individualismus lag aber in der Zeit, und ein ganz andrer Schlag von Männern tritt jetzt auf und bemächtigt sich des Zeitgedankens. Wieder sind es die Außenwerke der griechischen Welt, welche der folgenden Epoche die Mehrzahl ihrer hervorragenden Philosophen geben, und zwar diesmal nicht jene alten hellenischen Kolonien in Ionien und Großgriechenland, sondern vorwiegend Gegenden, in welchen das griechische Element mit fremden, besonders orientalischen Kulturkreisen in Verbindung trat.56 Die Liebe zur positiven Naturforschung trat in diesem Zeitalter wieder lebhafter hervor, allein die Gebiete begannen sich zu trennen. Wenn auch Naturforschung und Philosophie niemals im Altertum in jenen feindlichen Gegensatz traten, den wir in der Gegenwart so oft beobachten, so sind doch die großen Namen auf beiden Gebieten nicht mehr dieselben; die Forscher pflegten sich einer Philosophenschule in freierer Weise anzuschließen, und die Häupter der Philosophenschulen waren nicht mehr Forscher, sondern vor allen Dingen Vertreter und Lehrer ihres Systems.

Der praktische Gesichtspunkt, den Sokrates in der Philosophie geltend gemacht hatte, verband sich jetzt mit dem Individualismus und trat dadurch nur noch einseitiger hervor; denn die Stützen,[75] welche Religion und Staatsleben dem Bewußtsein des Einzelnen in der früheren Periode noch dargeboten hatten, brachen jetzt gänzlich zusammen und der vereinsamte Geist suchte seinen einzigen Halt in der Philosophie. So kam es, daß auch der Materialismus dieser Epoche, so eng er sich auch in der Naturbetrachtung an Demokrit anlehnte, doch vor allen Dingen auf ein ethisches Ziel ausging: auf die Befreiung des Gemütes von Zweifeln und Sorgen und die Gewinnung eines stillen und heiteren Seelenfriedens.

Doch bevor wir vom Materialismus im engeren Sinne des Wortes reden (vgl. Anm. 1), seien hier einige Bemerkungen über den »Materialismus der Stoiker« eingeschaltet!

Auf den ersten Blick könnte man meinen, es gebe keinen konsequenteren Materialismus als den der Stoiker, da sie alles Wirkliche für Körper erklären. Gott und die menschliche Seele, Tugenden und Affekte sind Körper. Es kann keinen schrofferen Gegensatz geben als zwischen Plato und den Stoikern. Jener lehrte, daß der Mensch gerecht ist, wenn er an der Idee der Gerechtigkeit teil hat: nach den Stoikern muß er den Gerechtigkeitsstoff im Leibe haben. Das klingt materialistisch genug, allein gleichwohl fehlt diesem Materialismus der entscheidende Zug: die rein materielle Natur der Materie; das Zustandekommen aller Erscheinungen, einschließlich des Zweckmäßigen und des Geistigen, durch Bewegung des Stoffes nach allgemeinen Bewegungsgesetzen.

Der Stoff der Stoiker hat die mannigfachsten Kräfte und er wird im Grunde zu dem, was er in jedem Falle ist, erst durch die Kraft. Die Kraft aller Kräfte aber ist die Gottheit, welche die ganze Welt mit ihrer Wirkung durchstrahlt und bewegt. So stehen sich die Gottheit und der bestimmungslose Stoff fast gegenüber, wie im aristotelischen System die höchste Form, die höchste Energie und die bloße Möglichkeit alles zu werden, was die Form in ihr wirkt: eben Gott und die Materie. Allerdings haben die Stoiker keinen transzendenten Gott und keine vom Körper absolut unterschiedene Seele, allein ihre Materie ist durch und durch beseelt, nicht bloß bewegt, ihr Gott ist mit der Welt identisch, aber er ist eben doch mehr als die sich bewegende Materie; er ist »die feurige Vernunft der Welt«, und diese Vernunft wirkt das Vernünftige, das Zweckmäßige, wie der Vernunftstoff des Diogenes von Apollonia, nach Gesetzen, welche der Mensch seinem Bewußtsein, nicht seiner Anschauung sinnlicher Objekte entnimmt. Anthropomorphismus, Teleologie und Optimismus beherrschen daher das stoische System[76] durch und durch, und der wahre Grundcharakter desselben muß als ein pantheistischer bezeichnet werden.

Eine auffallend reine und korrekte Lehre hatten die Stoiker von der Willensfreiheit. Die sittliche Zurechnung knüpft sich an die Tatsache, daß die Handlung aus dem Willen und damit aus dem innersten und eigensten Wesen des Menschen fließt; die Art aber, wie der Wille eines jeden Menschen sich gestaltet, ist nur ein Ausfluß der großen Notwendigkeit und göttlichen Vorherbestimmung, welche das ganze Getriebe des Weltsystems bis ins kleinste beherrscht.

Auch für sein Denken ist der Mensch verantwortlich, weil auch unsre Urteile nicht ohne den Einfluß unsres sittlichen Charakters zustande kommen.

Die Seele, welche körperlicher Natur ist, erhält sich eine Zeitlang nach dem Tode; schlechte und unweise Seelen, deren Stoff weniger rein und dauerhaft ist, gehen schneller unter; die guten steigen zu einem Ort der Seligen empor, wo sie verharren, bis sie im großen Weltenbrand mit allem, was ist, wieder in die Einheit des göttlichen Wesens zurückfließen.

Wie kamen nun aber gerade die Stoiker von ihrer hochgespannten Tugendlehre aus zu einer solchen, dem Materialismus in manchen Punkten nahe stehenden Weltanschauung? Zeller glaubt, wegen ihrer praktischen Richtung hätten sie die Metaphysik in der einfachsten Form ergriffen, wie sie sich aus der unmittelbaren Erfahrung des handelnden Menschen ergibt.57 Diese Auffassung der Sache hat viel für sich, aber im System Epikurs ergibt sich doch noch ein tieferes Band zwischen Ethik und Physik. Sollte ein solches bei den Stoikern fehlen? Sollte nicht vielleicht Zeno gerade im Gedanken der unbedingten Einheit des Weltganzen eine Stütze seiner Tugendlehre gefunden haben? Aristoteles läßt uns im Dualismus des transzendenten Gottes und der von ihm bewegten Welt, des tierisch-beseelten Leibes und des abtrennbaren unsterblichen Geistes zurück: eine vortreffliche Grundlage für das gebrochene, aus dem Staube zur Ewigkeit emporseufzende Bewußtsein des christlichen Mittelalters, aber nicht für die stolze Autarkie des Stoikers.

Vom absoluten Monismus aus ist der Schritt zur Physik der Stoiker nicht mehr weit, denn nun müssen alle Körper bloße Vorstellung werden, oder alle Geister, samt dem, was sich in ihnen bewegt, müssen Körper werden; ja wenn man den Körper, wie die Stoiker, einfach definiert, als das Ausgedehnte im Raume, so ist der Unterschied[77] beider, scheinbar extrem einander gegenüberstehenden Anschauungsweisen nicht einmal groß; doch wir brechen hier ab, denn wie auch der Zusammenhang zwischen Ethik und Physik bei den Stoikern gewesen sein mag, so gehören doch jedenfalls die Spekulationen über den Raum in seinem Verhältnis zur Welt der Vorstellungen und der Körper erst den neueren Jahrhunderten an. – Wir wenden uns nun zur Erneuerung eines konsequenten, auf rein mechanischer Weltanschauung ruhenden Materialismus durch Epikur.

Epikurs Vater soll ein armer Schulmeister aus Athen gewesen sein, welcher einen Kolonieanteil auf Samos erloste. Dort wurde dann Epikur gegen Ende des Jahres 342 oder anfangs 341 geboren. In seinem 14. Jahre, erzählt man, las er in der Schule Hesiods Kosmogonie, und da alle Dinge aus dem Chaos abgeleitet wurden, fragte er, woher denn das Chaos sei? Hierauf konnten seine Lehrer nichts antworten, das ihm genügt hätte, und von Stund an begann der junge Epikur auf seine eigne Faust zu philosophieren.

In der Tat ist auch Epikur als Autodidakt zu betrachten, obgleich die wesentlichsten Gedanken, die er in seinem System vereinigte, einzeln bereits allgemein bekannt waren. Seine enzyklopädische Vorbildung soll mangelhaft gewesen sein. Er schloß sich keiner der damals herrschenden Schulen an, studierte aber um so fleißiger die Werke Demokrits, die ihm das Fundament seiner Weltanschauung, die Lehre von den Atomen zuführten. Nausiphanes, ein zur Skepsis neigender Anhänger Demokrits, soll ihn schon auf Samos in diese Lehre eingeführt haben.

Bei alledem kann man nicht annehmen, daß Epikur aus Unkenntnis anderer Systeme seinen Weg als Autodidakt genommen habe; denn schon als Jüngling von 18 Jahren kam er nach Athen und hörte vermutlich Xenokrates, den Schüler Platos, während Aristoteles, der Gottlosigkeit angeklagt, zu Chalcis seinem Lebensende entgegensah.

Wie ganz anders war damals die Lage Griechenlands, als vor hundert Jahren, da Protagoras noch lehrte! Damals war der Gipfel äußerer Macht von Athen, der Stadt freier Bildung erreicht. Kunst und Literatur standen in höchster Blüte; die Philosophie war beseelt von übermütiger Jugendkraft. – Epikurs Studium in Athen fiel in die Zeit des Untergangs der Freiheit.

