II. Der philosophische Materialismus seit Kant

[512] England, Frankreich und die Niederlande, die wahren Stammsitze der neueren Philosophie, traten gegen Ende des vorigen Jahrhunderts vom Schauplatz metaphysischer Kämpfe zurück. Seit Hume hat England keinen großen Philosophen mehr erzeugt, man müßte denn dem scharfsinnigen und energischen Mill diesen Rang einräumen wollen. Eine ähnliche Kluft liegt in Frankreich zwischen Diderot und Comte. In beiden Ländern finden wir inzwischen auf andern Gebieten die großartigsten Fortschritte und Umwälzungen. Hier der beispiellose Aufschwung der Industrie und des Welthandels unter Konsolidation aller Verhältnisse; dort die Europa erschütternde Revolution und die Entfaltung einer furchtbaren Militärmacht: das waren zwei sehr verschiedene, ja entgegengesetzte Wendungen nationaler Entwicklung, die doch beide darin übereinkamen, daß sich die »Westmächte« ganz und gar den Aufgaben des realen Lebens zuwandten. Uns Deutschen blieb indes die Metaphysik.

Und doch würde es die höchste Undankbarkeit sein, wenn wir auf jene große Epoche rein geistigen Strebens mit Geringschätzung oder auch nur mit Verstimmung zurückblicken wollten. Es ist wahr, daß wir, wie Schillers Dichter, bei der Teilung der Welt leer ausgingen. Es ist wahr, daß der Rausch des Idealismus bei uns – vielleicht dürfen wir sagen, samt seinen Nachwehen – jetzt vorüber ist, und daß uns der geistige Aufenthalt im Himmel des Zeus nicht mehr genügt. Später als die andern Nationen treten wir ins männliche Alter, aber wir haben auch eine schönere, reichere, wenn auch fast zu schwärmerische Jugend verlebt, und es muß sich zeigen, ob unser Volk durch jene geistigen Genüsse entnervt ist, oder ob es eben in seiner idealen Vergangenheit einen unerschöpflichen Quell von Kraft und Lebensfrische besitzt, der nur in die Bahnen neuen Schaffens gelenkt werden muß, um großen Aufgaben zu genügen. Die eine praktische Tat, welche mitten in jene Periode des Idealismus fällt, die Volkserhebung in den Befreiungskriegen, trägt allerdings den Charakter einer träumerischen Halbheit, aber sie verrät zugleich eine gewaltige Kraft, die sich ihres Zieles nur noch dunkel bewußt ist.[512]

Merkwürdig ist es, wie unsre nationale Entwicklung, regelmäßiger als die des alten Hellas, vom Idealsten ausging und sich dem Realen mehr und mehr näherte. Zuerst die Dichtung, deren große Glanzperiode in dem gemeinsamen Schaffen eines Goethe und Schiller schon ihren Höhepunkt erreicht hatte, als die Philosophie, durch Kant in Schwung gebracht, ihre stürmische Bahn begann. Nach dem Erlöschen der titanenhaften Bestrebungen Schellings und Hegels trat die ernste Forschung der positiven Wissenschaften in den Vordergrund. Dem alten Ruhm Deutschlands in der philosophischen Kritik folgen jetzt glänzende Eroberungen auf allen Gebieten des Wissens. Niebuhr, Ritter und die beiden Humboldt dürfen hier vor allen als Bahnbrecher genannt werden. Nur in den exakten Wissenschaften, die uns bei der Frage des Materialismus am nächsten berühren, soll Deutschland hinter England und Frankreich zurückgeblieben sein, und unsre Naturforscher schieben die Schuld dafür gern auf die Philosophie, die mit ihren Phantasiegebilden alles überwuchert und den Geist gesunder Forschung erstickt habe. Wie sich das verhält, werden wir schon noch sehen. Hier mag es genügen, zu bemerken, daß jedenfalls die exakten Wissenschaften den Aufgaben des praktischen Lebens, die uns gegenwärtig vorliegen, am nächsten stehen, und daß ihre späte Entfaltung in Deutschland dem Entwicklungsgang, den wir hier andeuten, vollständig entspricht.

Wir haben im ersten Buche gesehen, wie der Materialismus in Deutschland früh schon Boden gefaßt hatte; wie er keineswegs erst aus Frankreich hinübergebracht wurde, sondern, von England her direkt angeregt, eigentümliche Wurzeln geschlagen hatte. Wir haben gesehen, wie der materialistische Streit des vorigen Jahrhunderts gerade in Deutschland besonders lebhaft geführt wurde, und wie die herrschende Philosophie, trotz ihrer scheinbar so leichten Triumphe, in diesem Kampf nur ihre eigne Schwäche bewies.

Der Materialismus nahm ohne Zweifel in der allgemeinen Denkungsweise zu, während schon längst durch Klopstock auf dem Boden der Poesie der Keim jenes wuchernden Idealismus gelegt war. Daß der Materialismus nicht offen hervortreten konnte, ist bei den damaligen Verhältnissen in Deutschland leicht zu begreifen. Man merkt sein Vorhandensein mehr an den beständigen Bekämpfungen, als an positiven Schöpfungen. Kann man doch Kants ganzes System als einen großartigen Versuch betrachten, den Materialismus für immer aufzuheben, ohne dem Skeptizismus zu verfallen.[513]

Sieht man auf den äußeren Erfolg dieses Versuches, so kann es schon als bedeutend genug erscheinen, daß seit Kants Auftreten bis auf die jüngste Vergangenheit hin in Deutschland der Materialismus fast wie weggeblasen erschien. Die vereinzelten Versuche, die Entstehung des Menschen naturalistisch durch Entwicklung einer Tierform zu erklären, unter denen derjenige Okens (1819) am meisten Aufsehen machte, gehören keineswegs in den Zusammenhang eigentlich materialistischer Ansichten. Vielmehr wurde durch Schelling und Hegel der Pantheismus zur herrschenden Denkweise in der Naturphilosophie, eine Weltanschauung, welche bei einer gewissen mystischen Tiefe zugleich die Gefahr phantastischer Ausschweifungen fast im Prinzip schon in sich schließt. Statt die Erfahrung und die Sinnenwelt vom Idealen streng zu scheiden und dann in der Natur des Menschen die Versöhnung dieser Gebiete zu suchen, vollzieht der Pantheist die Versöhnung von Geist und Natur durch einen Machtspruch der dichtenden Vernunft ohne alle kritische Vermittlung. Daher denn der Anspruch auf Erkenntnis des Absoluten, den Kant durch seine Kritik für immer verbannt zu haben glaubte. Freilich wußte Kant recht gut, und er sagte es unzweideutig voraus, daß seine Philosophie unmöglich einen sofortigen Sieg erwarten könne, da doch Jahrhunderte vergangen seien, bevor Kopernikus mit seiner Theorie über das entgegenstehende Vorurteil gesiegt habe. Würde der ebenso nüchterne als starke Denker sich aber haben träumen lassen, daß kaum fünfundzwanzig Jahre nach der ersten Verbreitung seiner Kritik ein Werk wie Hegels Phänomenologie des Geistes in Deutschland möglich sein würde! Und doch war es sein eignes Auftreten, welches unsre metaphysische Sturm- und Drangperiode hervorrief. Der Mann, den Schiller einem bauenden Könige verglich, gab nicht nur den »Kärrnern« der Interpretation Nahrung, sondern er zeugte auch eine geistige Dynastie ehrgeiziger Nachahmer, welche, den Pharaonen gleich, eine Pyramide um die andre in die Lüfte türmten, und nur vergaßen, sie auf den festen Erdboden zu begründen.

Es ist hier nicht unsre Sache, zu entwickeln, wie es kam, daß Fichte aus Kants Philosophie gerade einen der dunkelsten Punkte – die Lehre von der ursprünglichsten synthetischen Einheit der Apperzeption – herausgriff, um sein schöpferisches Ich daraus abzuleiten, wie Schelling aus dem A=A – gleichsam aus einer hohlen Nuß – das Weltall hervorzauberte; wie Hegel Sein und Nichtsein für identisch erklären durfte unter dem jubelnden Zujauchzen der[514] wißbegierigen Jugend unsrer Universitäten. Die Zeit, wo man auf allen Straßenecken der Musensitze vom Ich und Nichtich, vom Absoluten und vom Begriff reden hörte, ist vorüber, und der Materialismus kann uns nicht veranlassen, sie unsern Lesern vorzuführen. Jenes ganze Zeitalter der Begriffsromantik hat für die exakte Beurteilung der materialistischen Frage auch nicht ein einziges Moment von bleibendem Wert zutage gefördert. Jede Beurteilung des Materialismus vom Standpunkte der dichtenden Metaphysik kann nur den Zweck einer Auseinandersetzung zwischen zwei koordinierten Standpunkten haben. Wo wir nicht, wie bei Kant, einen höheren Gesichtspunkt der Betrachtung gewinnen können, müssen wir uns dergleichen Exkurse versagen.

Daß wir bei alledem auf die Leistungen eines Schelling und Hegel, besonders aber des letzteren, nicht mit der Geringschätzung herabsehen können, welche jetzt fast Mode ist, liegt auf einem ganz andern Boden. Ein Mann, welcher der schwärmerischen Neigung einiger Dezennien einen überwältigenden und alles fortreißenden Ausdruck gibt, kann niemals schlechthin unbedeutend sein. Wenn man aber allein den Einfluß Hegels auf die Geschichtsschreibung, insbesondere auf die Behandlung der Kulturgeschichte betrachtet, so muß man gestehen, daß dieser Mann in seiner Weise auch die Wissenschaften gewaltig gefördert hat.383 Die Poesie der Begriffe hat für die Wissenschaft, wenn sie aus einer reichen und allseitigen wissenschaftlichen Bildung hervorgeht, einen hohen Wert. Die Begriffe, welche der Philosoph dieses Schlages erzeugt, sind mehr als tote Rubriken für die Resultate der Forschung; sie haben eine Fülle von Beziehungen zum Wesen unsrer Erkenntnis und damit zum Wesen derjenigen Erfahrung, die uns allein möglich ist. Wenn die Forschung sie richtig benutzt, so kann sie niemals durch sie gehemmt werden; läßt sie sich aber von einem philosophischen Machtspruch in Fesseln schlagen, so fehlt ihr das eigentümliche Leben. Unsre Lehre von der Ungültigkeit aller Metaphysik gegenüber der strengen Empirie, wo es sich irgend um eine bestimmte Erkenntnis handelt, liegt unbewußt in der menschlichen Natur.

Dem deutlich gesehenen, mehr noch dem selbst gemachten Experiment glaubt jeder. Die Forschung vermochte in ihren ersten, kindlichen Anfängen die durch Jahrtausende verhärteten Bande der aristotelischen Metaphysik zu sprengen, und ein Hegel sollte sie in ihrem Mannesalter gleichsam durch bloße Geschwindigkeit aus[515] Deutschland hinausgebracht haben? Wir werden im folgenden Abschnitt schon besser sehen, wie es sich damit verhält!

Wenn wir uns nun fragen, wie der Materialismus nach Kant wieder aufkam, so müssen wir vor allem bedenken, daß die idealistische Sturzwelle, welche über Deutschland hereinbrach, nicht nur den Materialismus, sondern im Grunde auch das eigentlich Kritische in der Vernunftkritik mit hinweggeschwemmt hatte, so daß in dieser Beziehung Kant fast mehr auf unsre Gegenwart gewirkt hat, als auf seine Zeitgenossen. Die Elemente der Kantischen Philosophie, welche den Materialismus bleibend aufheben, kamen nur wenig zur Geltung, und diejenigen, welche ihn momentan verdrängten, konnten naturgemäß mit einer neuen Wandlung des Zeitcharakters auch wieder verdrängt werden.

Die meisten unsrer Materialisten werden freilich a priori und vor jeder Prüfung geneigt sein, den Zusammenhang ihrer Ansichten mit De la Mettrie oder gar mit dem alten Demokrit rundweg abzuleugnen. Die Lieblingsansicht ist die, daß der heutige Materialismus ein einfaches Ergebnis der neueren Naturwissenschaften sei, das eben deshalb schon mit den verwandten Ansichten älterer Zeiten gar nicht in Vergleich zu bringen sei, weil man die gegenwärtigen Naturwissenschaften früher nicht hatte. Wir hätten dann unser Buch gar nicht zu schreiben brauchen. Wollte man uns aber gestatten, die entscheidenden Grundsätze an den einfacheren Anschauungen früherer Zeiten sukzessiv zu entwickeln, so hätten wir mindestens das nächste Kapitel vor das gegenwärtige stellen müssen.