Theben war zerstört und Demosthenes lebte in der Verbannung. Aus Asien schallten die Siegesbotschaften des Makedoniers Alexander[78] herüber; die Wunder des Orients erschlossen sich, und der erweiterte Gesichtskreis ließ mehr und mehr das hellenische Vaterland mit seiner glorreichen Vergangenheit als die abgeschlossene Vorstufe neuer Entwicklungen erscheinen, deren Woher und Wohin noch niemand kannte.

Alexander starb plötzlich zu Babylon; die letzte Zuckung der Freiheit erfolgte, um von Antipater grausam unterdrückt zu werden. Unter diesen Wirren verließ auch Epikur wieder Athen, um nach dem ionischen Wohnsitze seiner Eltern zurückzukehren. Er soll sodann in Kolophon, Mitylene und Lampsakus gelehrt haben; an letzterem Orte gewann er seine ersten Anhänger. Erst als gereifter Mann kehrte er nach Athen zurück. Dort kaufte er einen Garten, in dem er mit seinen Anhängern lebte. Dieser Garten soll die Aufschrift getragen haben: »Fremdling, hier wird dir's wohl sein; hier ist das höchste Gut die Lust.«

Mäßig und einfach lebte hier Epikur mit seinen Schülern in einträchtigem Streben, in herzlicher Freundschaft, wie in einer friedvollen Familie. In seinem Testament vermachte er den Garten seiner Schule, die noch lange dort ihren Mittelpunkt fand. Das ganze Altertum kannte kein Beispiel eines schöneren und reineren Zusammenlebens, als das Epikurs und seiner Schule.

Epikur verwaltete nie ein öffentliches Amt; doch soll er sein Vaterland geliebt haben. Er kam nie in Konflikt mit der Religion, denn er verehrte die Götter fleißig in der herkömmlichen Weise, ohne deshalb eine Ansicht von ihnen zu heucheln, die nicht die seinige war.

Das Dasein der Götter begründete er auf die klare subjektive Erkenntnis, die wir von ihnen haben; aber nicht der sei gottlos, lehrte er, der die Götter der Menge leugnet, sondern vielmehr der, welcher den Meinungen der Menge von den Göttern anhängt. Man hat sie als ewige, unsterbliche Wesen zu betrachten, deren Seligkeit jeden Gedanken an eine Sorge oder ein Geschäft ausschließt; daher gehen die Ereignisse der Natur ihren Gang nach ewigen Gesetzen und niemals greifen die Götter ein, deren Hoheit man beleidigt, wenn man glaubt, daß sie sich um uns kümmern; wir müssen sie aber verehren um ihrer Vollkommenheit willen.

Faßt man alle diese zum Teil widersprechendscheinenden Äußerungen zusammen, so ist wohl kein Zweifel, daß Epikur in Wahrheit die Vorstellung von den Göttern als ein Element edlen menschlichen Wesens verehrte und nicht die Götter selbst als äußere Wesen.[79] Unter diesem Gesichtspunkte einer subjektiven, das Gemüt zu harmonischer Stimmung bringenden Gottesverehrung allein lassen sich die Widersprüche lösen, in welche uns sonst das System Epikurs verwickelt bleiben müßte.

Denn wenn die Götter sind, aber nicht wirken, so würde das der gläubigen Frivolität der Massen gerade genügen, um sie zu glauben, aber nicht zu verehren, und Epikur tat im Grunde das Umgekehrte. Er verehrte die Götter um ihrer Vollkommenheit willen; dies konnte er tun, gleichviel, ob diese Vollkommenheit sich in ihren äußeren Wirkungen zeigt, oder ob sie nur in unseren Gedanken als Ideal sich entfaltet; und letzteres scheint sein Standpunkt gewesen zu sein.

In diesem Sinne dürfen wir auch nicht denken, daß seine Verehrung der Götter lediglich Heuchelei gewesen sei, um sich mit der Masse des Volkes und der gefährlichen Priesterschaft auf gutem Fuße zu erhalten; sie kam ihm gewiß von Herzen, da seine sorglosen und schmerzlosen Götter in der Tat das wirkliche Ideal seiner Philosophie gleichsam verkörpert darstellten. Es war höchstens eine Konzession an das Bestehende und gewiß eine süße Jugendgewohnheit zugleich, wenn er sich hier den Formen anschloß, die allerdings von seinem Standpunkte aus mindestens als willkürlich und in ihren Besonderheiten gleichgültig erscheinen mußten.

So konnte Epikur durch weise Frömmigkeit sein Leben würzen und dennoch das Bestreben in den Mittelpunkt seiner Philosophie setzen, jene Beruhigung der Seele zu gewinnen, die allein in der Befreiung von törichtem Aberglauben ihre unerschütterliche Grundlage findet.

So lehrte denn Epikur ausdrücklich, daß auch die Bewegung der Himmelskörper nicht auf Wunsch oder Antrieb eines göttlichen Wesens erfolge; auch seien die Himmelskörper nicht selbst göttliche Wesen, sondern alles sei durch eine ewige Ordnung geregelt, nach der Entstehen und Vergehen wechseln müsse.

Den Grund dieser ewigen Ordnung zu erforschen, ist das Geschäft der Naturforscher, und in dieser Erkenntnis finden die vergänglichen Wesen ihre Glückseligkeit.

Die bloße historische Kenntnis der Naturvorgänge ohne Wissen um die Gründe hat keinen Wert; denn sie befreit nicht von Furcht und erhebt nicht über den Aberglauben. Je mehr Ursachen der Veränderung wir gefunden haben, desto mehr erhalten wir die Ruhe der Betrachtung, und man darf nicht glauben, daß diese Forschung[80] ohne Einfluß auf die Glückseligkeit sei. Denn die vornehmste Unruhe entsteht dem menschlichen Herzen daraus, daß man diese irdischen Dinge als unvergänglich und beseligend ansieht, und alsdann vor jeder Veränderung, die dennoch eintritt, zittern muß. Wer den Wechsel der Dinge als notwendig zu ihrem Wesen gehörig ansieht, ist offenbar frei von dieser Not.

Andere fürchten nach den alten Mythen eine ewige unglückliche Zukunft, oder wenn sie zu klug sind diese zu glauben, so fürchten sie wenigstens die Beraubung alles Gefühls, welche der Tod mit sich bringt, als ein Übel, gleichsam als könnte die Seele dasselbe noch fühlen.

Der Tod ist aber für uns gleichgültig, denn er beraubt uns ja eben der Empfindung. Solange wir sind, ist der Tod nicht da; wenn nun aber der Tod da ist, sind wir nicht mehr da. Man kann aber auch nicht das Herannahen eines Dinges fürchten, das an sich selbst nichts Fürchterliches hat. Noch törichter ist es freilich, einen frühen Tod zu rühmen, den man sich ja selbst gleich geben kann. Für den ist kein Übel mehr im Leben, der sich wahrhaft überzeugt hat, daß nicht zu leben kein Übel mehr sei.

Jede Lust ist ein Gut, jeder Schmerz ist ein Übel; aber deshalb ist noch nicht jede Lust zu verfolgen und jeder Schmerz zu fliehen. Bleibende Wollüste sind allein die Seelenruhe und die Schmerzlosigkeit, und diese sind daher der wahre Zweck des Daseins.

Auf diesem Punkte weicht Epikur schroff ab von Aristipp, der die Lust in der Bewegung fand und die einzelne Lust für den wahren Zweck erklärte. Das stürmische Leben Aristipps gegenüber dem ruhigen Gartenleben Epikurs zeigt, wie dieser Gegensatz durchgeführt wurde. Unruhige Jugend und zurückgezogenes Alter der Nation wie der Philosophie scheinen sich zugleich in diesen Gegensätzen zu spiegeln. Nicht weniger tritt Epikur dem Aristipp, von dem er so viel gelernt hat, gegenüber, indem er die geistige Lust für höher und vorzüglicher erklärte, als die physische, denn der Geist werde nicht nur von Gegenwärtigem, sondern auch von Vergangenem und Zukünftigem erregt.

Darin war jedoch auch Epikur konsequent, daß er erklärte, die Tugenden müsse man nur um der Lust willen erwählen, wie die Heilkunst um der Gesundheit willen, allein er setzte hinzu, daß die Tugend allein von der Lust unzertrennlich; alles übrige könne als vergänglich von ihr getrennt werden. So nahe stand Epikur logisch seinen Gegnern Zeno und Chrysippos, welche erklärten, daß die[81] Tugend allein das Gute sei; und dennoch zufolge der Verschiedenheit des Ausgangspunktes die größte Verschiedenheit der Systeme! Alle Tugenden leitet Epikur aus der Weisheit ab, die uns lehre, daß man nicht glücklich sein könne, ohne weise, edel und gerecht zu sein, und daß man umgekehrt auch nicht weise, edel und gerecht sein könne, ohne wahrhaft glücklich zu sein. Die Physik tritt bei Epikur in den Dienst der Ethik, und es konnte nicht ausbleiben, daß diese untergeordnete Stellung auf seine Naturerklärung nachteilig einwirkte. Denn da es der ganze Zweck in der Naturerklärung ist, von Furcht und Unruhe zu befreien, so hört der Trieb des Forschens auf, sobald dieser Zweck erreicht ist. Er ist aber erreicht, sobald nachgewiesen ist, wie die Ereignisse aus allgemeinen Gesetzen hervorgehen können. Die Möglichkeit genügt hier, denn wenn ein Erfolg auf natürlichen Ursachen beruhen kann, so brauche ich schon nicht mehr nach übernatürlichen zu greifen. Man erkennt hier ein Prinzip, das der deutsche Rationalismus des vorigen Jahrhunderts nicht selten auf die Erklärung von Wundern anwandte.