Hüten wir uns vor einem naheliegenden Mißverständnisse! Wenn wir den geschichtlichen Zusammenhang behaupten, so fällt uns damit natürlich nicht ein, etwa Büchners »Kraft und Stoff« auf eine heimliche Ausnutzung des homme machine zurückzuführen. Nicht einmal eine Anregung durch die Lesung solcher Schriften, ja nicht einmal die leiseste Kenntnis derselben ist nötig, um einen geschichtlichen Zusammenhang anzunehmen. Wie die Wärmestrahlen der glimmenden Kohle von dem einen Brennpunkte sich nach allen Seiten zerstreuen, um in dem andern, vom elliptischen Spiegel zurückgeworfen, den glimmenden Zunder zu entfachen, so verliert sich die Wirkung eines Schriftstellers – und besonders des Philosophen – in das Bewußtsein der Menge, und aus diesem Bewußtsein heraus wirken die zersplitterten Sätze und Anschauungen auf die später reifenden Individuen, deren Empfänglichkeit und Lebensstellung für die Sammlung solcher Strahlen entscheiden kann.[516] Daß unser Gleichnis hinkt, ist selbstverständlich, aber es erläutert doch die eine Seite der Wahrheit. Nun die andre!

Wenn Moleschott sagen konnte, daß der Mensch die Summe von Eltern und Amme, von Ort und Zeit, von Luft und Wetter, von Schall und Licht, von Kost und Kleidung sei, so wird man für die geistigen Einflüsse einen ähnlichen Satz aufstellen dürfen. »Der Philosoph ist die Summe von Überlieferung und Erfahrung, von Gehirnkonstruktion und Umgebung, von Gelegenheit und Studium, von Gesundheit und Gesellschaft«. So ungefähr könnte ein Satz lauten, der jedenfalls handgreiflich genug darstellte, daß auch der materialistische Philosoph sein System nicht lediglich seinem Studium danken kann. Im geschichtlichen Zusammenhang der Dinge schlägt ein Tritt tausend Fäden, und wir können nur einen gleichzeitig verfolgen. Ja, wir können selbst dies nicht immer, weil der gröbere, sichtbare Faden sich in zahllose Fädchen verzweigt, die sich stellenweise unserm Blick entziehen. Daß der Einfluß der neueren Naturwissenschaften auf die besondere Ausbildung und namentlich auf die Verbreitung des Materialismus in weiteren Kreisen ein sehr großer ist, versteht sich von selbst. Unsre Darstellung wird aber hinlänglich zeigen, daß die meisten Fragen, um die es sich hier handelt, ganz die alten sind, und daß nur das Material, nicht aber Ziel und Weg der Beweisführung sich geändert hat.

Zunächst muß freilich eingeräumt werden, daß der Einfluß der Naturwissenschaften beständig, auch während unsrer idealistischen Periode, geeignet war, materialistische Anschauungen zu erhalten und zu fördern. Mit dem Erwachen einer allgemeinen und regeren Teilnahme für die Naturwissenschaften fanden sich daher auch ganz von selbst solche Anschauungen wieder ein, wenn auch ohne zunächst dogmatisch hervorzutreten. Man darf dabei nicht vergessen, daß die Pflege der positiven Wissenschaften kosmopolitisch blieb, während die Philosophie in Deutschland einen isolierten, der allgemeinen Stimmung der Nation entsprechenden Weg einschlug. Mit der Teilnahme an den Forschungen des Auslandes mußte aber der deutsche Naturforscher notwendig auch den Geist, in welchem diese Forschungen angestellt wurden, die Gedanken, durch welche man das einzelne verknüpfte, mit in sich aufnehmen. Bei den einflußreichsten Nationen waren aber die Anschauungen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts im ganzen herrschend geblieben, wenn man auch ein schroffes Hervorkehren der Konsequenzen in der Regel vermied. In Frankreich namentlich[517] wurde durch Cabanis der Physiologie eine materialistische Grundlage gegeben, genau in dem gleichen Augenblick, als in Deutschland der Idealismus durch Schiller und Fichte auf die Spitze getrieben wurde (seit 1795). Als Philosoph betrachtet war freilich Cabanis nichts weniger als Materialist.384 Er neigte zu einem an die Lehre der Stoiker anknüpfenden Pantheismus und hielt übrigens die Erkenntnis der »ersten Ursachen« (man könnte in Kants Sprache sagen: des »Dinges an sich«) für unmöglich.385 Der Lehre Epikurs tritt er öfter entgegen. Allein in der wissenschaftlichen Betrachtung des Menschen bricht er der somatischen Methode Bahn. In der Erscheinung, oder wie es in seiner Sprache heißt, wenn man sich an die »sekundären Ursachen« hält, die den Menschen allein zugänglich sind, finden wir die geistigen Funktionen überall abhängig vom Organismus, und die Empfindung ist die Basis des Denkens und Handelns. Dem Nachweise dieses Zusammenhangs ist nun aber sein Werk gewidmet, und seine Leser, seine Schüler halten sich natürlich an das Nächste, an Zweck und Stoff des Werkes, ohne sich um einleitende und beiläufige Äußerungen philosophischen Inhaltes viel zu kümmern. Seit Cabanis ist daher die Zurückführung geistiger Funktionen auf die Tätigkeit des Nervensystems in der Physiologie herrschend geblieben, was auch immer einzelne Physiologen über die letzten Gründe aller Dinge gedacht haben mögen. Es liegt in der Natur der Spezialwissenschaften, daß Stoff und Methode von Hand zu Hand gehen, während der philosophische Hintergrund beständig wechselt, wenn er überhaupt vorhanden ist. Die Masse hält sich an den relativ konstanten Faktor und nimmt das Nächste, Nützliche und Praktische als allein berechtigt. Auf diese Weise muß sich notwendig, solange die Philosophie nicht imstande ist, ihr Gegengewicht in allen gebildeten Kreisen geltend zu machen, aus dem Betriebe der Spezialwissenschaften heraus ein Materialismus immer neu erzeugen, der vielleicht nur um so zäher ist, je weniger er seinen Trägern als philosophische Weltanschauung zum Bewußtsein kommt. Aber aus dem gleichen Grunde pflegt dieser Materialismus die Grenzen der Fachstudien nicht weit zu überschreiten. Es müssen tiefer liegende Gründe sein, die plötzlich den Naturkundigen veranlassen, die prinzipielle Seite seiner Weltauffassung herauszukehren, und dieser Prozeß ist unzertrennbar von einer Besinnung und einer Sammlung der Gedanken unter einem einheitlichen Gesichtspunkte, deren philosophische Natur unverkennbar ist.[518]

Daß eine solche Wendung gerade in Deutschland eintrat, während in England und Frankreich der Materialismus nicht mehr in auffallender Weise auf den Kampfplatz trat, hängt nun auch wohl ohne Zweifel damit zusammen, daß man sich hier mehr als in irgendeinem andern Lande an philosophische Meinungskämpfe gewöhnt hatte. Man kann sagen, daß der Idealismus selbst dem Materialismus Vorschub leistete, indem er den Sinn für systematische Ausbildung leitender Gedanken weckte, und indem er durch den Gegensatz die jugendlich aufstrebenden Naturwissenschaften herausforderte. Dazu kam, daß man in keinem Lande den religiösen Vorurteilen und kirchlichen Ansprüchen gegenüber sich so allgemein frei gemacht und gleichsam das eigne Denken als ein Lebensbedürfnis aller Gebildeten in Anspruch genommen hatte. Auch hier war es der Idealismus, welcher die Bahn gebrochen hatte, in der sich später der Materialismus fast ohne nennenswertes Hindernis bewegen konnte, und wenn dies Verhältnis oft von den Materialisten gänzlich verkannt oder in sein Gegenteil verkehrt wurde, so ist das nur eines von den vielen Zeichen des ungeschichtlichen Sinnes, welcher dem Materialismus so häufig anhaftet.

Bei alledem dürfen wir nicht vergessen, daß es an Sinn für die naturwissenschaftliche Betrachtung der Dinge in Deutschland niemals gefehlt hat, wenn auch diese Richtung in der Blütezeit unsrer Nationalliteratur von der ethischen Erhebung und spekulativen Begeisterung in Schatten gestellt wurde. Kant selbst war noch ganz der Mann, beide Richtungen in seinem Denken zu vereinigen, und namentlich in seiner vorkritischen Periode tritt er dem Materialismus nicht selten sehr nahe. Sein Schüler und Gegner Herder386 war ganz von der naturwissenschaftlichen Denkweise durchdrungen und hätte vielleicht weit Größeres für die Entfaltung des wissenschaftlichen Sinnes in Deutschland leisten können, wenn er sich begnügt hätte, in positiver Weise für seine Ideen zu wirken, statt sich mit Kant in einen erbitterten und an Mißverständnissen reichen Streit über die Prinzipien einzulassen. Wie sehr Goethe von echt naturwissenschaftlichem Sinne getragen war, wird heutzutage mehr und mehr anerkannt. In vielen seiner Äußerungen gewahren wir eine stille und milde Toleranz gegen die Einseitigkeit der idealistischen Richtung, deren berechtigten Kern er zu schützen wußte, während sich doch sein Gemüt allmählich immer entschiedener zur objektiven Betrachtung der Natur hingezogen fühlte. Sein Verhältnis zur naturphilosophischen Schule darf daher nicht mißdeutet[519] werden. Er, der Dichter, war jedenfalls freier von aller phantastischen Überschwenglichkeit, als mancher Naturforscher von Fach. Aber selbst die Naturphilosophen zeigen uns eigentlich nur eine seltsame Verschmelzung der allgemein herrschenden Romantik mit echter Empfänglichkeit für die Beobachtung der Erscheinungen und die Verfolgung ihres Zusammenhanges. Bei solchen Vorbereitungen mußte der allgemeine Übergang der Nation von der Periode des Idealismus zu einer nüchternen, dem Realen zugewandten Denkweise mit der Zeit notwendig auch den Materialismus wieder hervortreten lassen.

Will man einen bestimmten Zeitpunkt angeben, der sich als das Ende der idealistischen Periode in Deutschland bezeichnen läßt, so bietet sich kein so entscheidendes Ereignis dar, als die französische Julirevolution des Jahres 1830.

Die idealistische Vaterlandsschwärmerei aus den Zeiten der Befreiungskriege war in der Kerkerluft versauert, im Ausland verschmachtet und unter der Gleichgültigkeit der Massen verflüchtigt. Die Philosophie hatte ihren Zauber verloren, seit sie in den Dienst des Absolutismus getreten war. Die großartige Abstraktion, welche den Ausspruch geschaffen hatte, daß das Wirkliche zugleich das Vernünftige ist, hatte im deutschen Norden lange genug die kleinlichsten Bütteldienste getan, um mit der Ernüchterung das Mißtrauen gegen die Philosophie allgemein zu machen. In der Literatur wurde man der Romantik überdrüssig, und Heines Reisebilder hatten einen Ton der Frivolität angeschlagen, den man in dem Vaterlande Schillers kaum hätte suchen sollen. Der Verfasser dieses charakteristischen Zeitproduktes nahm seit 1830 seinen Sitz in Paris, und es wurde Mode, an Deutschlands Zukunft zu verzweifeln und das realistischere Frankreich als das Musterland der neuen Zeit zu betrachten. Um dieselbe Zeit begann der Unternehmungsgeist auf dem Gebiete des Handels und der Industrie sich zu regen. Die materiellen Interessen entfalteten sich, und wie in England verbündeten sie sich bald mit den Naturwissenschaften gegen alles, was den Menschen von seinen nächsten Aufgaben abzulenken schien. Dennoch beherrschte die Literatur noch auf einige Dezennien hinaus den Gesichtskreis der Nation; aber an die Stelle des Klassischen wie des Romantischen drängte sich das junge Deutschland. Die Strahlen materialistischer Denkweise sammelten sich. Männer wie Gutzkow, Th. Mundt und Laube brachten in ihren Schriften manches Ferment epikureischer Denkweise herbei. Der[520] letztere namentlich zerrte dreist an dem ehrwürdigen Mantel, mit dem unsre Philosophie die Schäden ihrer Logik verhüllt hatte.

Dennoch sind es gerade Epigonen der großen philosophischen Epoche, auf die man gewöhnlich die Erneuerung des Materialismus zurückführt. Czolbe hält D. F. Strauß für den Vater unsres neueren Materialismus; andre nennen mit mehr Recht Feuerbach.387 Gewiß ist bei der Nennung dieser Namen die Rücksicht auf religiöse Streitfragen mehr als billig maßgebend gewesen; allein Feuerbach steht allerdings dem Materialismus so nahe, daß er seine besondere Betrachtung fordert.

Ludwig Feuerbach, der Sohn des berühmten Kriminalisten, verriet früh eine ernste, strebsame Natur und mehr Charakter als Geist und Lebendigkeit. In den Strudel der Begeisterung für Hegel hineingezogen, trat er als zwanzigjähriger Student der Theologie die Wallfahrt nach Berlin an, wo Hegel damals (1824) bereits mit der vollen Würde des Staatsphilosophen ausgestattet war. Philosopheme, in welchen nicht das Sein durch das Nichtsein gesetzt und das Positive aus der Negation gewonnen wurde, hießen in offiziellen Erlassen »seicht und oberflächlich«.388 Feuerbachs gründliche Natur arbeitete sich aus den Hegelschen Abgründen zu einer gewissen »Oberflächlichkeit« empor, ohne jedoch jemals die Spuren des Hegelschen Tiefsinns zu verlieren. Bis zu einer klaren Logik hat Feuerbach es niemals gebracht. Der Nerv seines Philosophierens blieb, wie in der idealistischen Epoche überall, die Divination. Ein »folglich« hat bei Feuerbach nicht, wie bei Kant und Herbart, den Sinn eines wirklichen oder doch beabsichtigten Verstandesschlusses, sondern es bedeutet, wie bei Schelling und Hegel, einen in Gedanken vorzunehmenden Sprung. Sein System schwebt daher auch in einem mystischen Dunkel, welches durch die Betonung der Sinnlichkeit und Anschaulichkeit keineswegs hinlänglich erhellt wird.

»Gott war mein erster Gedanke, die Vernunft mein zweiter, der Mensch mein dritter und letzter Gedanke.« Mit diesem Ausspruch bezeichnet Feuerbach nicht sowohl verschiedene Phasen seiner Philosophie, als vielmehr nur die Stadien seiner jugendlichen Entwicklungsgeschichte; denn schon bald nach seiner Habilitation (1828) trat er offen mit den Grundsätzen der Menschheitsphilosophie hervor, an denen er seitdem unerschütterlich festhielt. Die neue Philosophie soll sich zur Hegelschen Vernunftphilosophie verhalten, wie diese zur Theologie. Es soll also jetzt eine neue Epoche[521] anbrechen, in welcher nicht nur die Theologie, sondern auch die Metaphysik als überwundener Standpunkt erscheint.

Merkwürdig ist hier, wie nahe diese Auffassung mit den Lehren zusammentrifft, welche um dieselbe Zeit der edle Comte, ein vereinsamter Denker und Menschenfreund, im Kampfe mit Armut und Trübsinn, in Paris zur Geltung zu bringen suchte. Auch Comte spricht von drei Epochen der Menschheit. Die erste ist die theoretische, die zweite die metaphysische, die dritte und letzte ist die positive, d. h. diejenige, in welcher der Mensch sich mit seinem ganzen Sinnen und Streben der Wirklichkeit zuwendet und in der Lösung realer Aufgaben seine Befriedigung findet.389

Verwandt mit Hobbes setzt Comte das Ziel aller Wissenschaft in die Erkenntnis der Gesetze, welche die Erscheinungen regeln. »Sehen, um vorauszusehen; forschen, was ist, um zu schließen, was sein wird«, ist ihm die Aufgabe der Philosophie. Feuerbach dagegen erklärt: »Die neue Philosophie macht den Menschen mit Einschluß der Natur, als der Basis des Menschen, zum alleinigen, universalen und höchsten Gegenstand der Philosophie – die Anthropologie also, mit Einfluß der Physiologie, zur Universalwissenschaft390

In dieser einseitigen Hervorhebung des Menschen liegt ein Zug, der aus der Hegelschen Philosophie stammt und der Feuerbach von den eigentlichen Materialisten trennt. Es ist eben doch wieder die Philosophie des Geistes, die uns in der Form einer Philosophie der Sinnlichkeit hier begegnet. Der echte Materialist wird stets geneigt sein, seinen Blick auf das große Ganze der äußeren Natur zu richten und den Menschen als eine Welle im Ozean ewiger Stoffbewegung zu betrachten. Die Natur des Menschen ist für den Materialisten nur ein Spezialfall der allgemeinen Physiologie, wie das Denken nur ein Spezialfall in der Kette physischer Lebensprozesse. Er reiht die ganze Physiologie am liebsten ein in die allgemeinen Erscheinungen der Physik und Chemie, und gefällt sich eher darin, den Menschen zu viel, als zu wenig in die Reihe der übrigen Wesen zurücktreten zu lassen. Allerdings wird er in der praktischen Philosophie ebenfalls lediglich auf die Natur des Menschen zurückgehen, aber er wird auch da wenig Neigung haben, dieser Natur, wie Feuerbach es tat, göttliche Attribute beizulegen.

Der große Rückschritt Hegels, verglichen mit Kant, besteht darin, daß er den Gedanken einer allgemeineren Erkenntnisweise der Dinge gegenüber der menschlichen gänzlich verlor. Sein ganzes[522] System bewegt sich innerhalb unsrer Gedanken und Phantasien über die Dinge, denen hochklingende Namen gegeben werden, ohne daß es zur Besinnung darüber kommt, welche Geltung den Erscheinungen und den aus ihnen abgeleiteten Begriffen überhaupt zukommen kann. Der Gegensatz zwischen »Wesen« und »Schein« ist bei Hegel nichts weiter als ein Gegensatz zweier menschlicher Auffassungsformen, der sich alsbald wieder verwischt. Die Erscheinung wird definiert, als der mit dem Wesen erfüllte Schein, und die Wirklichkeit ist da, wo die Erscheinung ganze und adäquate Manifestation des Wesens ist. Der Aberglaube, daß es dergleichen geben könne, wie »ganze und adäquate Manifestation des Wesens« in der Erscheinung, ist auch auf Feuerbach übergegangen. Er erklärt jedoch die Wirklichkeit schlechthin durch Sinnlichkeit, und dies ist es, was ihn den Materialisten nähert.

»Wahrheit, Wirklichkeit, Sinnlichkeit sind identisch. Nur ein sinnliches Wesen ist ein wahres, ein wirkliches Wesen, nur die Sinnlichkeit Wahrheit und Wirklichkeit.« »Nur durch die Sinne wird ein Gegenstand im wahren Sinne gegeben – nicht durch das Denken für sich selbst.« »Wo kein Sinn, ist kein Wesen, kein wirklicher Gegenstand.« – »Wenn die alte Philosophie zu ihrem Ausgangspunkte den Satz hatte: Ich bin ein abstraktes, ein nur denkendes Wesen: der Leib gehört nicht zu meinem Wesen; so beginnt dagegen die neue Philosophie mit dem Satze: Ich bin ein wirkliches, ein sinnliches Wesen: der Leib gehört zu meinem Wesen; ja, der Leib in seiner Totalität ist mein Ich, mein Wesen selber.« »Wahr und göttlich ist nur, was keines Beweises bedarf, was unmittelbar durch sich selbst gewiß ist, unmittelbar für sich spricht und einnimmt, unmittelbar die Affirmation, daß es ist, nach sich zieht – das schlechthin Entscheidende, schlechthin Unzweifelhafte, das Sonnenklare. Aber sonnenklar ist nur das Sinnliche; nur wo die Sinnlichkeit anfängt, hört aller Zweifel und Streit auf. Das Geheimnis des unmittelbaren Wissens ist die Sinnlichkeit.«391

Diese Sätze, die in Feuerbachs Grundsätzen der Philosophie der Zukunft (1849) fast so aphoristisch stehen, wie wir sie hier zusammenstellen, klingen materialistisch genug. Dennoch ist wohl zu beachten, daß Sinnlichkeit und Materialität nicht identische Begriffe sind. Formen sind nicht minder Gegenstand der Sinne als Stoffe; ja, die wahre Sinnlichkeit gibt uns immer die Einheit von Form und Stoff. Wir gewinnen diese Begriffe erst durch Abstraktion, durch das Denken. Durch ferneres Denken gelangen wir[523] dann dazu, ihre Verhältnis in irgendeiner bestimmten Weise aufzufassen. Wie Aristoteles allenthalben der Form den Vorrang gibt, so der gesamte Materialismus dem Stoff. Es gehört zu den unbedingt nötigen Kriterien des Materialismus, daß nicht nur Kraft und Stoff als unzertrennlich gedacht werden, sondern daß die Kraft schlechthin als eine Eigenschaft des Stoffes gefaßt wird, und daß weiterhin aus der Wechselwirkung der Stoffe mit ihren Kräften alle Formen der Dinge abgeleitet werden. Man kann die Sinnlichkeit zum Prinzip machen und dabei doch in der wesentlichen Grundlage des Systems Aristoteles, Spinozist und sogar Kantianer sein. Man nehme nur z.B. an, daß dasjenige, was Kant als Vermutung ausspricht, Tatsache sei, daß nämlich Sinnlichkeit und Verstand in unserm Wesen eine gemeinsame Wurzel haben. Man gehe dann einen Schritt weiter und leite die Kategorien des Verstandes aus der Struktur unsrer Sinnesorgane ab: so kann dabei immer noch der Satz bestehen bleiben, daß die Sinnlichkeit selbst, welche sonach der ganzen Erscheinungswelt zugrunde liegt, nur die Art ist, in welcher ein Wesen, dessen wahre Eigenschaften wir nicht kennen, von andern Wesen affiziert wird. Es ist alsdann kein logischer Grund im Wege, die Wirklichkeit so zu definieren, daß sie mit der Sinnlichkeit zusammentrifft, während man freilich festhalten muß, daß hinter demjenigen, was so für den Menschen Wirklichkeit ist, ein allgemeineres Wesen verborgen ist, welches mit verschiedenen Organen aufgefaßt, auch verschieden erscheint. Man könnte sogar die Vernunftideen samt der ganzen Kant eigentümlichen Begründung der praktischen Philosophie auf das Bewußtsein des Handelnden beibehalten; nur müßte freilich die intelligible Welt unter dem Bilde einer sinnlichen Welt gedacht werden. Statt Kants nüchterner Moral käme dann eine farbenvolle und lebenswarme Religion heraus, deren gedachte Sinnlichkeit zwar nicht die Wirklichkeit und Objektivität der unmittelbaren Sinnlichkeit beanspruchen, wohl aber, gleich Kants Ideen, als eine Vertretung der höheren und allgemeineren Wirklichkeit der intelligiblen Welt gelten könnte.

Bei diesem kleinen Spaziergang durch das Gebiet möglicher Systeme haben wir uns allerdings von Feuerbach ziemlich weit entfernt; aber schwerlich viel weiter, als Feuerbach selbst vom strengen Materialismus entfernt ist. Betrachten wir deshalb auch die idealistische Seite dieser Sinnlichkeitsphilosophie!