Es wird darüber vergessen zu fragen, ob und wie wir beweisen können, was der wirkliche Grund der Ereignisse sei, und dieser Mangel an Entscheidung rächt sich; denn auf die Dauer beruhigen doch nur diejenigen Erklärungen, in denen sich ein Zusammenhang und ein einheitliches Prinzip aussprechen. Ein solches Prinzip hatte zwar Epikur, wie wir unten sehen werden, in dem kühnen Gedanken, daß bei der Unendlichkeit der Welten alles überhaupt mögliche auch irgendwo und irgendwann im Universum wirklich sei, allein dieser allgemeine Gedanke hat mit dem ethischen Zweck der Physik, der sich doch auf unsre Welt beziehen muß, wenig zu schaffen.

So nahm Epikur hinsichtlich des Mondes an, er könne sein eignes Licht haben, es könne aber auch von der Sonne kommen. Wenn er sich plötzlich verfinstert, so kann ja ein vorübergehendes Erlöschen des Lichtes stattfinden; es kann aber auch sein, daß die Erde zwischen Sonne und Mond tritt und so durch ihren Schatten die Verfinsterung hervorruft.

Letztere Meinung scheint freilich die eigentliche Schulerklärung der Epikureer gewesen zu sein; allein sie wird mit der anderen so zusammengestellt, daß man sieht, die Entscheidung gilt als unwesentlich. Man kann wählen, welche Hypothese man vorzieht; nur bleibe die Erklärung natürlich.[82]

Diese Natürlichkeit mußte auf Analogien mit anderen bekannten Fällen beruhen, denn Epikur erklärt, daß das echte Naturstudium nicht willkürlich neue Gesetze aufstellen dürfe, sondern daß es überall auf die wirklich beobachteten Vorgänge sich gründen müsse. Sobald man den Weg der Beobachtung verläßt, ist man von der Spur der Natur abgekommen und wird auf Hirngespinste getrieben.

Im übrigen ist die Naturlehre Epikurs fast völlig die des Demokrit, nur ist sie uns durch ausführlichere Nachrichten erhalten. Folgende Sätze enthalten das Wichtigste:

Aus Nichts wird Nichts, denn sonst könnte aus Allem Alles werden. Alles was ist, ist Körper; unkörperlich ist nur der leere Raum. Von den Körpern sind einige aus Verbindung entstanden; andere sind die, aus denen alle Verbindungen entstehen. Diese sind unteilbar und absolut unveränderlich.

Das Weltall ist unbegrenzt und daher muß auch die Zahl der Körper eine unendliche sein.

Die Atome sind in beständiger Bewegung, teils weit voneinander entfernt, teils geraten sie nahe zusammen und verbinden sich. Einen Anfang hiervon aber gibt es nicht. In den Atomen sind keine Qualitäten, außer Größe, Figur und Schwere.

Dieser Satz, der das Vorhandensein innerer Zustände im Gegensatze zu äußeren Bewegungen und Verbindungen förmlich leugnet, bildet einen der charakteristischen Punkte des Materialismus überhaupt. Mit der Annahme innerer Zustände hat man bereits das Atom zur Monade gemacht und man bewegt sich zum Idealismus oder zum pantheistischen Naturalismus hinüber.

Die Atome sind kleiner als jede meßbare Größe. Sie haben eine Größe, aber nicht diese oder jene bestimmte, denn jede angebbare Größe kommt ihnen nicht zu.

Ebenso ist die Zeit, in welcher sich die Atome im leeren Raume bewegen, ganz unangeblich klein; ihre Bewegung hat durchaus kein Hindernis. Die Figuren der Atome sind von unangeblicher Mannigfaltigkeit, aber doch ist die Zahl der vorkommenden Formen nicht schlechthin unendlich, weil sonst die im Weltall möglichen Bildungen nicht in bestimmte, wenn auch äußerst weite Grenzen geschlossen sein könnten.58

In einem begrenzten Körper ist auch die Zahl wie die Verschiedenheit der Atome eine endliche, es gibt daher auch keine Teilung bis ins Unendliche.[83]

Im leeren Raume gibt es kein Oben und Unten; dennoch muß auch hier eine Richtung der Bewegung der anderen entgegengesetzt sein. Solcher Richtungen gibt es unzählige, bei denen man in Gedanken ein Oben und Unten denken kann.

Die Seele ist ein feiner, durch das ganze Aggregat des Leibes zerstreuter Körper, am ähnlichsten dem Lufthauch mit einer Beimischung von Wärme. Hier müssen wir die Gedanken Epikurs wieder durch eine kurze Bemerkung unterbrechen.

Unseren heutigen Materialisten würde gerade die Annahme einer solchen aus feiner Materie bestehenden Seele unter allen am meisten widerstehen. Allein während man dergleichen Annahmen jetzt meist nur noch bei phantastischen Dualisten findet, stand die Sache damals, wo man von der Art der Nerventätigkeit und den Funktionen des Gehirns nichts wußte, ganz anders. Die materielle Seele Epikurs ist ein echter Bestandteil des leiblichen Lebens, ein Organ, und nicht ein fremdartiges, für sich bestehendes und bei der Auflösung des Körpers für sich beharrendes Wesen. Dies geht aus den folgenden Ausführungen deutlich hervor:

Der Leib deckt die Seele und leitet ihr die Empfindung zu; er wird durch sie der Empfindung mit teilhaftig, jedoch unvollständig, und er verliert diese Empfindung, wenn die Seele sich zerstreut. Löst der Körper sich auf, so muß die Seele sich mit auflösen.

Die Entstehung der Bilder im Verstande kommt her von einer beständigen Ausstrahlung feiner Teilchen von der Oberfläche der Körper. Auf diese Art gehen wirkliche Abbilder der Dinge stofflich in uns ein.

Auch das Hören geschieht durch eine Strömung, die von den tönenden Körpern ausgeht. Sobald der Schall entsteht, wird der Laut aus gewissen Schwellungen gebildet, welche eine luftähnliche Strömung erzeugen.

Interessanter als jene Hypothesen, die beim Mangel aller wahren Naturforschung nicht anders als höchst kindlich ausfallen konnten, sind solche erklärende Annahmen, die von genauen positiven Kenntnissen unabhängiger sind. So versuchte Epikur die Entstehung der Sprache und des Wissens auf Naturgesetze zurückzuführen.

Die Benennungen der Dinge, lehrte er, sind nicht positiv entstanden, sondern indem die Menschen, je nach der Natur der Dinge, eigentümliche Laute ausstießen. Durch Übereinkunft befestigte sich nun der Gebrauch dieser Laute, und so entwickelten sich die[84] verschiedenen Sprachen. Neue Gegenstände veranlaßten auch neue Laute, die dann durch den Gebrauch selbst sich ausbreiteten und verständlich wurden.

Die Natur hat den Menschen mannigfach belehrt und in die Notwendigkeit versetzt, zu handeln.

Über nahe gebrachte Gegenstände entsteht von selbst Nachdenken und Forschung, bei den einen rascher, bei den andern langsamer; und so läuft die Entwicklung der Begriffe durch gewisse Perioden ins Unendliche fort.

Am wenigsten bildete Epikur die Logik aus, aber mit gutem Bedacht und aus Gründen, die seinem Denken wie seinem Charakter alle Ehre machen. Wenn man bedenkt, wie die große Masse der griechischen Philosophen durch paradoxe Behauptungen und dialektische Kunstgriffe zu glänzen suchte und weit mehr verwirrte als erklärte, so kann man den gesunden Sinn Epikurs nur loben, der ihn die Dialektik als unnütz und sogar schädlich verwerfen ließ. Er bediente sich daher auch keiner technischen Terminologie von fremdartigem Klange, sondern erklärte alles in der gewöhnlichen Sprache. Vom Redner verlangte er nichts als Deutlichkeit. Dessenungeachtet suchte er einen Kanon der Wahrheit aufzustellen.

Hier stoßen wir wieder auf einen Punkt, in welchem Epikur noch fast überall mißverstanden und unterschätzt wird. Daß seine Logik sehr einfach ist, gesteht man allgemein zu, aber mit einem geringschätzigen Seitenblick, welcher sich angesichts der wahren Sachlage schwerlich rechtfertigen läßt. Epikurs Logik ist eine streng sensualistische und empirische; von diesem Standpunkte aus will sie geprüft sein, und es dürfte sich zeigen, daß ihre wesentlichen Grundzüge, soweit wir sie aus den verstümmelten und mannigfach getrübten Berichten, die uns erhalten sind, entnehmen können, nicht nur klar und konsequent sind, sondern auch unanfechtbar bis zu dem Punkte, wo der einseitige Empirismus überhaupt seine Schranke findet.

Die letzte Basis aller Erkenntnis ist die sinnliche Wahrnehmung. Sie ist an sich immer wahr, nur durch Beziehung derselben auf einen veranlassenden Gegenstand entsteht ein Irrtum. Wenn ein Wahnsinniger einen Drachen sieht, so ist diese Wahrnehmung als solche untrüglich. Er nimmt das Bild eines Drachen wahr; daran kann keine Vernunft und keine Denkregel etwas ändern. Wenn er aber glaubt, dieser Drache werde ihn verschlingen, so irrt er. Der Irrtum steckt in der Beziehung der Wahrnehmung auf das Objekt.[85] Es ist genetisch der gleiche Irrtum, wie wenn ein Gelehrter mir der nüchternsten Forschung ein Phänomen am Himmel falsch erklärt. Die Wahrnehmung ist wahr, die Beziehung auf eine angenommene Ursache falsch.

Aristoteles lehrt freilich, wahr und falsch zeige sich nur in der Synthesis von Subjekt und Prädikat, im Urteil. »Chimäre« ist weder falsch noch wahr; wenn aber jemand sagt, die Chimäre existiert, oder sie existiert nicht, so sind diese Sätze entweder wahr oder falsch.

Überweg behauptet (Grundriß I, 4. Aufl. S. 220), Epikur habe die Wahrheit und die psychische Wirklichkeit miteinander verwechselt. Aber um dies behaupten zu können, muß er die »Wahrheit« definieren als »Übereinstimmung des psychischen Gebildes mit einem an sich vorhandenen Objekte«, und diese Definition stimmt zwar mit Überwegs Logik, allein sie ist weder allgemein angenommen noch notwendig.

Beseitigen wir den Wortstreit! Wenn Epikurs Wahnsinniger sich das Urteil bildet: »Diese Erscheinung ist das Gesichtsbild eines Drachen,« so kann Aristoteles nichts mehr gegen die Wahrheit dieses Urteils einwenden. Daß der Wahnsinnige in Wirklichkeit (nicht immer!) anders urteilt, gehört nicht hierher.

Diese Bemerkung sollte auch gegen Überweg genügen, denn es gibt gewiß nichts, das so sehr im eigentlichsten Sinne des Wortes »an sich« vorhanden ist, als unsre Vorstellungen, von denen alles andre erst abgeleitet wird. Allein Überweg versteht die Sache anders, und deshalb soll auch hier dem bloßen Mißverständnis in Worten anders begegnet werden. »Wahr« kann in seiner Sprache Epikurs Wahrnehmung nicht mehr heißen, wohl aber »gewiß«, weil einfach, unbestreitbar, unmittelbar gegeben.

Und nun fragt es sich: Ist diese unmittelbare Gewißheit der einzelnen, individuellen, konkreten Wahrnehmungen Basis aller »Wahrheit«, auch wenn man sie in Überwegs Sinne versteht oder nicht? Der Empiriker wird sagen Ja, der Idealist (d. h. der platonische, nicht etwa der Berkeleysche!) wird sagen Nein. Auf diese Tiefen dieses Gegensatzes kommen wir später. Hier genügt es, Epikurs Gedankengang völlig klar zu machen und ihn dadurch als berechtigt nachzuweisen.

Bis dahin ist Epikurs Standpunkt derjenige des Protagoras, und es ist daher von vornherein ein Mißverständnis, wenn man ihn damit glaubt widerlegen zu können, daß man die Konsequenz zieht: also[86] müssen auch entgegengesetzte Behauptungen nach Epikur, wie nach Protagoras, gleich wahr sein. Epikur antwortete: sie sind wahr, jede für ihr Objekt. Die entgegengesetzten Behauptungen über denselben Gegenstand haben aber nur dem Namen nach denselben Gegenstand. Die Objekte sind verschieden; denn die Objekte sind eben nicht die »Dinge an sich«, sondern die Sinnesbilder derselben. Diese sind der einzige Ausgangspunkt. Die »Dinge an sich« bilden noch nicht einmal die nächste, sondern erst die dritte Stufe im Prozeß der Erkenntnis.59

Epikur geht auf dem sichern Wege der Empirie über Protagoras hinaus, indem er die Bildung von Erinnerungsbildern anerkennt welche aus der wiederholten Wahrnehmung entstehen und gegenüber der einzelnen Wahrnehmung also schon den Charakter eines Allgemeinen haben. Diese allgemeine oder allgemein geltende Vorstellung (z B. die Vorstellung eines Pferdes, nachdem man verschiedene solche Tiere gesehen hat) ist weniger gewiß als die ursprüngliche und einzelne Vorstellung, kann aber gleichwohl, eben ihrer allgemeinen Natur wegen, für das Denken eine größere Rolle spielen.

Sie bildet das Mittelglied beim Übergang zu den Ursachen, d. h. bei der Forschung nach dem Dinge an sich. Diese Forschung macht erst die Wissenschaft aus, denn was ist die ganze Atomistik anderes als eine Theorie über das Ding an sich, welches den Erscheinungen zugrunde liegt? Gleichwohl ist das Kriterium der Wahrheit aller allgemeinen Sätze stets ihre Bestätigung durch die Wahrnehmung, die Basis aller Erkenntnis. Die allgemeinen Sätze sind daher keineswegs vorzüglich sicher oder wahr. Sie sind zunächst nur »Meinungen«, welche sich aus dem Verkehr des Menschen mit den Dingen von selbst entwickeln.

Diese Meinungen sind wahr, wenn sie durch die Wahrnehmung bestätigt werden. Unsere heutigen Empiriker fordern die Bestätigung durch die » Tatsachen«. Über das Vorhandensein einer Tatsache aber richtet wieder nur die Wahrnehmung. Wendet der Logiker ein: nicht die Wahrnehmung, sondern die methodische Prüfung entscheide über das Vorhandensein einer Tatsache, so ist dagegen zu erinnern, daß sich die methodische Prüfung selbst in letzter Linie nur auf Wahrnehmungen und deren Deutungen beziehen kann. Die elementare Tatsache ist also immer doch die Wahrnehmung und nur darin wird der Gegensatz der Standpunkte sich zeigen, ob die Methode der Verifizierung eine rein empirische[87] ist, oder ob sie sich wesentlich auf Sätze stützt, welche als notwendig vor jeder Erfahrung betrachtet werden. Diesen Streit haben wir nicht auszumachen. Es genügt gezeigt zu haben, daß man auch im Punkt der Logik, durch die Ungunst einer feindlichen Überlieferung verführt, Epikur Oberflächlichkeit und Widersinnigkeit vorgeworfen hat, wo er doch von seinem Standpunkte aus mindestens ebenso verständig zu Werke geht, als z. B. Descartes, der auch die ganze überlieferte Logik verwirft und einige einfache Regeln der Forschung an die Stelle setzt.

Epikur war der fruchtbarste Schriftsteller der Alten, außer dem Stoiker Chrysippus, der ihn hierin übertreffen wollte und übertraf; aber während die Bücher des Chrysippus von entlehnten Stellen und Zitaten strotzten, zitierte Epikur nie und schnitt alles aus ganzem Holze.

Unverkennbar spricht sich in dieser Verschmähung aller Zitate jener Radikalismus aus, der sich nicht selten mit materialistischen Anschauungen verbindet: eine Verschmähung des historischen Prinzips gegenüber dem naturhistorischen. Nehmen wir diese drei Punkte zusammen: daß Epikur Autodidakt war und sich keiner herrschenden Schule anschloß, daß er ferner die Dialektik haßte und sich allgemein verständlicher Sprache bediente, endlich daß er nie zitierte und die Andersdenkenden in der Regel einfach ignorierte, so haben wir hier wohl einen wesentlichen Grund des Hasses, den so manche fachmäßige Philosophen auf ihn geworfen haben. Die Beschuldigung der Unergründlichkeit fließt aus derselben Quelle, denn noch heutzutage ist nichts verbreiteter als die Neigung, in unverständlichen, durch einen Schematismus zusammenhängenden Phrasen die Gründlichkeit eines Systems zu suchen. Wenn unsere heutigen Materialisten in der Bekämpfung philosophischer Terminologie zu weit gehen und oft genug Bezeichnungen als unklar verwerfen, die einen ganz bestimmten und nur dem Anfänger nicht sofort verständlichen Sinn ergeben, so ist dies namentlich der Vernachlässigung der geschichtlich gewordenen, genauen Bedeutung der Ausdrücke zuzuschreiben. Ohne Epikur mit Bestimmtheit einen ähnlichen Vorwurf machen zu können, müssen wir doch diesem gemeinsamen Zuge des Ungeschichtlichen Beachtung schenken. Den schärfsten Gegensatz gegen den Materialismus bildet in dieser Beziehung wie in so mancher andern Aristoteles.

Es verdient Beachtung, daß die griechische Philosophie, insofern[88] sie sich in gesunden, einheitlichen und rein intellektuell und sittlich begründeten Systemen darstellt, mit Epikur und seiner Schule abschließt, wie sie mit den ionischen Naturphilosophen beginnt. Die weitern Entwicklungen fallen den positiven Wissenschaften zu, während die spekulative Philosophie im Neuplatonismus völlig ausartet.

Als der greise Epikur zu Athen inmitten seines Schülerkreises heiter sein Leben beschloß, war bereits zu Alexandria ein neuer Schauplatz griechischen Geisteslebens eröffnet.

Die Zeit liegt noch nicht fern, in der man sich darin gefiel, alexandrinischen Geist als das Stichwort für tatenscheue Gelehrsamkeit und pedantische Wissenskrämerei zu gebrauchen. Selbst mit der Anerkennung alexandrinischer Forschung verbindet man noch jetzt in der Regel den Gedanken, daß nur der völlige Schiffbruch eines tüchtigen nationalen Lebens dem rein theoretischen Bedürfnisse der Erkenntnis einen solchen Raum habe zugestehen können. Diesen Ansichten gegenüber ist es auch für unsern Gegenstand von Wichtigkeit, auf den schöpferischen Geist, auf den lebendigen Funken eines großartigen und in seinem Ziel wie in seinen Mitteln kühnen und gediegenen Strebens hinzuweisen, daß uns die Gelehrtenwelt Alexandrias bei näherem Einblicke zeigt.