»Das Sein ist ein Geheimnis der Anschauung, der Empfindung, der[524] Liebe. – Nur in der Empfindung, nur in der Liebe hat ›Dieses‹ – diese Person, dieses Ding – d.h. das Einzelne absoluten Wert, ist das Endliche, das Unendliche – darin und nur darin besteht die unendliche Tiefe, Göttlichkeit und Wahrheit der Liebe. In der Liebe allein ist der Gott, der die Haare auf dem Haupte zählt, Wahrheit und Realität.« »Die menschlichen Empfindungen haben keine empirische, anthropologische Bedeutung im Sinne der alten transzendentalen Philosophie; sie haben ontologische, metaphysische Bedeutung: in den Empfindungen, ja in den alltäglichen Empfindungen, sind die tiefsten und höchsten Wahrheiten verborgen. So ist die Liebe der wahre ontologische Beweis vom Dasein eines Gegenstandes außer unserm Kopfe – und es gibt keinen andern Beweis vom Sein, als die Liebe, die Empfindung überhaupt. Das, dessen Sein dir Freude, dessen Nichtsein dir Schmerz bereitet, das nur ist.«392

Feuerbach hat gewiß auch so viel Nachgedanken gehabt, er z.B. die Existenz lebender und denkender Wesen auf dem Jupiter oder in einem fernen Fixsternsystem nicht eben für unmöglich hielt. Wenn dennoch die ganze Philosophie so gestellt wird, als sei der Mensch das einzige, ja das einzig denkbare Wesen von gebildeter, geistiger Sinnlichkeit, so ist das natürlich absichtliche Selbstbeschränkung. Feuerbach ist darin Hegelianer und huldigt im Grunde samt Hegel dem Grundsatze des alten Protagoras, daß der Mensch das Maß der Dinge sei. Wahr ist ihm, was für den Menschen wahr ist; d.h. was mit menschlichen Sinnen erfaßt wird. Deshalb erklärt er, daß die Empfindungen nicht nur anthropologische, sondern metaphysische Bedeutung haben, d.h. daß sie nicht nur als Naturvorgänge im Menschen, sondern als Beweise für die Wahrheit und Wirklichkeit der Dinge zu betrachten sind. Dadurch steigt aber auch die subjektive Bedeutung des Sinnlichen. Sind die Empfindungen die Basis des Metaphysischen, so müssen sie auch, psychologisch genommen, die eigentliche Substanz alles Geistigen sein.

»Die alte absolute Philosophie hat die Sinne nur in das Gebiet der Erscheinung, der Endlichkeit verstoßen, und doch hat sie im Widerspruch damit das Absolute, das Göttliche als den Gegenstand der Kunst bestimmt. Aber der Gegenstand der Kunst ist Gegenstand des Gesichts, des Gehörs, des Gefühls. Also ist nicht nur das Endliche, das Erscheinende, sondern auch das wahre, göttliche Wesen Gegenstand der Sinne – der Sinn das Organ des Absoluten.«[525]

»Wir fühlen nicht nur Steine und Hölzer, nicht nur Fleisch und Knochen, wir fühlen auch Gefühle, indem wir die Hände oder Lippen eines fühlenden Wesens drücken; wir vernehmen durch die Ohren nicht nur das Rauschen des Wassers und das Säuseln der Blätter, sondern auch die seelenvolle Stimme der Liebe und Weisheit; wir sehen nicht nur Spiegelflächen und Farbengespenster, wir blicken auch in den Blick des Menschen. Nicht nur Äußerliches also, auch Innerliches, nicht nur Fleisch, auch Geist, nicht nur das Ding, auch das Ich ist Gegenstand der Sinne. – Alles ist darum sinnlich wahrnehmbar, wenn auch nicht unmittelbar, so doch mittelbar, wenn auch nicht mit den pöbelhaften, rohen, doch mit den gebildeten Sinnen, wenn auch nicht mit den Augen des Anatomen oder Chemikers, doch mit den Augen des Philosophen.«393

Aber sind die »gebildeten Sinne«, sind die »Augen des Philosophen« nicht in Wahrheit ein Zusammenwirken der Sinne mit dem Einflusse erworbener Vorstellungen? Man muß Feuerbach zugeben, daß dies Zusammenwirken nicht so einfach mechanisch als die Summe zweier Funktionen, einer sinnlichen und einer geistigen, gedacht werden darf. Es werden wirklich mit der geistigen Entwicklung auch die Sinne zum Erkennen des Geistigen gebildet und es ist sehr wahrscheinlich, daß auch bei dem Denken der erhabensten und scheinbar »übersinnlichsten« Gegenstände die Sinneszentra des Gehirns noch sehr wesentlich mitwirken. Wenn man aber einmal das sinnliche Element in der Betrachtung vom geistigen trennen will, so ist dies in der Kunst ganz ebensowohl durchführbar, als auf irgendeinem andern Gebiete. Das Ideale im Kopf der Juno liegt nicht im Marmor, sondern in der Form desselben. Der Sinn als solcher sieht zunächst den weiß glänzenden Marmor; zur Auffassung der Form gehört schon Bildung, und um die Form vollkommen zu würdigen, muß dem Gedanken des Künstlers schon ein Gedanke entgegenkommen. Nun mag es sein, was noch über Feuerbachs Standpunkt hinausgeht, daß auch der abstrakteste Gedanke sich noch im Empfindungsmaterial aufbaut, wie die feinste Zeichnung der Kreide oder des Bleistifts nicht entbehren kann: dann werden wir doch die Form der Empfindungsfolge ganz ebenso vom Materiellen der Empfindungen unterscheiden dürfen, wie z.B. die Form des Kölner Doms von den Trachytmassen, aus denen er errichtet ist. Die Form des Domes aber läßt sich auch in einer Zeichnung darstellen; sollte da der Gedanke so fern liegen, daß jene Form der Empfindungsfolge, welche das geistig Bedeutende[526] im Anschauen eines Kunstgegenstandes ist, in ihrem Wesen von dem zufälligen Material menschlicher Empfindung unabhängig ist, an welches sie freilich für uns Menschen unabänderlich gebunden ist? Der Gedanke ist transzendent, aber einen Widerspruch enthält er nicht.

Der schlimmste Punkt ist im Grunde der, daß Feuerbach neben dem Empfinden noch ganz im Hegelschen Geiste ein durchaus empfindungsloses Denken anerkennt und dadurch in das Wesen des Menschen einen unheilbaren Zwiespalt bringt. Das Vorurteil, daß es ein empfindungsloses, ganz reines, ganz abstraktes Denken gebe, teilt Feuerbach mit der großen Menge; leider auch mit der großen Menge der Physiologen und Philosophen. Es paßt aber zu seinem System schlechter als zu irgendeinem andern. Unsre bedeutendsten Gedanken vollziehen sich gerade in dem feinsten – für die nachlässige Selbstbeobachtung verschwindend feinen – Empfindungsmaterial, während die stärksten Empfindungen oft nur untergeordnete Wertbeziehungen zu unsrer Person und noch weniger logischen Gehalt haben. Es dürfte aber schwerlich eine Empfindung geben, in welcher nicht schon eine Beziehung auf andre Empfindungen derselben Klasse mitempfunden wird. Wenn ich den Ton einer Glocke höre, wird meine Empfindung schon in ihrer ersten Unmittelbarkeit durch meine Kenntnis der Glocke bestimmt. Ebendeshalb hat ein ganz fremdartiger Ton oft etwas so ungemein aufregendes. Das Allgemeine ist im Besondern, das Logische im Physiologischen, wie der Stoff in der Form. Was Feuerbach metaphysisch auseinanderreißt, ist bloß logisch zu trennen. Es gibt kein reines Denken, welches bloß das Allgemeine zum Inhalt hat. Es gibt auch keine Empfindung, welche nichts Allgemeines in sich hätte. Das einzelne Sinnliche, wie Feuerbach es faßt, kommt tatsächlich nicht vor und kann deshalb auch nicht wohl das allein Wirkliche sein.

Sonderbar ist uns immer erschienen, daß intelligente Gegner Feuerbach oft zum Vorwurf gemacht haben, sein System müsse in moralischer Hinsicht notwendig zum reinen Egoismus führen. Es war eher der umgekehrte Vorwurf zu machen, daß nämlich Feuerbach die Moral des theoretischen Egoismus ausdrücklich anerkannte, während die Konsequenz seines ganzen Systems durchaus auf das Entgegengesetzte führen mußte. Wer den Begriff des Seins sogar aus der Liebe ableitet, kann die Moral des système de la nature unmöglich beibehalten. Feuerbach eigentliches Moralprinzip, dem er[527] freilich gelegentlich gröblich widerspricht, müßte man eher nach dem Pronomen der zweiten Person bezeichnen: er hat den Tuismus erfunden! Hören wir die Grundlage!

»Alle unsre Ideen entspringen aus den Sinnen; darin hat der Empirismus vollkommen recht, nur vergißt er, daß das wichtigste, wesentlichste Sinnenobjekt des Menschen der Mensch selbst ist, daß nur im Blicke des Menschen in den Menschen das Licht des Bewußtseins und des Verstandes sich entzündet. Der Idealismus hat daher recht, wenn er im Menschen den Ursprung der Ideen sucht, aber unrecht, wenn er sie aus dem isolierten, als für sich seienden Wesen, als Seele fixierten Menschen, mit einem Worte: aus dem Ich ohne ein sinnlich gegebenes Du ableiten will. Nur durch Mitteilung, nur aus der Konversation des Menschen mit dem Menschen entspringen die Ideen. Nicht allein, nur selbander kommt man zu Begriffen, zur Vernunft überhaupt. Zwei Menschen gehören zur Erzeugung eines Menschen – des geistigen so gut wie des physischen: die Gemeinschaft des Menschen mit dem Menschen ist das erste Prinzip und Kriterium der Wahrheit und Allgemeinheit.«

»Der einzelne Mensch für sich hat das Wesen des Menschen nicht in sich, weder in sich als moralischem, noch in sich als denkendem Wesen. Das Wesen des Menschen ist nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten – eine Einheit, die sich aber nur auf die Realität des Unterschiedes von Ich und Du stützt.«

»Einsamkeit ist Endlichkeit und Beschränktheit, Gemeinschaftlichkeit ist Freiheit und Unendlichkeit. Der Mensch für sich ist Mensch (im gewöhnlichen Sinn), der Mensch mit Mensch – die Einheit von Ich und Du ist Gott.«394

Aus diesen Sätzen hätte Feuerbach bei einiger Konsequenz entwickeln müssen, daß sich die ganze menschliche Sittlichkeit und das höhere Geistesleben auf Anerkennung des andern gründet. Statt dessen fiel er in den theoretischen Egoismus zurück. Die Schuld davon ist teils in der Zusammenhanglosigkeit seines Denkens zu suchen, teils in seinem Kampf gegen die Religion. Die Opposition gegen die religiöse Lehre riß ihn dazu fort, die Moral Holbachs gelegentlich anzuerkennen, welche seinem System zuwider ist. Der Mann, welcher in der deutschen Literatur am rücksichtslosesten und konsequentesten den Egoismus gepredigt hat, Max Stirner, befindet sich gegen Feuerbach in entschiedener Opposition.

Stirner ging in seinem berüchtigten Werke »Der Einzige und sein[528] Eigentum« (1845) so weit, jede sittliche Idee zu verwerfen. Alles, was irgendwie, sei es als äußere Gewalt, als Glaube, oder als bloßer Begriff sich über das Individuum und seine Willkür stellt, verwirft Stirner als hassenswerte Schranke seiner selbst. Schade, daß nicht zu diesem Buche – dem extremsten, das wir überhaupt kennen – ein zweiter, positiver Teil geschrieben wurde. Es wäre leichter möglich gewesen, als zur Schellingschen Philosophie; denn aus dem schrankenlosen Ich hinaus kann ich als meinen Willen und meine Vorstellung auch jede Art von Idealismus wiedererzeugen. Stirner betont in der Tat den Willen dermaßen, daß er als Grundkraft des menschlichen Wesens erscheint. Er kann an Schopenhauer erinnern. – So hat alles seine Kehrseite!

Stirner steht weder zum Materialismus in engerer Beziehung, noch hat sein Buch so viel Einfluß erlangt, daß wir länger bei ihm verweilen dürften. Es ist vielmehr an der Zeit, daß wir uns der Gegenwart zuwenden.

Der Bruch des deutschen Idealismus, den wir vom Jahre 1830 her datieren, ging allmählich in einen Kampf gegen die bestehenden Gewalten in Staat und Kirche über, bei dem der philosophische Materialismus zunächst nur eine untergeordnete Rolle spielte, während doch der ganze Charakter der Zeit sich zum Materialismus hinzuneigen begann. Man könnte die deutsche Poesie mit dem Jahre 1830 abschließen, und man würde wenig wahrhaft Bedeutendes vermissen. Nicht nur die klassische Periode war vorüber, auch die Romantiker hatten ausgesungen; die schwäbische Schule hatte ihre Blüte hinter sich, und selbst von Heine, der einen so bedeutenden Einfluß auf die neue Periode ausübte, liegt fast alles, was noch von einem idealen Hauch belebt ist, vor jenem Wendepunkt. Die berühmten Dichter waren tot oder verstummt oder zur Prosa übergegangen; was noch produziert wurde, trug den Stempel der Künstelei. Man kann keinen sprechenderen Beweis verlangen für den inneren Zusammenhang von Spekulation und Poesie, als die Art, wie diese Wendung in der Philosophie sich spiegelt. Schelling, einst der bewußteste Träger der Zeitidee, ein überschwenglicher Apostel der Produktion, produzierte nichts mehr. Die Genialität mit ihren schnell gereiften Früchten war vorüber, wie eine Sturmflut, die der Ebbe gewichen ist. Hegel, der die Zeit zu beherrschen schien, versuchte die Idee in verknöcherte Formeln zu bannen. In seinem System setzte sich in der Tat der Einfluß der großen idealistischen Periode auf die jüngere Generation noch am entschiedensten[529] fort, aber unter welchen Umgestaltungen! – Am meisten ging das Verständnis für Schiller verloren, wie der Beifall bewies, den Börnes herzlose Kritiken beim großen Publikum fanden.