Denn wenn die griechische Philosophie, aus materialistischen Anfängen entsprossen, nach einem kurzen und glänzenden Kreislauf durch alle erdenklichen Standpunkte in materialistischen Systemen und materialistischen Wendungen anderer Systeme ihren Abschluß fand, so hat man ein Recht, nach dem Endresultat aller dieser Wandlungen zu fragen.

Dieses Endresultat kann man in verschiedenem Sinne aufsuchen. In philosophischen Kreisen hat eine Konstruktion hie und da Beifall gefunden, welche den Gang der Philosophie mit dem Verlauf eines Tages von Nacht durch Morgen und Mittag und Abend wieder zur Nacht hin vergleicht. Die ionischen Naturphilosophen einerseits, der Epikureismus anderseits fallen alsdann der Nacht anheim.

Man darf aber nicht vergessen, daß der Abschluß der griechischen Philosophie mit der Rückkehr Epikurs zu den einfachsten Grundanschauungen nicht in den Zustand poesievoller Kindheit der Nation zurückführte, sondern vielmehr den natürlichen Übergang bildete zu einem Zeitalter der fruchtbarsten Forschungen auf dem Felde der positiven Wissenschaften.[89]

Historiker halten sich zwar gern an die Tatsache, daß in Griechenland der reißend schnelle Entwicklungsgang der Philosophie eine unheilbare Trennung zwischen dem Denken der geistigen Aristokratie und dem Dichten und Trachten des Volkes hervorbrachte; daß diese Trennung den Untergang der Nation herbeiführte. Allein man kann dies letztere zugeben und dabei wohl festhalten, daß der Untergang der einzelnen Nation den Fortschritt der Menschheit nicht aufhebt, ja, daß eben im Untergang der Nation das Resultat ihres Strebens, gleich dem Samen der hinwelkenden Pflanze, am gereiftesten und eben deshalb am vollendetsten ausgebildet ist. Sieht man dann, wie solche Resultate wirklich in späteren Zeiten zum Lebenskeim neuer ungeahnter Fortschritte werden, so wird man auch den Gang der Philosophie und der wissenschaftlichen Forschung von einem höheren kulturhistorischen Standpunkte aus unbefangener betrachten. Nun läßt sich aber in Wirklichkeit nachweisen, wie die glänzende Naturforschung unserer Zeit in der Epoche ihres Entstehens überall anknüpft an die Überlieferungen der Alexandriner.

Weltbekannt sind die Bibliotheken und Schulen von Alexandria, die Munifizenz der Könige, der Eifer der Lehrer und Lernenden. Allein alles das ist es nicht, was Alexandrias historische Bedeutung macht: es ist vielmehr der Lebensnerv aller Wissenschaft, die Methode, die hier zum erstenmal in einer Weise auftrat, die für alle Folgezeit entschied; und dieser methodologische Fortschritt ist nicht beschränkt auf diese oder jene Wissenschaft, selbst nicht auf Alexandria allein, er ist vielmehr das gemeinsame Kennzeichen hellenischen Forschens nach Abschluß der spekulativen Philosophie. Die Grammatik, begründet in ihren ersten Elementen durch die Sophisten, fand in dieser Zeit einen Aristarch von Samothrake, das Vorbild der Kritiker, einen Mann, von dem die Philologie unserer Tage noch gelernt hat.

In der Geschichte begann Polybius Ursachen und Wirkungen in organischen Zusammenhang zu setzen. An Manethos chronologische Forschungen suchte in der neueren Zeit der große Scaliger wieder anzuknüpfen.

Euklid schuf die Methode der Geometrie und gab die Elemente, die noch in unseren Tagen dieser Wissenschaft zugrunde liegen.

Archimedes fand in der Theorie des Hebels das Fundament der ganzen Statik: von ihm bis auf Galilei machten die mechanischen Wissenschaften keinen Fortschritt mehr.[90]

Ganz besonders aber glänzt unter den Wissenschaften dieser Epoche die Astronomie, die seit Thales und Anaximander geruht hatte. Sehr bezeichnend spricht Whewell von der »induktiven Epoche Hipparchs«, denn in der Tat war es die induktive Methode in ihrer ganzen Gründlichkeit und Genialität, die zum erstenmal von Hipparch gehandhabt wurde. Die Beweiskraft der induktiven Methode beruht aber auf der Voraussetzung eben jener Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit des Weltganges, welche Demokrit zuerst entscheidend zum Bewußtsein gebracht hatte. Hieraus erklärt sich auch der tiefgreifende Einfluß der Astronomie in den Tagen eines Kopernikus und Kepler, der wahren Wiederhersteller jener Methode, die Baco formulierte.

Die notwendige Ergänzung der induktiven Methode, der zweite Grundpfeiler unserer heutigen Wissenschaften ist bekanntlich das Experiment. Auch dieses wurde zu Alexandria geboren, und zwar in den Schulen der Medizin.

Durch Herophilus und Erasistratus wurde die Anatomie zur Grundlage medizinischen Wissens gemacht und selbst Vivisektionen scheinen im Gebrauch gewesen zu sein. Eine einflußreiche Schule entstand, welche die Empirie im besten Sinne des Wortes zu ihrem Prinzip machte, und große Fortschritte lohnten dies Streben. Fassen wir all diese glänzenden Erscheinungen zusammen, so muß uns das alexandrinische Studium mit hoher Achtung erfüllen. Es war nicht Mangel an innerer Lebensfähigkeit, sondern der Gang der Weltgeschichte, der diesem Streben vorläufig ein Ziel setzte, und man kann sagen, daß die Herstellung der Wissenschaften zunächst eine Herstellung der alexandrinischen Prinzipien war.

Die Resultate der positiven Forschung im Altertum darf man nicht unterschätzen. Wir sehen hier ab von Grammatik und Logik, von Geschichte und Philologie, deren große und bleibende Leistungen niemand bestreiten wird; vielmehr wollen wir zeigen, daß gerade in jenen Wissenschaften, in welchen die neueren Jahrhunderte eine so ungemeine Entwicklung gewonnen haben, die grundlegenden Errungenschaften der griechischen Forschung von hoher Bedeutung waren.

Wer die homerische Welt mit ihren unaufhörlichen Wundern, ihrem engen Kreis des Erdrundes und ihren naiven Vorstellungen vom Himmel und den Gestirnen bedenkt, wird zugeben müssen, daß das befähigte Volk der Griechen in seiner Weltanschauung recht von vorn anzufangen hatte. Von der Weisheit der Inder, der[91] Ägypter kamen ihm nur Bruchstücke zu, die ohne eigenes Entgegenkommen niemals zu einer bedeutenden Entwicklung hätten gelangen können. Die verzogene Zeichnung der wenigen Länder um das Mittelmeer herum, von denen schon Plato erkannte, daß sie nur einen sehr kleinen Teil des Erdganzen bilden müßten, die Fabeln von den Hyperboräern und den Völkern, die im äußersten Westen jenseit des Sonnenuntergangs wohnen, die Märchen von der Scylla und Charybdis: alles das sind Züge, die uns erkennen lassen, daß hier Erkenntnis und Dichtung kaum dem Begriff nach voneinander geschieden sind. Dem Schauplatz entsprechen die Vorgänge. Jedes Naturereignis erscheint in Götterspuk gehüllt. Diese Wesen, aus denen der Schönheitssinn des Volkes so herrliche Typen menschlicher Kraft und Anmut schuf, sind überall und nirgends und heben jeden Gedanken an einen festen Zusammenhang von Ursache und Wirkung auf. Die Götter sind weder prinzipiell allmächtig, noch gibt es eine feste Schranke ihrer Macht. Alles ist möglich und nichts sicher zu berechnen. Der apagogische Beweissatz der griechischen Materialisten, »dann könnte ja aus Allem Alles werden«, hat in dieser Welt keine Kraft, es wird wirklich aus Allem Alles, und da sich kein Blatt regen, kein Nebelstreif erheben, kein Lichtstrahl blinken kann – von Blitz und Donner zu schweigen, – ohne daß eine Gottheit dahinter ist, so ist scheinbar gar nicht einmal ein Anfang für die Wissenschaft da.

Bei den Römern stand es, abgesehen davon, daß sie ihre wissenschaftlichen Anregungen erst von den Griechen erhielten, womöglich noch schlimmer, nur daß die Vogelschau und besonders die Gewitterbeobachtung, von den Etruskern mit Sorgfalt gepflegt, eine Reihe positiver Tatsachen aus dem Gebiete der Naturvorgänge bekannt machte. So fand die beginnende griechisch-römische Kultur von Astronomie und Meteorologie kaum die dürftigen Anfänge, von Physik und Physiologie keine Spur, von Chemie keine Ahnung. Was vorging, war alltäglich, zufällig oder wunderbar, aber nicht Gegenstand wissenschaftlichen Erkennens. Mit einem Worte, es fehlte der erste Anfang der Naturwissenschaft: die Hypothese.