Gervinus, der den Gedanken eines einstweiligen Abschlusses unsrer Periode der Dichtung mit größter Bestimmtheit aussprach, hegte die Meinung, es müsse jetzt eine Periode der Politik folgen, in welcher sich Deutschland unter Führung eines politischen Luther zu einer besseren Form des Daseins erheben sollte; aber er vergaß, daß zu einer Regeneration in der Form, wie er sie sich dachte, auf alle Fälle ein neuer Aufschwung des Idealismus gehört hätte, und daß für die realistische Periode, welche jetzt begann, das materielle Wohl und die Entwicklung der Gewerbetätigkeit in erster Linie kam. Allerdings sah man mit Vorliebe auf das »realistische« Frankreich, auch in politischer Hinsicht. Aber was die Juli-Monarchie und der französische Konstitutionalismus bei den Kreisen, welche jetzt tonangebend wurden, so besonders beliebt machte, war ihre Stellung zu den materiellen Interessen der besitzenden Klassen. Jetzt erst konnte in Deutschland ein Kaufmann und Gründer von Aktiengesellschaften, wie Hansemann, zum Stimmführer für die öffentliche Meinung werden. Die Gewerbevereine und ähnliche Gesellschaften schossen zu Anfang der dreißiger Jahre wie Pilze aus dem Boden; auf dem Gebiete des Unterrichtswesens wurden polytechnische Anstalten, gewerbliche Fortbildungsschulen und Handelsschulen von den Bürgern der aufblühenden Städte begründet, während man die unbestreitbaren Fehler der Gymnasien und der Universitäten mit dem Vergrößerungsglase einer abgeneigten Stimmung betrachtete. Die Regierungen suchten hier zu wehren, dort zuvorzukommen, aber im ganzen zeigten sie sich vom gleichen Geiste ergriffen. Ein charakteristischer kleiner Zug ist, daß der Turnunterricht, den man wegen seiner idealistischen Tendenzen totgeschlagen hatte, jetzt aus Gesundheitsrücksichten wieder zugelassen wurde. Die wichtigste Tätigkeit der Regierungen war dem Verkehrswesen zugewandt, und die bedeutendste sozialpolitische Schöpfung des ganzen Dezenniums war der deutsche Zollverein. Noch wichtiger freilich wurden in der Folge die Eisenbahnen, in deren Begründung seit der Mitte des Jahrzehnts die hervorragendsten Handelsstädte wetteiferten. Genau um die gleiche Zeit brach das Interesse für die Naturwissenschaften sich endlich auch in Deutschland Bahn, und die leitende Rolle spielte dabei eine Wissenschaft, welche mit den[530] praktischen Interessen in engster Verbindung steht, die Chemie. Seit Liebig in Gießen das erste Laboratorium an einer deutschen Universität errungen hatte, war der Damm des Vorurteils durchbrochen, und während ein tüchtiger Chemiker nach dem andern aus der Gießener Schule hervorging, sahen die übrigen Universitäten sich gezwungen, der Reihe nach dem gegebenen Beispiele zu folgen. Eine der wichtigsten Pflegestätten der Naturwissenschaften wurde aber vor allem auch Berlin, wo Alexander von Humboldt, damals schon eine europäische Berühmtheit, seit 1827 seinen Sitz nahm. Ehrenberg, Dove und die beiden Rose, der Chemiker und der Mineraloge, wirkten hier schon in den dreißiger Jahren. Zu ihnen gesellte sich Johannes Müller, welcher zwar in seiner Jugend durch die naturphilosophische Schule gegangen war, aber ohne dabei die nüchterne Energie des Forschers einzubüßen. Durch sein Handbuch der Physiologie (1833), wie durch seine unermüdliche Lehrtätigkeit wurde er der einflußreichste Bahnbrecher für die streng naturwissenschaftliche Richtung in der Physiologie; mächtig unterstützt freilich durch die namentlich nach der Seite mathematischer Genauigkeit noch tiefer gehenden Arbeiten von Ernst Heinrich Weber, der in Leipzig wirkte. Dazu kam noch daß der französische Einfluß, der damals in Deutschland wieder sehr bedeutend war, auch ganz nach dieser Seite trieb. Die Forschungen eines Flourens, Magendie, Leuret, Longet auf dem Gebiete der Physiologie, und besonders gerade die Physiologie des Gehirns und Nervensystems, erregten unter den Fachmännern Deutschlands ungeheures Aufsehen und bereiteten den Boden vor für das spätere Auftreten von Vogt und Moleschott. Schon damals liebte man es in Deutschland, wenn auch noch nicht mit der späteren Öffentlichkeit, aus diesen Forschungen Schlüsse über die Natur der Seele zu ziehen. Auch für die Reform der Psychiatrik kam der wichtigste Anstoß aus Frankreich; denn nichts war so geeignet, den transzendenten Träumen des theologisierenden Heinroth und seiner Anhänger für immer ein Ende zu machen, als das Studium der Werke des verdienstvollen Esquirol, die 1838 ins Deutsche übersetzt wurden. Im gleichen Jahre erschien auch eine Übersetzung des Werkes von Quételet über den Menschen, in welchem der berühmte belgische Astronom und Statistiker eine auf Zahlen gestützte Naturlehre der menschlichen Handlungen zu geben versuchte.

Den bedeutendsten Einfluß übte das Zurückweichen der idealistischen[531] Hochflut auf religiösem Gebiete. Die Begeisterung für fromme Romantik und poesievolles Kirchentum schwand und ließ als Rückstand den Materialismus eines neuen Buchstabenglaubens und eines geistlosen Autoritätsprinzips. Während in dieser Richtung Hengstenberg von Berlin aus den Ton angab, ging im Süden Deutschlands die Tübinger Schule umgekehrt, schärfer als bisher üblich war, mit den Waffen strenger Wissenschaft an die Bearbeitung der kirchlichen Überlieferungen. War auch in diesen Bestrebungen, die sich anfangs noch mit der Bewunderung Hegels verbanden, entschieden mehr echter Idealismus als in dem Treiben Hengstenbergs und seiner Gönner und Anhänger, so gehörte doch die Anwendung einer kühlen, streng den Geboten des Verstandes folgenden Kritik auf die Bibel und die Kirchengeschichte zu den Zeichen des neuen Zeitalters, in welchem nach allen Seiten das Praktische und Verstandesmäßige sich geltend machte.

Es läßt sich jedoch nicht leugnen, daß neben diesem allgemeinen Grundzuge des Zeitalters zum Praktischen und Materiellen eine lebhafte Gärung der Gemüter unterhalten wurde durch das Verlangen nach besseren politischen Zuständen und durch den Haß der Gebildeten gegen die reaktionäre Haltung der Regierungen. So schwach man sich auf dem politischen Gebiete fühlte, so stark fühlte man sich auf dem Boden der Literatur, der wissenschaftlichen wie der belletristischen. Die Schriften des jungen Deutschland erhielten durch den Geist der Opposition, der sich in ihnen aussprach, eine Bedeutung, welche sie weit über ihren inneren Wert erhob. Im Jahre 1835 – dem gleichen Jahre, in welchem die erste Eisenbahn auf deutschem Boden in Betrieb gesetzt wurde – erschienen Mundts Madonna und Gutzkows Wally, ein Buch, welches dem Autor wegen seiner Angriffe auf das Christentum Festungshaft zuzog. Und doch sollte ein andres Buch, welches im gleichen Jahre erschien, dem Regierungs-Christentum, das damals schon als Schild aller Autoritäten gepflegt wurde, weit tiefer an die Wurzeln greifen: das Leben Jesu von Strauß. Mit diesem Buche übernahm Deutschland die Führerrolle in dem von England begonnenen und von Frankreich fortgesetzten Kampfe für die Anwendung freier Kritik auf die Überlieferungen der Religion. Die historisch-philologische Kritik war ohnehin schon zum Glanzpunkt der deutschen Wissenschaft geworden. Hier waren Gründe und Gegengründe greifbarer als auf dem spekulativen Felde, und das Buch wurde so für jeden, der die Kenntnisse zu haben glaubte,[532] um es prüfen zu können, zu einer direkten Herausforderung. Was noch von ideal gefärbten oder unklaren Mittelstandpunkten aus der Zeit der Romantik und des älteren Rationalismus vorhanden war, brach sich an den kritischen Fragen, welche nunmehr das Feld beherrschten. Die Geister schieden sich strenger als bisher.

In den vierziger Jahren wurde der Drang nach neuen Zuständen aggressiv. Man begnügte sich nicht mehr damit, ein freies Wort zu wagen' eine kühne Idee auszusprechen; sondern man bezeichnete die bestehenden Zustände geradezu als unhaltbar. Seit Ruge mit den Hallischen Jahrbüchern das Signal gegeben, verband sich das Streben nach politischer Freiheit mit wissenschaftlichen und sozialen Bestrebungen mancherlei Art zu einem gemeinsamen Sturm der Opposition. Namentlich waren die kirchlichen Zustände Gegenstand des Angriffs, und eben deshalb galten materialistische Ideen im ganzen als willkommene Bundesgenossen, während doch der Hegelianismus und die rationalistische Kritik im Vordergrunde standen. In der Religion war man besonders über die Fesseln entrüstet, welche eine immer allgemeiner werdende Rehabilitationssucht der Wissenschaft anzulegen drohte; in der Politik empörten besonders die Versuche einer unklaren Romantik, die Vorstellungen vergangener Jahrhunderte wieder heraufzubeschwören. Fast konnte es scheinen, als sei ein wissenschaftlicher Drang im Kampf mit den Hemmnissen der Staatsgewalt das Geheimnis der Spannung, die sich bald zu entladen begann. Wie immer wurde die Bewegung in ihrem Fortschreiten idealistischer. Religion und Poesie wurden in den Kampf gerufen. Die politische Dichtung erreichte ihren Höhepunkt. Der Deutsch-Katholizismus machte den ersten Riß; dann zog eine Reihe von Stürmen durch ganz Europa, und das Jahr 1848 machte dem längst verhaltenen Groll auf einmal Luft.

Hatte der Materialismus in den Anfängen dieser Bewegung seine Rolle gespielt, so trat er dagegen im Augenblick der entscheidenden Kämpfe völlig hinter idealistischen Bestrebungen zurück. Der Rückschlag der Reaktion war es, welcher die Gemüter dazu stimmte, die Frage des Materialismus wieder einmal mit Eifer aufzugreifen und das Für und Wider vielseitig, wenn auch nicht eben gründlich, zu erörtern.