Beim Endpunkte der kurzen und glänzenden Bahn, welche die alte Kultur durchlaufen, finden wir alles verändert. Der Grundsatz von der Gesetzmäßigkeit und Erkennbarkeit der Naturvorgänge steht über jeden Zweifel erhaben; das Streben nach dieser Erkenntnis hat seine geordneten Bahnen gefunden. Die postitive Naturwissenschaft,[92] auf scharfe Erforschung des Einzelnen und lichtvolle Zusammenstellung der Ergebnisse dieser Forschungen gerichtet, hat sich bereits völlig getrennt von der spekulativen Naturphilosophie, die über die Grenzen der Erfahrung hinaus zu den letzten Gründen der Dinge hinabzusteigen sucht. Die Naturforschung hat eine bestimmte Methode gewonnen. Willkürliche Beobachtung ist an die Stelle der zufälligen getreten; Instrumente dienen die Beobachtung zu schärfen und ihre Ergebnisse festzuhalten: man experimentiert. Die exakten Wissenschaften hatten an einer glänzenden Bereicherung und Vervollkommnung der Mathematik jenes Werkzeug gewonnen, welches den Griechen, den Arabern und den germanisch-romanischen Völkern der Neuzeit Stufe um Stufe die großartigsten praktischen und theoretischen Errungenschaften zuführte. Plato und Pythagoras hauchten ihren Schülern den Trieb mathematischen Sinnes ein. Die Bücher Euklids bilden nach mehr als zweitausend Jahren im Vaterland Newtons noch die erste Grundlage des mathematischen Unterrichts, und die uralte synthetische Methode feierte noch in den »mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie« ihren letzten und größten Triumph.

Die Astronomie leistete an der Hand feiner und verwickelter Hypothesen über die Bewegung der Himmelskörper ungleich mehr als jene uralten Beobachter der Gestirne, die Völker von Indien, Babylonien und Ägypten je zu erreichen vermocht hatten. Eine sehr nahe zutreffende Berechnung des Planetenstandes, der Mond- und Sonnenfinsternisse, genaue Verzeichnung und Gruppierung der Fixsterne bildet noch nicht die Grenze des Geleisteten. Selbst der Grundgedanke des kopernikanischen Systems, die Versetzung der Sonne in den Mittelpunkt des Weltalls, findet sich bei Aristarch von Samos, dessen Ansicht Kopernikus sehr wahrscheinlich gekannt hat.

Betrachtet man die Erdtafel des Ptolemäus, so findet man freilich noch das fabelhafte Südland, welches Afrika mit Hinterindien verbindet und den Indischen Ozean zu einem zweiten und größeren Mittelmeer macht; allein Ptolemäus gibt dies Land nur als Hypothese; und wie sauber sieht es bereits in Europa und den näheren Teilen von Asien und Afrika aus! Längst war die Kugelgestalt der Erde allgemein angenommen. Eine methodische Ortsbestimmung durch Längen- und Breitengrade bildet ein festes Gerüst zur Behauptung des Errungenen und Einfügung aller neuen Entdeckungen. Selbst der Umfang der ganzen Erde ist schon nach einer sinnreichen[93] Sternbeobachtung abgeschätzt. Lief hierbei ein Irrtum unter, so war es eben dieser Irrtum, welcher zur Entdeckung Amerikas führte, als Kolumbus, auf Ptolemäus fußend, den westlichen Seeweg nach Ostindien suchte.

Schon lange vor Ptolemäus hatten die Forschungen des Aristoteles und seiner Vorgänger eine Fülle von Kenntnissen über die Tier- und Pflanzenwelt naher und ferner Länder verbreitet. Genaue Beschreibung, anatomisches Erforschen des inneren Baues der organischen Körper bildete die Vorstufe zu einer zusammenfassenden Betrachtung der Formen, die, von den niedersten zur höchsten hinauf, als eine fortlaufende Betätigung gestaltender Kräfte erfaßt wurden, welche im Menschen endlich das vollendetste Gebilde der Erde darstellen. Liefen auch zahlreiche Irrtümer hier noch mit unter, so war doch, solange der Geist fernerer Forschung anhielt, die Basis von unendlichem Wert. Alexanders Eroberungszüge im Orient kamen der Bereicherung der Wissenschaften zugute und befreiten und erweiterten den Gesichtskreis durch Vergleichung. Alexandrias Fleiß mehrte und sichtete das Material. Als daher der ältere Plinius in seinem allumfassenden Werk das Ganze der Natur und Kultur zur Darstellung zu bringen suchte, konnten schon tiefere Blicke in den Zusammenhang des Menschenlebens mit dem Weltganzen getan werden. Diesem rastlosen Geist, der sein großes Werk mit einer Anrufung der Allmutter Natur beschloß und sein Leben in der Beobachtung eines Vulkans endete, war der Einfluß der Natur auf das geistige Leben des Menschen ein fruchtbarer Gesichtspunkt und ein begeisternder Stachel der Forschung.

In der Physik umfaßt die Wissenschaft der Alten eine auf Experimente begründete Einsicht in die Grundlagen der Akustik, der Optik, der Statik, der Lehre von den Gasen und Dämpfen. Von den Untersuchungen der Pythagoreer über Höhe und Tiefe der Töne, bedingt durch die Massenverhältnisse der tönenden Körper, bis zu den Experimenten des Ptolemäus über die Brechung des Lichtes legte der Geist hellenischer Forschung einen weiten Weg erfolgreichen Schaffens zurück. Die gewaltigen Bauwerke, Kriegsmaschinen und Erdarbeiten der Römer beruhten auf einer wissenschaftlichen Theorie und wurden mit exakter Anwendung derselben so schnell und leicht als möglich ausgeführt, während die vielfach noch kolossaleren Leistungen der Orientalen mehr durch großartige Verwendung von Zeit und Menschenkraft unter dem Druck despotischer Dynastien zustande gekommen sind.[94]

Die wissenschaftliche Medizin, gipfelnd in Galenus aus Pergamus, hatte das körperliche Leben in seinem schwierigsten Element, der Nerventätigkeit, bereits aufgeklärt. Das Gehirn, früher als tote Masse betrachtet, deren Nutzen man noch weniger einsah, als die Neueren den der Milz, war zum Sitz der Seele und der Funktionen der Empfindung erhoben worden. Sömmering fand im vorigen Jahrhundert die Gehirnlehre noch fast auf demselben Punkte, wo Galen sie gelassen. Man kannte im Altertum auch die Bedeutung des Rückenmarks, man wußte, Jahrtausende vor Ch. Bell, Empfindungs- und Bewegungsnerven zu unterscheiden, und Galen heilte Lähmungen der Finger zum Staunen seiner Zeitgenossen durch Einwirkung auf diejenigen Teile des Rückenmarks, denen die betreffenden Nerven entspringen. Kein Wunder, daß Galen auch die Vorstellungen schon als Resultate der Zustände des Körpers ansah.

Sehen wir so nach allen Seiten Erkenntnisse sich sammeln, die tief in das Wesen der Natur eindringen und die Annahme der Gesetzmäßigkeit alles Geschehens schon im Prinzip voraussetzen, so müssen wir nunmehr die Frage stellen: Welchen Anteil hat der Materialismus des Altertums an der Erziehung dieser Kenntnisse und Anschauungen?

Da stellt sich denn freilich auf den ersten Blick ein höchst eigentümliches Resultat heraus. Es gehört nämlich nicht nur von den großen Erfindern und Entdeckern, mit alleiniger Ausnahme des Demokritos, kaum ein einziger bestimmt der materialistischen Schule an, sondern wir finden gerade unter den ehrwürdigsten Namen eine große Reihe von Männern, die einer möglichst entgegengesetzten idealistischen, formalistischen oder gar enthusiastischen Richtung angehören.

Vor allen Dingen ist hier die Mathematik ins Auge zu fassen. Plato, der Stammvater einer im Verlauf der Geschichte bald schön und tiefsinnig, bald fanatisch und verwirrend hervortretenden Schwärmerei, ist doch zugleich auch der geistige Stammvater einer Reihe von Forschern, welche die klarste und konsequenteste aller Wissenschaften, die Mathematik, auf den Gipfel der Höhe brachten, die sie im Altertum erreichen sollte. Die alexandrinischen Mathematiker hielten fast alle zur Schule Platos, und selbst als die Ausartungen des Neuplatonismus begannen, und die trüben Gärungen der großen Religionswende in die Philosophie hineinspielten, brachte diese Schule noch große Mathematiker hervor. Theon und[95] seine edle, vom christlichen Pöbel zu Tode gemarterte Tochter Hypatia mögen diese Stufe bezeichnen. Eine ähnliche Richtung ging von Pythagoras aus, dessen Schule in Archytas einen Mathematiker vom ersten Range erzeugte. Kaum daß der Epikureer Polyänus neben diesen genannt werden darf. Auch Aristarch von Samos, der Vorläufer des Kopernikus, knüpfte an altpythagoreische Überlieferungen an; der große Hipparch, der Entdecker des Vorrückens der Nachtgleichen, glaubte an den göttlichen Ursprung der menschlichen Seelen; Eratosthenes hielt sich zur mittleren Akademie, welche den Platonismus mit skeptischen Elementen versetzte. Plinius, Ptolemäus, Galenus huldigten ohne strenges System pantheistischen Grundsätzen und hätten sich vielleicht vor 200 Jahren unter dem gemeinsamen Namen der Atheisten und Naturalisten mit den eigentlichen Anhängern des Materialismus zusammenwerfen lassen. Allein Plinius huldigte keinem philosophischen System, wiewohl er zum Volksglauben in offener Opposition steht und in seinen Ansichten dem Stoizismus zuneigt. Ptolemäus ist in der Astrologie befangen und folgt in der allgemeinen Grundlage seiner Weltanschauung jedenfalls mehr Aristoteles als Epikur. Galen, der von diesen am meisten Philosoph war, ist ein Eklektiker, welcher die verschiedensten Systeme kennt; allein dem epikureischen zeigt er sich am allerwenigsten geneigt. Nur in der Erkenntnislehre nahm er die unmittelbare Gewißheit der Sinneswahrnehmungen an, allein er ergänzte sie durch die Annahme unmittelbarer Verstandeswahrheiten, die vor jeder Erfahrung feststehen.60

Man sieht aber auch leicht, daß diese geringe Beteiligung des Materialismus an den Errungenschaften der positiven Forschung nicht zufällig, daß sie namentlich nicht etwa lediglich dem quietistischen und beschaulichen Charakter des Epikureismus zuzuschreiben ist sondern daß in der Tat gerade das ideelle Moment bei den Eroberern die Wissenschaft mit ihren Entdeckungen und Erfindungen im engsten Zusammenhang steht.