Schon öfter konnte man in Deutschland einen eigentümlichen Wechsel in der Richtung des allgemeinen Fortschrittsdranges bemerken. Nach einer Zeit, in welcher gewisse beherrschende Ideen[533] alle Kräfte zu einem gemeinsamen Stoße sammeln, folgt eine andre, in welcher sich jeder Arbeiter in seinen besondern Stoff vertieft. So sah man jetzt die Kongresse, die Wandertage, die gemeinsamen deutschen Feste, Zentralvereine für alle möglichen Fächer und Bestrebungen in immer größerer Zahl entstehen, und im Genossenschaftswesen bildete sich still und praktisch eine neue soziale Macht. Mit besondrer Energie erhoben sich aber nach der idealpolitischen Sturmflut des Jahres 1848 mit den ersten Zeichen der entschiednen Ebbe die materiellen Interessen. Das tief in seinen Grundfesten erschütterte Österreich suchte eine förmliche Regeneration auf der Basis des industriellen Fortschrittes zu gewinnen. In fieberhafter Hast schuf von Bruck Straßen auf Straßen; Verträge, Spekulationen und Finanzmaßregeln verdrängten einander. Die Privattätigkeit folgte. In Böhmen entstanden Kohlenwerke, Hochöfen, Eisenbahnen. In Süddeutschland nahm die Baumwollindustrie einen großartigen Aufschwung. In Sachsen entwickelten sich fast alle Zweige der metallischen und der Textilindustrie in größerem Maßstabe als bisher. In Preußen warf man sich mit Verzweiflung auf Bergbau und Hüttenbetrieb. Kohle und Eisen wurden zum Losungswort der Zeit. In Schlesien und noch mehr am Niederrhein und in Westfalen eiferte man England nach. In einer Periode von kaum zehn Jahren stieg die Kohlenproduktion im Königreich Sachsen auf das Doppelte; am Rhein und in Westfalen auf das Dreifache; Schlesien hielt die Mitte. Der Wert des produzierten Roheisens verdoppelte sich in Schlesien; in der westlichen Hälfte der preußischen Monarchie stieg er aufs Fünffache. Der Wert der gesamten Bergwerksproduktion stieg auf mehr als das Dreifache; ähnlich die Erzeugnisse der Hütten. Die Eisenbahnen wurden dem massenhaften Gütertransport dienstbar gemacht und gewannen dadurch eine Frequenz, die man nie geahnt hatte. Die Reederei gedieh und die Exportgeschäfte gewannen zum Teil einen schwindelhaften Umfang. Die deutsche Einheit sucht man nach Verlust des Parlaments durch Gewicht und Münze zu fördern. Charakteristisch genug war eine Wechselordnung so ziemlich das einzige, was aus der großen Einheitsbewegung gerettet war.

Mit dem materiellen Fortschritt ging wieder ein erneuter Aufschwung der Naturwissenschaften Hand in Hand, und namentlich trat die Chemie in immer engere Beziehungen zum Leben. Nun hätte man sich mit den positiven Tatsachen, und namentlich mit den nutzbaren Resultaten jener Wissenschaften begnügen, und wie[534] es in England Brauch war, im übrigen einer bequemen und gedankenlosen Orthodoxie huldigen können. Das wäre der praktische Materialismus in seiner Vollendung gewesen; denn nichts spart unsre Kräfte sicherer für den Erwerb, nichts sichert so sehr die sorgenlose Genußfähigkeit, nichts stählt das Herz so sehr gegen die verhaßten Anfälle des Mitleids und des Zweifels an der eignen Vollkommenheit, als jene völlige geistige Passivität, welche jedes Nachdenken über den Zusammenhang der Erscheinungen und über die Widersprüche in Erfahrung und Oberlieferung als nutzlos abweist.

Deutschland kann sich diesem Materialismus niemals völlig hingeben. Der alte schaffende Kunsttrieb ruht und rastet nicht; man konnte die Einheitsbestrebungen des Vaterlands vorübergehend vergessen, aber nicht die Einheitsbestrebungen der Vernunft. Diese Architektonik liegt uns mehr am Herzen als die Architektur unsrer mittelalterlichen Dome. Und wenn die patentierte Baumeisterin schläft, so wird inzwischen munter Gewerbefreiheit geübt, und Chemiker und Physiologen ergreifen die Kelle der Metaphysik. Deutschland ist das einzige Land der Erde, in welchem der Apotheker kein Rezept anfertigen kann, ohne sich des Zusammenhanges seiner Tätigkeit mit dem Bestand des Universums bewußt zu sein. Es ist ein idealer Zug, der uns während der Zeit der tiefsten Versumpfung der Philosophie wenigstens den materialistischen Streit gegeben hat, als eine Erinnerung für die leicht befriedigten Massen der »Gebildeten«, daß jenseit der täglichen Gewohnheit des Arbeitens und Experimentierens noch ein endloses Gebiet liegt, dessen Durchwanderung den Geist erfrischt und das Gemüt veredelt.

Eins verdient der deutschen Naturforschung dieser Tage für immer hoch angerechnet zu werden: daß sie, so gut sie es verstand, den Handschuh aufnahm, der von übermütigen Frevlern der Wissenschaft hingeworfen wurde. Es gibt kein sicheres Zeichen für die Ohnmacht und Entwürdigung der Philosophie, als daß sie schwieg, während elende Günstlinge elender Fürsten dem Gedanken Umkehr gebieten wollten.

Freilich wurden die Naturforscher auch durch Männer aus ihren eignen Reihen gereizt, welche, ohne die mindeste wissenschaftliche Veranlassung, sich bewogen fanden, dem in der Naturforschung herrschenden Geist entgegenzutreten. Die Allgemeine Zeitung, welche dazu übergegangen war, die Spalten ihrer ehemals[535] höher stehenden Beilagen dem minder wissenschaftlichen Professorentum zu widmen, darf ihren Anteil an der Anfachung des Streites in Anspruch nehmen. Das Jahr 1852 brachte gleich zu Anfang R. Wagners physiologische Briefe. Im April unterzeichnete Moleschott die Vorrede zum Kreislauf des Lebens, und im September verkündete Vogt zu seinen Bildern aus dem Tierleben daß es Zeit sei, der überhandnehmenden Autoritätssucht die Zähne zu zeigen.

Von den beiden Vorkämpfern der materialistischen Richtung war der eine ein Epigone der Naturphilosophie; der andre gewesener Reichsregent, also ein verzweifelter Idealist. Beide Männer, nicht ohne den Trieb eigner Forschung, glänzten doch vorzüglich durch das Talent der Darstellung. Ist Vogt klarer und schärfer im einzelnen, so hat dagegen Moleschott das Ganze mehr durchdacht und gerundet. Vogt widerspricht häufiger sich selbst; Moleschott ist reicher an Sätzen, denen überhaupt kein bestimmter Sinn beizumessen ist. – Vogts Hauptwerk in dieser Streitsache (Köhlerglaube und Wissenschaft) erschien übrigens erst nach jener Göttinger Naturforscherversammlung (1854), welche uns beinahe das Schauspiel der großen Religionsdispute der Reformationszeit wiederholt hätte. In die Zeit des hitzigsten Streites (1855) fällt auch Büchners Kraft und Stoff, ein Werk, das vielleicht mehr Aufsehen gemacht und jedenfalls eine schärfere Beurteilung gefunden hat, als irgendein andres dieser Literatur. Wir müssen die sittlichen Vorwürfe, die man Büchner, namentlich wegen der ersten Auflage seines Schriftchens, hat machen wollen, entschieden zurückweisen; dagegen vermögen wir freilich ebensowenig den Anspruch auf eine selbständige philosophische Bedeutung, den Büchner erhebt, anzuerkennen. Prüfen wir deshalb zunächst seine Anforderungen an die Philosophie!

Büchner äußert im Vorwort zu seiner Schrift, nachdem er die Verschmähung einer philosophischen Kunstsprache begründet hat, folgendes:

»Es liegt in der Natur der Philosophie, daß sie geistiges Gemeingut sei. Philosophische Ausführungen, welche nicht von jedem Gebildeten begriffen werden können, verdienen nach unsrer Ansicht nicht die Druckerschwärze, welche man daran gewendet hat. Was klar gedacht ist, kann auch klar und ohne Umschweife gesagt werden.«

Damit stellt nun Büchner einen vollständig neuen Begriff von Philosophie[536] auf, ohne diesen jedoch genau zu bestimmen. Was man bisher Philosophie nannte, war niemals Gemeingut aller und konnte nicht von »jedem Gebildeten« begriffen werden, wenigstens nicht ohne tiefe und eingehende Vorstudien. Die Systeme eines Heraklit, Aristoteles, Spinoza, Kant, Hegel erfordern die eingehendste Bemühung, und wenn selbst dann nicht alles in ihnen verständlich wird, so mag dies Schuld jener Philosophen sein. Daß die Werke derselben unsern Vorfahren mehr wert waren als die Druckerschwärze, ist klar, weil sie sonst nicht wären gedruckt, verkauft, bezahlt, gelobt und sogar oft gelesen worden. Offenbar richtet aber auch Büchner seine Worte nur an die Lebenden, in des Wortes verwegenster Bedeutung. Was jene Systeme etwa für die Vergangenheit wert sein mochten, unterläßt er zu untersuchen. Er hält sich auch nicht mit der Frage auf, welchen Einfluß diese Vergangenheit auf die Gegenwart geübt habe, und ob etwa ein notwendiger Entwicklungsgang unser gegenwärtiges Denken mit den Bemühungen jener Philosophen verbinde. Auch wird man annehmen müssen, daß Büchner der Geschichte der Philosophie ihre Bedeutung läßt, denn wie viele Gegenstände der Natur, so wird doch auch wohl das Denken des Menschen eine Untersuchung verdienen, bei welcher man sich nicht auf die oberflächlichsten Produkte der Denktätigkeit beschränken darf. Büchner hat selbst einen Aufsatz über Schopenhauer geschrieben, in welchem er sich zwar nur bemüht, dem großen Publikum einige Kenntnis von dem eigentümlichen Denken dieses Philosophen zu geben, aber doch auch anerkennt, daß Schopenhauer noch jetzt »einen gewichtigen Einfluß auf den Gang unsrer augenblicklichen philosophischen Entwicklung« üben müsse. Und doch vertritt Schopenhauer einen Idealismus, welcher neben Kant als reaktionär zu bezeichnen und außerdem gar nicht leicht zu verstehen ist.

Büchner verlangt auch keineswegs bloß eine bessere und verständlichere Darstellungsweise der Philosophie; denn in demjenigen, was man bisher mit diesem Ausdruck bezeichnete, kamen Fragen vor, welche auch durch den populärsten Ausdruck nicht viel verständlicher werden können, eben weil die Schwierigkeit nur in der Sache liegt. So weit nämlich würden wir Büchner vollständig beipflichten, als es entschieden an der Zeit ist, die sogenannte esoterische Lehrform endlich bis auf den letzten Rest zu vertilgen. Freilich würden die meisten Philosophen gelegentlich abgesetzt worden sein, wenn der Radikalismus ihrer eigentlichen Grundsätze ebenso[537] verständlich wäre, als die Verträglichkeit der praktischen Anwendungen, welche oft auf den sonderbarsten Umwegen gewonnen werden; aber das wäre eben auch für den Fortschritt der Menschheit kein Unglück gewesen. Kant, der ein edeldenkender Mensch war und sich außerdem auf den großen König und den aufgeklärten Minister von Zedlitz wohl verlassen konnte, hatte doch noch so viel von den alten esoterischen Grundsätzen beibehalten, daß er z.B. den Materialismus seiner Verständlichkeit wegen für gefährlicher hielt als den Skeptizismus, welcher mehr voraussetzt. Kants eigner tiefer Radikalismus ist teils durch die Schwierigkeit des Standpunktes, teils aber auch durch die Sprache so verborgen, daß er sich nur dem eindringendsten und vorurteilfreisten Studium vollständig enthüllt, und daß Büchner hier vielleicht noch mehr Brauchbares für das heutige Denken finden würde als bei Schopenhauer, wenn er sich hineinarbeiten wollte. Wenn wir nun mit Büchner darin übereinstimmen müssen, daß der absichtlichen Erschwerung des Verständnisses für Uneingeweihte für immer ein Ende gemacht werden muß, so können wir doch keineswegs hoffen oder wünschen, daß jemals auch die in der Sache selbst liegenden Schwierigkeiten aus dem Bereich der Philosophie verbannt würden. Auf der einen Seite steht die unabweisbare Konsequenz der großen demokratischen Weltwende, welche keine Geheimnisse der Aufklärung und Denkfreiheit mehr zugibt und den Massen auch die Früchte von dem will zukommen lassen, was durch gemeinsame Arbeit der Menschheit gewonnen wurde. Auf der andern Seite steht aber der Wunsch, trotz dieser Rücksicht auf das Bedürfnis der Massen, die Wissenschaft nicht verarmen zu lassen, und dem Zusammenbruch der modernen Kultur durch Behauptung unsres vollen Schatzes philosophischer Einsicht womöglich vorzubeugen. Jene Offenheit in Beziehung auf die Konsequenzen der philosophischen Lehre ist auch nicht sowohl erforderlich als Konzession an das große Publikum der »Gebildeten«, sondern als ein Beitrag zur Emanzipation des größten Publikums, der zum Bewußtsein ihrer höheren Bestimmung gelangenden unteren Volksklassen. Unsre »Gebildeten« sind dagegen in ihrer glatten Oberflächlichkeit ohnehin schon so blasiert, daß es gewiß keinen Zweck hat, ihnen auch noch vorzuspiegeln, es gebe in der Philosophie nichts mehr, wonach sie nicht bloß die Hand auszustrecken brauchten, um es ebensogut zu haben als die berühmtesten Philosophen. Will man der populären Aufklärung, welche gerade genug[538] aus den Resultaten der Wissenschaft heranzieht, um den krassesten Aberglauben zu beseitigen, den Namen der Philosophie geben, so muß man für diejenige Philosophie, welche die gemeinsame Theorie aller Wissenschaften enthält, einen neuen Namen erfinden. Oder will man leugnen, daß in diesem Sinne auch auf dem gegenwärtigen Standpunkt der Wissenschaft noch Philosophie möglich ist?