Hier dürfen wir uns eine Vertiefung in die große Wahrheit nicht entgehen lassen, daß das objektiv Richtige und Verstandesmäßige nicht immer das ist, was den Menschen am meisten fördert, ja nicht einmal das, was ihn zu der größten Fülle objektiv richtiger Erkenntnisse führt. Wie der gleitende Körper auf der Brachystochrone schneller zum Ziel kommt als auf der geneigten Ebene, so bringt die Gesamtorganisation des Menschen es mit sich, daß in manchen[96] Fällen der Umweg durch den Schwung der Phantasie schneller zur Erfassung der nackten Wahrheit führt, als die nüchterne Bemühung, die nächsten und buntesten Hüllen zu zerreißen.

Es ist keinem Zweifel unterworfen, daß die Anatomik der Alten weit entfernt, absolute Wahrheit zu haben, doch dem Wesen der Dinge, soweit wir es wissenschaftlich begreifen können, ungleich näher kommt, als die Zahlenlehre der Pythagoreer und die Ideenlehre Platos; zum mindesten ist sie ein viel direkterer und geraderer Schritt auf die gegebenen Naturerscheinungen zu, als jene fast ganz aus dem spekulativen Dichten der individuellen Seele hervorgequollenen tiefsinnig schwankenden Philosopheme. Allein die Ideenlehre Platos ist nicht zu trennen von der grenzenlosen Liebe des Mannes zu den reinen Formen, in denen bei gänzlichem Wegfall alles Zufälligen und Gestörten, die mathematische Idee aller Gestalten angeschaut wird. Nicht anders steht es mit der Zahlenlehre der Pythagoreer. Die innere Liebe zu allem Harmonischen, der Zug des Gemütes zur Vertiefung in die reinen Zahlenverhältnisse der Musik und der Mathematik, zeugte in der individuellen Seele den erfindenden Gedanken. So zog sich von der ersten Aufstellung des Mêdeis ageômetrêtos eisitô bis zum Abschluß der alten Kultur der gemeinsame Grundzug durch die Geschichte der Erfindungen und Entdeckungen, daß gerade die Richtung des Gemütes auf das Übersinnliche die Gesetze der sinnlichen Erscheinungswelt auf dem Wege der Abstraktion erschließen half.

Wo bleiben denn nun die Verdienste des Materialismus? Oder soll etwa gerade der phantastischen Spekulation neben sonstigen Verdiensten um Kunst, Poesie, Gemütsleben auch noch gar der Vorzug in Beziehung auf die exakten Wissenschaften eingeräumt werden? Offenbar nicht. Die Sache hat ihre Kehrseite, und diese findet sich, wenn man die indirekte Wirkung des Materialismus und sein Verhältnis zur wissenschaftlichen Methode betrachtet.

Wenn wir dem subjektiven Trieb, der individuell gestalteten Ahnung gewisser Endursachen große Bedeutung für die Richtung und die Kraft der Bewegung zur Wahrheit hinzuschreiben, so dürfen wir doch keinen Augenblick aus den Augen verlieren, wie es gerade jene phantastische Willkür des mythologischen Standpunktes ist, welche den Fortschritt der Erkenntnis so lange und so mächtig gehemmt hat und in den weitesten Kreisen noch immer hemmt. Sobald der Mensch beginnt, die einzelnen Vorgänge nüchtern, klar und bestimmt zu betrachten, sobald er die Ergebnisse dieser Betrachtung[97] an eine bestimmte, wenn auch irrtümliche, so doch jedenfalls feste und einfache Theorie anknüpft, ist der weitere Fortschritt gesichert. Dieser Vorgang ist von dem Prozeß des Erdenkens und Erdichtens gewisser Endursachen leicht abzutrennen. Hat letzteres, wie wir eben nachwiesen, unter günstigen Umständen einen hohen, subjektiven, auf das Ineinandergreifen der Geisteskräfte begründeten Wert, so ist der Anfang jener klaren, methodischen Betrachtung der Dinge gewissermaßen erst der wahre Anfang des Verkehrs mit den Dingen selbst. Der Wert dieser Richtung ist objektiver Natur. Die Dinge fordern gleichsam, daß man so mit ihnen verkehrt, und erst bei der geregelten Frage erteilt die Natur eine Antwort. Hier dürfen wir nun aber auf jenen Ausgangspunkt griechischer Wissenschaftlichkeit verweisen, der in Demokrit und der aufklärenden Wirkung seines Systems zu suchen ist. Die aufklärende Wirkung kam der ganzen Nation zugut; sie wurde vollzogen an der einfachsten und nüchternsten Betrachtung der Dinge, welche sich unserm Denken darbieten kann: an der Auflösung des bunten und veränderlichen Weltganzen in unveränderliche, aber bewegliche Teile. Hat auch dies Prinzip, übrigens im engsten Anschluß an den epikureischen Materialismus, seine volle Bedeutung erst in den neueren Jahrhunderten gewonnen, so hat es doch offenbar als das erste Beispiel einer vollkommen anschaulichen Vorstellungsweise aller Veränderungen auch auf das Altertum einen durchgreifenden Einfluß geübt. Hat doch selbst Plato seine »nichtseiende« aber gleichwohl für die Konstruktion des Weltgebäudes unentbehrliche Materie in bewegliche Elementarkörperchen aufgelöst, und Aristoteles, welcher sich mit aller Macht der Annahme eines leeren Raumes gegenüberstellt, welcher die Kontinuität der Materie als Dogma festhält, sucht so gut es von diesem schwierigen Standpunkte gehen will, mit Demokrit in der Anschaulichkeit der Lehre von der Veränderung und Bewegung zu wetteifern.

Allerdings steht unsere heutige Atomistik seit der Ausbildung der Chemie, der Vibrationstheorie und der mathematischen Behandlung der in den kleinsten Teilchen wirkenden Kräfte in ungleich direkterem Zusammenhang mit den positiven Wissenschaften; allein die Beziehung aller sonst so rätselhaften Naturvorgänge; des Werdens und Abnehmens, des scheinbaren Verschwindens und des unerklärten Auftauchens von Stoffen auf ein einziges durchgehendes Prinzip und eine, man möchte sagen, handgreifliche Grundanschauung[98] war denn doch im Altertum für die Naturwissenschaft das Ei des Kolumbus. Der Götter- und Dämonenspuk war mit einem einzigen großartigen Zuge beseitigt, und was nun auch tiefsinnig angelegte Naturen von Dingen denken mochten, die hinter der Erscheinungswelt liegen: die Erscheinungswelt selbst lag vom Nebel frei vor den Blicken da, und auch die echten Schüler eines Plato und Pythagoras experimentierten oder sannen nun über die Naturvorgänge, ohne die Welt der Ideen und der mystischen Zahlen mit dem unmittelbar Gegebenen zu vermengen. Diese Vermengung, in welcher einige neuere Naturphilosophen der Deutschen so stark waren, trat im klassischen Altertum erst ein mit dem Verfall der ganzen Kultur in der Zeit der schwärmerischen Neuplatoniker und Neupythagoreer. Es war die gesunde Sittlichkeit des Denkens, welche, durch das Gegengewicht des nüchternen Materialismus erhalten, die griechischen Idealisten so lange von solchen Irrwegen fern hielt. In gewisser Hinsicht behielt daher das ganze Denken des griechischen Altertums vom Anfang bis zur Zeit des vollständigen Verfalls ein materialistisches Element. Man erklärte die Erscheinungen der Sinnenwelt zunächst wieder aus dem, was man mit den Sinnen wahrnahm oder sich wenigstens als wahrnehmbar vorstellte.

Wie man also im übrigen über das System Epikurs als Ganzes urteilen möge, so steht doch jedenfalls so viel fest, daß die antike Naturforschung nicht sowohl aus diesem System, als vielmehr aus der allgemeinen materialistischen Grundlage desselben Vorteil gezogen hat. Die Schule der Epikureer blieb unter allen Philosophenschulen des Altertums die geschlossenste und unverständlichste. Wie die Beispiele äußerst selten sind, daß ein Epikureer später zu andern Systemen überging, so findet man auch kaum einen Versuch zur Weiterbildung oder Umbildung der einmal angenommenen Lehren bis auf die spätesten Ausläufer der Schule. Diese sektenhafte Geschlossenheit zeugt für das starke Übergewicht der ethischen Seite des Systems über die physikalische. Als Gassendi im siebzehnten Jahrhundert das System Epikurs ans Licht zog und es dem aristotelischen gegenüberstellte, suchte er freilich auch die Ethik Epikurs, soweit es auf christlichem Boden anging, geltend zu machen, und es läßt sich nicht leugnen, daß auch diese ein starkes Ferment für die Entwicklung des modernen Geistes abgegeben hat; allein das wichtigste Faktum war eben doch die alsbaldige Losreißung des alten demokritischen Grundgedankens aus den Fesseln[99] des Systems. Durch Männer wie Descartes, Newton und Boyle mannigfach umgestaltet, wurde die Lehre von den Elementarkörperchen und der Entstehung aller Erscheinungen durch ihre Bewegung zur Grundlage der modernen Naturwissenschaft. Das Werk aber, durch dessen Vermittlung das System Epikurs schon seit dem Beginn des Wiederauflebens der Wissenschaften mächtigen Einfluß auf die Denkweise der neueren Völker gewann, ist das Lehrgedicht des Römers Lucretius Carus, dem wir eben dieser seiner historischen Bedeutung wegen einen besonderen Abschnitt widmen werden, der uns zugleich einen tieferen Einblick in die wichtigsten Gebiete der epikureischen Lehre gewähren wird.[100]