Überhaupt ist der Satz, daß alles, was klar gedacht sei, auch klar müsse gesagt werden könne, so wahr er an sich ist, einem schlimmen Mißbrauch unterworfen. Gewiß hat der große Laplace in seiner analytischen Theorie der Wahrscheinlichkeitsrechnung ein vollendetes Muster klarer Entwicklung gegeben, und doch wird es unter denen, welche nur zum Zweck der allgemeinen Bildung ein wenig Mathematik getrieben haben, nicht viele geben, welche diese Arbeit, selbst bei einiger Bemühung, zu verstehen vermöchten. In der Mathematik wird überhaupt auch die klarste Entwicklung jedem unverständlich sein, gleich einer fremden Sprache, welchem die Begriffe, mit denen operiert wird, nicht geläufig sind. Ganz dasselbe kann aber in der Philosophie vorkommen. Um andre Beweise wegzulassen, können wir hier nur darauf aufmerksam machen, daß es ja auch keinen einzigen Zweig der Mathematik gibt, welcher nicht der philosophischen Behandlung fähig wäre. Laplace hat selbst die ersten Grundbegriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung einer philosophischen Behandlung unterworfen, und dies Werk ist nicht etwa deshalb so viel leichter zu verstehen, als die analytische Theorie, weil es philosophisch ist, sondern weil es die Grundbegriffe behandelt. Trotz alledem dürfte auch der »philosophische Versuch über die Wahrscheinlichkeiten« noch vielen unsrer Gebildeten ernsthafte Schwierigkeiten darbieten.

Hier ist freilich zu Büchners Gunsten anzuführen, daß die Philosophie auch nicht nur als Quintessenz der Wissenschaften, als letztes Ergebnis aus der Vergleichung ihrer Resultate, aufgetreten ist, sondern nicht minder als Einleitung und Vorbereitung. In diesem letzteren Sinne faßte schon die Scholastik die Philosophie auf, und bis auf die neueste Zeit hin blieb es an unsern Universitäten üblich, philosophische Vorlesungen den Fachstudien voranzustellen. In England und Frankreich aber hat man oft geradezu die philosophische Behandlung der Dinge mit der populär faßlichen verwechselt. Daher kommt es auch, daß Büchner in Deutschland mehr als populärer polemischer Schriftsteller geschätzt wird, während seine[539] zahlreichen Anhänger in England und Frankreich weit eher bereit sind, ihm den Anspruch an philosophische Bedeutung einzuräumen.

Eins der merkwürdigen Beispiele von der Relativität unsrer Begriffe kann man ferner gerade darin finden, daß diejenigen Eigenschaften, durch welche Büchner dem großen Publikum klar erscheint, genau das Gegenteil von dem sind, was die strengere Wissenschaft klar nennt. Hätte Büchner z.B. den Begriff der Hypothese in wissenschaftlichem Sinne angenommen, so wäre er vermutlich vielen seiner Leser unverständlich geblieben, da schon nicht unbeträchtliche logische Bildung nebst einiger Orientierung in der Geschichte der Wissenschaften dazu gehört, um diesen Begriff so zu fassen, daß er einem scharfdenkenden Menschen klar ist. Bei Büchner aber bedeutet »Hypothese« jede Art von ungerechtfertigten Annahmen, wie z.B. die deduzierten Sätze der philosophischen Spekulation.395 Der Ausdruck »Materialismus« steht bald in seinem geschichtlichen richtigen Sinn, bald ist er mit »Realismus«, bald mit »Empirismus« gleichbedeutend; es kommen sogar Stellen vor, wo dieser positivste aller philosophischen Begriffe rein negativ gebraucht wird und mit Skeptizismus nahezu zusammenfällt. Noch stärker variiert die Bedeutung von »Idealismus« was oft fast synonym mit »Orthodoxie« zu sein scheint. Gerade durch diese vage Fassung erscheinen nun aber solche Begriffe denjenigen klar, welche die genaue Bedeutung solcher Ausdrücke nicht kennen und doch das Bedürfnis empfinden, darüber mitzureden. Es ist fast wie mit der Wirkung einer Brille für verschiedene Entfernungen und verschiedene Augen. Wer in diesen Dingen mit bloßem Auge weiter sieht, findet durch Büchners Brille alles unklar, wer dagegen äußerst kurzsichtig ist, glaubt durch dieses Medium sehr klar zu sehen, und sieht auch wirklich klarer als ohne solche Beihilfe. Nur schade, daß die Brille zugleich stark gefärbt ist! Namentlich begegnet es Büchner immer wieder, daß er die eigentlichen Lehren der Philosophen für gar zu einfältig ansieht, weil er bemerkt, daß sie im Leben oft in konservativer Tendenz sich mit groben Vorstellungen des täglichen Lebens verbünden. So kann uns namentlich das Kapitel über angeborne Ideen nur dunkle Erinnerungen an die Redefloskeln eines unwissenden Predigers oder an verdächtige Wendungen eines Lesebuches für fleißige Knaben wachrufen, während wir in der neueren Philosophie vergeblich nach einem Satze suchen würden, welcher die von Büchner bekämpften[540] Lehren wirklich vorträgt. Hier sieht man denn freilich auch, daß es eine gerechte Strafe für die Unredlichkeit unsrer zahmen Philosophen ist, wenn sie sich gleichsam auf offener Straße müssen ohrfeigen lassen, ohne daß das Publikum, welches hierin seinem Gefühle folgt, auch nur die mindeste Sympathie mit ihnen empfindet.

Wie Büchner im Gebrauch der einzelnen Begriffe schwankend und willkürlich ist, so kann er natürlich auch nicht als Vertreter eines scharf ausgesprochenen, bestimmten positiven Prinzips betrachtet werden. Scharf, unerbittlich und konsequent ist er nur in der Negation; aber diese scharfe Negation ist durchaus nicht die Folge eines trocknen, rein kritischen Verstandes; sie stammt vielmehr aus einer schwärmerischen Begeisterung für den Fortschritt der Humanität, für den Sieg des Wahren und Schönen. Was diesem im Wege steht, hat er hinlänglich erkannt, um es unerbittlich zu verfolgen. Manches Harmlose mag ihm auch verdächtig scheinen. Was aber unverdächtig ist, wobei er keine Schurkerei, kein böswilliges Hintertreiben des wissenschaftlichen und moralischen Fortschritts vermutet, das kann er alles brauchen. Büchner ist von Haus aus eine idealistische Natur. Er stammt aus einer Familie voll reicher poetischer Begabung. Einer seiner Brüder starb früh als hoffnungsvoller Dichter; ein andrer hat sich ebenfalls als Dichter und Geschichtsschreiber der Dichtkunst bekannt gemacht; seine Schwester, Luise Büchner, ist als reich begabte Schriftstellerin und Sammlerin von Dichterstimmen der deutschen Frauenwelt weit und breit bekannt. Er selbst zeichnete sich – hierin De la Mettrie vergleichbar – als Schüler vorzüglich aus durch literarische, philosophische und poetische Studien und durch seine stilistischen Leistungen. Auch bei ihm war es der Wunsch des Vaters, welcher für das Studium der Medizin entschied, und auch darin kann er seinem französischen Vorgänger verglichen werden, daß er sofort in dem neuen Studium Partei ergriff, und zwar für die rationelle Schule. Ernster und gediegener als jener Franzose, wandte er seitdem sein reiches und vielseitiges Talent teils zu wissenschaftlichen Forschungen an, teils aber zur populären Darstellung und publizistischen Verwertung der Resultate neuerer naturwissenschaftlicher Forschungen. Bei dieser Tätigkeit verlor er niemals die Beziehungen auf die großen Aufgaben der fortschreitenden Humanität aus dem Auge.

Obwohl Büchner, angeregt durch Moleschott und in ähnlicher,[541] rhetorisch-emphatischer Weise, sich in manchen seiner Äußerungen zu dem entschiedensten Materialismus bekannte, so ist doch seine eigentliche Richtung – die freilich aus widersprechenden Stellen nur schwer mit Sicherheit festzustellen ist – mehr eine relativistische.396 Die letzten Rätsel des Lebens und des Daseins sind, wie er mehrfach ausspricht, nicht zu lösen.397 Die empirische Forschung aber, die uns allein zur Wahrheit leiten kann, läßt uns nichts Übersinnliches annehmen. Überschreiten wir in unserm Denken die Schranken der Erfahrung, so geraten wir rettungslos in Irrtümer. Der Glaube, der dann aber mit dem Tatsächlichen nichts mehr zu tun hat, mag in jene Gebiete hinüberschweifen, die Vernunft aber kann und darf ihm nicht folgen. Die Philosophie muß aus den Naturwissenschaften hervorgehen; was diese uns lehren, daran haben wir uns so lange zu halten, bis wir auf demselben Wege eine tiefere Einsicht bekommen. – Merkwürdig ist, daß Büchner eine poetisch-symbolische Bedeutung philosophischer oder religiöser Sätze gar nicht gelten läßt. Er hat einmal mit seiner eignen poetischen Natur in Beziehung auf diese Fragen gebrochen, und nun ist ihm alles wahr oder falsch. Damit ist aber im Grunde nicht nur die Spekulation und der religiöse Glaube verneint, sondern auch jede Poesie, welche eine Idee bildlich ausdrückt.

Sowohl Moleschott als auch Büchner verraten in der Behandlung einzelner Fragen oft einen großen, echt philosophischen Scharfsinn, der dann wieder mit schwer begreiflichen Trivialitäten wechselt. So ist z.B. in Büchners Kraft und Stoff der größte Teil des Kapitels »der Gedanke« ein Muster umsichtiger Dialektik; freilich nur ein Bruchstück, denn die treffliche Kritik der berüchtigten Äußerung Vogts über das Verhältnis der Gedanken zum Gehirn schließt mit einem vollständigen Dualismus von Kraft und Stoff, der nachher nicht mehr ausgeglichen, sondern nur durch den schnell dahineilenden Redefluß verwischt wird.

»Der Gedanke, der Geist, die Seele,« sagt Büchner, »ist nichts Materielles, nicht selbst Stoff, sondern der zu einer Einheit verwachsene Komplex verschiedenartiger Kräfte, der Effekt eines Zusammenwirkens vieler mit Kräften oder Eigenschaften begabten Stoffe.« Er vergleicht diesen Effekt mit demjenigen einer Dampfmaschine, deren Kraft man nicht sehen, riechen und greifen kann, während der ausgestoßene Dampf Nebensache ist und mit dem, »was die Maschine bezweckt«, nichts zu tun hat. Jede Kraft kann nur aus ihren Äußerungen »erschlossen«, oder wie es in der ersten[542] Auflage weit konsequenter und besser in den Zusammenhang passend lautete: »ideal konstruiert« werden. Kraft und Stoff seien unzertrennlich, aber doch begrifflich sehr weit auseinanderliegend, »ja in gewissem Sinne geradezu einander negierend«. »Wenigstens wüßten wir nicht, wie man Geist, Kraft, als etwas andres denn als Immaterielles, an sich die Materie Ausschließendes oder ihr Entgegengesetztes definieren wollte.«

Mehr bedarf der gläubigste Spiritualist nicht, um seinen ganzen Bau darauf zu begründen, und man kann hier wieder einmal deutlich sehen, wie wenig die Hoffnung berechtigt ist, daß die bloße Verbreitung der materialistischen Naturauffassung samt allen sie stützenden Kenntnissen jemals genügen werde, religiöse oder abergläubige Meinungen auszurotten, zu denen der Mensch aus Gründen hinneigt, die tiefer wurzeln als in seiner theoretischen Ansicht von Naturdingen. Daß Kraft und Stoff unzertrennlich verbunden sind, ist für die sichtbare und greifbare Natur hinlänglich bewiesen. Wenn aber die Kraft etwas ihrem Wesen nach Übersinnliches ist, warum soll sie nicht in einer Welt, welche unsre Sinne nicht zu fassen vermögen, für sich oder in Verbindung mit immateriellen Substanzen existieren?