55

Wie den Griechen überhaupt der anthropologische Materialismus am geläufigsten war, so sehen wir, daß die Lehre des Aritoteles von dem abtrennbaren, göttlichen und dennoch im Menschen individuellen Geiste bei seinen Nachfolgern im Altertum am meisten Widerstand fand. Aristoxenus, der Musiker, verglich das Verhältnis der Seelen zum Körper mit demjenigen der Harmonie zu den Saiten, durch welche sie hervorgebracht wird. Dicäarch nahm statt der individuellen Seelensubstanz eine allgemeine Kraft des Lebens und der Empfindung an, die sich nur vorübergehend in den körperlichen Gebilden individualisiert. (Überweg, Grundr. I, 4. Aufl. S. 198.) Einer der wichtigsten Erklärer des Aristoteles aus der Kaiserzeit, Alexander von Aphrodisias, faßte den vom Leibe trennbaren Geist (den nous poiêtikos) gar nicht als Bestandteil des Menschen, sondern nur als das göttliche Wesen, welches auf den natürlichen vom Leibe untrennbaren Geist des Menschen entwickelnd einwirkt und infolgedessen vom Menschen gedacht und in Gedanken erworben wird (vgl. Zeller III, 1. 2. Aufl. S. 712). Von den arabischen Erklärern faßte namentlich Averroès die Lehre vom Eindringen des göttlichen Geistes in den Menschen rein pantheistisch, während umgekehrt die Philosophen des christlichen Mittelalters die Individualität und Abtrennbarkeit der Vernunft, aus welcher sie ihre unsterbliche »anima rationalis« machten, weiter trieben als Aristoteles (abgesehen von der streng orthodoxen Kirchenlehre, welche fordert, daß die unsterbliche Seele nicht nur die Vernunft, sondern auch die niederen Vermögen mit umfasse), so daß also in diesem Punkte die eigentliche Ansicht des Aristoteles fast nirgend zur Geltung gelangte.

56

Vgl. Zeller III, 1. 2. Aufl. S. 26.

57

Zeller III, 1. S. 113 u. f.: »Ursprünglich mit ihrem ganzen Interesse den praktischen Fragen zugewendet, stellten sich die Stoiker in ihrer theoretischen Weltanschauung zunächst auf den Standpunkt der gewöhnlichen Vorstellung, welche keine andere Wirklichkeit kennt, als das sinnlich wahrnehmbare körperliche Sein. Sie suchten in der Metaphysik vor allem eine feste Grundlage fürs menschliche Handeln; im Handeln stehen wir aber dem Objekt unmittelbar und empirisch gegenüber, wir müssen es ohne Umstände in seiner sinnlichen Realität, wie es sich uns darbietet, anerkennen, und haben nicht Zeit an derselben zu zweifeln; es beweist uns dieselbe praktisch, indem es auf uns einwirkt und sich unserer Einwirkung darbietet; das unmittelbare Subjekt und Objekt dieser Einwirkung sind aber immer nur Körper, und selbst die Wirkung auf das Innere der Menschen stellt sich zunächst als eine körperliche (durch Stimme, Gebärde u. s. f.) dar, immaterielle Wirkungen kommen in unserer unmittelbaren Erfahrung nicht vor.« Vgl. ebendas. S. 325 u. f., wo in treffender Weise eine Parallele gezogen wird zwischen der stoischen Ethik und den theoretischen Ansichten vom unbedingten Walten des göttlichen Willens in der Welt, während dagegen der Materialismus auch dort bloß aus dem Vorwalten der praktischen Interessen abgeleitet wird. In der Tat aber ist Materialismus im weiteren Sinne (pantheistischer oder mechanischer) für die Alten eine fast unausweichliche Konsequenz des strengen Monismus und Determinismus, da ihnen der moderne Idealismus eines Descartes, Leibniz oder Kant noch ganz fern lag.

58

Wegen der Abweichungen Epikurs von Demokrit müssen wir teils auf den Abschnitt über Demokrit verweisen (s. o. S. 17 u. ff.), teils auf den unten folgenden Auszug aus dem Lehrgedicht des Lucretius von der Natur und die daran sich anschließenden speziellen Erörterungen.

59

Zeller III, 1. 2. Aufl., S. 365 u. f. behandelt diesen Punkt als eine »Schwierigkeit«, um deren Lösung sich Epikur nur wenig bemüht zu haben scheine. Auffallend ist dabei die Äußerung, daß bei der Ansicht des Protagoras die Sinnestäuschungen unmöglich werden; während doch gleich nachher die richtige Bemerkung folgt, daß die Täuschung nicht in der Wahrnehmung, sondern im Urteil liegt. Das Auge z. B., welches einen ins Wasser getauchten Stab betrachtet, sieht ihn gebrochen. Diese Wahrnehmung eines gebrochenen Stabes ist aber nicht nur durchaus wahr und zuverlässig (vgl. was im Text gegen Überweg bemerkt ist), sondern sie ist auch eine sehr wichtige Grundlage der Lehre von der Lichtbrechung, die ohne solche Wahrnehmungen niemals gewonnen werden konnte. Das Urteil, der als objektives Ding gedachte Stab sei gebrochen und werde auch außerhalb des Wassers so erscheinen, ist allerdings falsch, allein es läßt sich sehr leicht durch eine zweite Wahrnehmung berichtigen. Wären nun die Wahrnehmungen an sich nicht sämtlich unbedingt zuverlässig und Grundlage aller weiteren Erkenntnis, so könnte man daran denken eine von beiden völlig zu annullieren, wie wir ein unrichtiges Urteil einfach und schlechthin verwerfen. Man sieht aber leicht, daß davon keine Rede sein kann. Selbst solche, den Alten noch unbekannte Sinnestäuschungen, in welchen sich ein unrichtiges Urteil (induktiver Fehlschluß) unmittelbar und unbewußterweise in die Funktion der Wahrnehmung modifizierend einmischt, wie z. B. die Erscheinung des blinden Flecks der Netzhaut, sind als Wahrnehmungen zuverlässig. – Wenn Zeller glaubt, mit der Unterscheidung von Wahrnehmung des Bildes und Wahrnehmung des Gegenstandes würde die Schwierigkeit nur zurückgeschoben, so beruht das wohl auf einem Mißverständnis. Die Frage: »Wie lassen sich nun die treuen Bilder von untreuen unterscheiden?« ist dahin zu beantworten, daß jedes Bild »treu« ist; d. h. es gibt mit vollkommener Sicherheit den Gegenstand in derjenigen Modifikation, welche aus der Beschaffenheit der Medien und unsere Organe mit Naturnotwendigkeit folgt. Die wahre Aufgabe ist also niemals, ein Bild schlechthin als »untreu« zu verwerfen und ein anderes dafür festzuhalten, sondern eine Modifikation des Urbildes als solche zu erkennen. Dies geschieht aber ganz einfach, wie alles andere Erkennen, durch die Bildung einer prolêpsis und demnächst der doza aus wiederholter Wahrnehmung! Man vergleiche nur z. B. die Art, wie Rousseau seinen Emile aus dem Bilde des gebrochenen Stabes den Begriff der Lichtbrechung entwickeln läßt! Sollte auch Epikur die Sache noch nicht mit dieser Schärfe aufgefaßt haben, so ist doch offenbar seine Bemerkung (wenn Cicero recht berichtet), es sei die Aufgabe des Weisen, die leere Meinung (opinio) von der Gewißheit (perspicuitas) zu unterscheiden, nicht die ganze, nach Epikurs System hierher gehörige Antwort. Vielmehr ist vollkommen klar, daß die Unterscheidung selbst auf dem gleichen Wege erfolgen muß, wie jede andere Erkenntnis: durch Bildung eines Begriffs und eine daran sich schließende aus der Wahrnehmung selbst sich natürlich ergebende Annahme über die Ursachen der modifizierten Erscheinung.

60

Die in der ersten Auflage S. 65 u. f. enthaltene Stelle, an welcher für die naturwissenschaftliche Bedeutung des Aristoteles mit dem Register in Humboldts Kosmos argumentiert wird, mußte der Erwägung weichen, daß hierfür eben schon die Erhaltung der aristotelischen Schriften im allgemeinen Untergang der griechischen Literatur entscheidend war. Es ist daher auch die Frage, ob nicht in dem Satze Humboldts: »In Platos hoher Achtung für mathematische Gedankenentwicklung, wie in den alle Organismen umfassenden morphologischen Ansichten des Stagiriten lagen gleichsam die Keime aller späteren Fortschritte der Naturwissenschaft« der Einfluß des Aristoteles viel zu günstig beurteilt ist. Allerdings hat die Teleologie ihre nicht zu verkennende heuristische Bedeutung für das Gebiet der Organismen, allein die große Entwicklung der neueren Naturwissenschaft stützt sich eben noch auf die Befreiung von der Alleinherrschaft dieser »organischen Weltanschauung«. Die Erkenntnis der unorganischen Natur und damit der allgemeinsten Naturgesetze knüpft sich in der Tat weit mehr an den Grundgedanken Demokrits, durch welchen Physik und Chemie erst möglich wurden.

Quelle:
Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Frankfurt am Main 1974, S. 74-101.
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