Ungleich richtiger und konsequenter als Büchner fassen die älteren Materialisten die Sache, wenn sie alle Kraft auf Bewegung, Druck und Stoß der Materie zurückführen und, wie dies namentlich Toland in musterhafter Weise durchgeführt hat, die Materie als an sich bewegt, ja geradezu Ruhe als einen bloßen Spezialfall der Bewegung auffassen.

Aber abgesehen von den Schwierigkeiten, welche sich für die Durchführung dieser Auffassung aus der modernen Physik mit ihren schlechthin unbegreiflichen Wirkungen in die Ferne ergibt, so bleibt ein andrer Punkt für jeden Materialismus gleich schwierig, nur daß sich in der vagen, mechanische Kraft und Geist unklar vermischenden Auffassung Büchners die Schwierigkeit mehr verbirgt. Büchner hat sich nämlich seine ganze Weltanschauung gebildet und sein Hauptwerk verfaßt, ohne das Gesetz der Erhaltung der Kraft zu kennen. Als er es dann kennenlernte, widmete er ihm ein besondres Kapitel und reihte es einfach ein unter die neuen Stützen seiner materialistischen Weltanschauung, ohne noch einmal mit dem Lichte dieser bedeutungsvollen Lehre alle Punkte seines Gebäudes gründlich zu beleuchten. Es hätte sich ihm sonst leicht ergeben müssen, daß auch die Vorgänge im Gehirn dem Gesetze der[543] Erhaltung der Kraft streng unterworfen sein müssen, und damit werden, wie wir später noch genauer zeigen werden, alle Kräfte unabänderlich zu mechanischen, zu Bewegungen und Spannkräften. Man kann auf diese Weise den ganzen Menschen samt allen seinen geistig bedeutenden Handlungen mechanisch konstruieren, aber alles, was im Gehirn vorgeht, wird Druck und Bewegung sein, und von hier bis zum »Geist« oder auch nur zur bewußten Empfindung ist der Weg noch genau ebenso weit als vom Stoff zum Geist.

Wie wenig Büchner hierüber zur Klarheit vorgedrungen ist, zeigt ein höchst seltsamer Zusatz, den er – unter Beibehaltung der ganzen Konfusion von Geist und Kraft- in die späteren Auflagen einfließen ließ. Er findet hier, daß das Gehirn, welches einen so absonderlichen Effekt produziert wie den Geist, allein unter allen Organen ermüdet und des Schlafes bedarf; »ein Umstand, der eine sehr wesentliche Unterscheidung, nicht nur zwischen jenen Organen, sondern auch zwischen psychischer und mechanischer Tätigkeit überhaupt begründet.« Nachher fallen ihm die Muskeln ein, und mit einer Oberflächlichkeit, die für einen Physiologen schwer verzeihlich ist, fügt er hinzu: »Dasselbe gilt von denjenigen Organen, welche vom Gehirn aus durch das animale Nervensystem in Bewegung gesetzt werden, also von den willkürlichen Muskeln.« Daß die Muskeln auch ermüden, wenn die in ihnen angesammelten Spannkräfte aufgebraucht sind, während das Gehirn noch lange imstande wäre, ihnen neue auslösende Reize zuzuschicken, hat Büchner offenbar nicht bedacht.

Der Grund, weshalb so begabte und redlich strebende Männer, wie Moleschott und Büchner, ihren Stoff nicht gründlicher erfaßten, dürfte daher wohl nicht allein darin zu suchen sein, daß sie von vornherein die populäre Darstellung und Erörterung an die Stelle der Philosophie setzen; denn auch innerhalb dieser Schranken ließen sich bedeutend höhere Forderungen stellen, und die populäre Darstellung kann wirklich philosophischen Gehalt haben, ohne eben die Aufgabe der Philosophie zu erschöpfen. Dann aber muß der Darstellung wenigstens eine bestimmte Anschauung mit Konsequenz und Klarheit zugrunde gelegt werden, was bei der Mehrzahl unsrer Materialisten nicht der Fall ist. Der Grund davon dürfte in der Nachwirkung der Schelling-Hegelschen Philosophie zu suchen sein.

Wir nannten schon oben Moleschott einen Epigonen der Naturphilosophie,[544] und zwar mit gutem Bedacht. Er ist es nicht etwa deshalb weil er in jungen Jahren fleißig Hegel studiert und später Feuerbach gehuldigt hat, sondern deshalb, weil diese Geistesrichtung noch überall in seinem angeblich so konsequenten Materialismus bemerkbar ist, und zwar gerade in den im metaphysischen Sinne entscheidenden Punkten. Ein Gleiches ist bei Büchner der Fall, der nicht nur Feuerbach, einen mächtig gärenden, aber durchaus unklaren Denker häufig als Autorität hinstellt, sondern auch mit seinen eignen Äußerungen sich oft genug in einen vagen Pantheismus verirrt.

Der Punkt, um den es sich namentlich handelt, läßt sich ganz bestimmt angeben. Es ist gleichsam der Apfel in dem logischen Sündenfall der deutschen Philosophie nach Kant: das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt in der Erkenntnis.

Nach Kant stammt unsre Erkenntnis aus der Wechselwirkung von beiden – ein unendlich einfacher und doch immer wieder verkannter Satz. Es folgt aus dieser Anschauung, daß unsre Erscheinungswelt nicht bloß ein Produkt unsrer Vorstellung ist (Leibniz, Berkeley); daß sie auch nicht ein adäquates Bild der wirklichen Dinge ist, sondern ein Erzeugnis objektiver Einwirkungen und subjektiver Gestaltung derselben. Dasjenige nun, was nicht etwa ein einzelner Mensch, vermöge zufälliger Stimmung oder fehlerhafter Organisation, so oder so erkennt, sondern was die Menschheit im ganzen, vermöge ihrer Sinnlichkeit und ihres Verstandes, erkennen muß, nannte Kant in gewissem Sinne objektiv. Er nannte es objektiv, sofern wir nur von unsrer Erfahrung reden; dagegen transzendent, oder mit andrer Bezeichnung falsch, wenn wir solche Erkenntnis auf Dinge an sich, d.h. absolut, unabhängig von unsrer Erkenntnis existierende Dinge anwenden.

Seine Nachfolger dürsteten nun aber wieder nach absoluter Erkenntnis, und indem sie den Pfad besonnener Erörterung ganz und gar verließen, schufen sie sich eine solche durch die Dogmatik ihrer Philosopheme. Es entstand das große Axiom von der Einheit des Subjektiven und des Objektiven; die fabelhafte petitio principii von der Einheit des Denkens und Seins, in welcher sich auch Büchner noch befangen zeigt.

Nach Kant gibt es eine solche Einheit nur in der Erfahrung; diese Einheit ist aber eine Verschmelzung; sie ist weder reines Denken, noch gibt sie das reine Sein. Nun aber sollte es nach Hegel umgekehrt sein; gerade das absolute Denken sollte mit dem absoluten[545] Sein zusammenfallen. Dieser Gedanke gewann wegen seiner großartigen, dem Bedürfnis der Zeit entsprechenden Unsinnigkeit Boden. Er ist die Grundlage der berüchtigten Naturphilosophie. In der trüben Gärung der Hegelschen Schule konnte man oft nicht entscheiden, wie es mit diesem Gedanken eigentlich gemeint sei. Er konnte von vornherein als wirkliches metaphysisches Prinzip oder als ein kolossaler kategorischer Imperativ zur Beschränkung der Metaphysik aufgefaßt werden. Im letzteren Falle nähert man sich Protagoras. Sollen wir den Begriff des Wahren, Guten, Wirklichen usw. so definieren, daß wir nur das wahr, gut, wirklich usw. nennen, was für den Menschen so ist; oder sollen wir uns einbilden, daß das, was der Mensch als solches erkennt, auch für alle denkenden Wesen, die es gibt und geben kann, in gleicher Weise gelte?

Die letztere Auffassung, welche allein dem wahren, ursprünglichen Hegelianismus eigentümlich ist, führt mit Notwendigkeit zum Pantheismus; denn es ist darin die Einheit des Menschengeistes mit dem Geiste des Alls und mit allen Geistern schon als Axiom vorausgesetzt. Ein Teil der Epigonen hielt sich jedoch mit Feuerbach an den kategorischen Imperativ: wirklich ist, was wirklich für den Menschen ist; d.h. weil wir von den Dingen an sich nichts wissen können, so wollen wir auch von ihnen nichts wissen, und damit Punktum!

Die alte Metaphysik wollte von den Dingen an sich Erkenntnis haben; die Naturphilosophie fiel in diesen Fehler zurück. Kant steht allein auf dem schroffen und vollkommen klaren Standpunkt, daß wir von den Dingen an sich nur eins wissen, eben das eine, was Feuerbach vernachlässigt hat, daß wir sie als eine notwendige Konsequenz unsres eignen Verstandes voraussetzen müssen; d.h. daß sich die menschliche Erkenntnis nur als eine kleine Insel darstellt in dem ungeheuren Ozean überhaupt möglicher Erkenntnis.

Feuerbach und seine Anhänger schwanken, eben weil sie diesen Punkt nicht beachten, beständig wieder in den transzendenten Hegelianismus zurück. Bei Feuerbachs »Sinnlichkeit« wird es einem oft schwer, an Auge und Ohr zu denken, geschweige denn an den Gebrauch dieser Organe in den exakten Wissenschaften. Seine Sinnlichkeit ist eine neue Form des absoluten Denkens, welche von der tatsächlichen Erfahrung gänzlich absieht. Daß er dessenungeachtet gerade auf einige Naturforscher einen so großen Einfluß gewann, erklärt sich nicht aus der Natur der empirischen Wissenschaften,[546] sondern aus der Wirkung der Naturphilosophie auf das junge Deutschland.

Betrachten wir einen Augenblick die Nachwehen der Geburt des absoluten Geistes bei Moleschott!

Im »Kreislauf des Lebens« verbreitet sich dieser gewandte Schriftsteller auch über die Erkenntnisquellen des Menschen. Nach einem höchst auffallenden Lobe des Aristoteles und einer Stelle über »Kant«, an welcher Moleschott ein Phantom dieses Namens mit Sätzen bekämpft, die der wirkliche Kant unbeschadet seines Systems zugeben könnte, folgt die Stelle, welche wir im Auge haben. Sie beginnt mit musterhafter Klarheit, um allmählich in einen metaphysischen Nebel überzugehen, der selbst in unserm nebelreichen Vaterlande seinesgleichen sucht. Unserm Zweck entsprechend, wollen wir die finsteren Nebelmassen durch kursive Schrift kenntlich machen.

»Alle Tatsachen, jede Beobachtung einer Blume, eines Käfers, die Entdeckung einer Welt und das Belauschen der Eigenheiten des Menschen, was sind sie denn andres, als Verhältnisse der Gegenstände zu unsern Sinnen? Wenn ein Rädertier ein Auge besitzt, das nur aus einer Hornhaut besteht, wird es nicht andre Bilder von den Gegenständen aufnehmen als die Spinne, die auch Linse und Glaskörper aufzuweisen hat? Darum ist das Wissen des Insekts, die Kenntnis der Wirkungen der Außenwelt für das Insekt auch eine andre als für den Menschen. Über die Kenntnis jener Beziehungen zu den Werkzeugen seiner Auffassung erhebt sich kein Mensch und kein Gott.«

»Also wissen wir freilich alles für uns, wir wissen, wie die Sonne scheint für uns, wie die Blume duftet für die Menschen, wie die Schwingungen der Luft ein Menschenohr berühren. Man hat dies ein beschränktes Wissen genannt, ein menschliches Wissen, bedingt durch die Sinne, ein Wissen, das den Baum nur beobachtet, wie er für uns ist. Das ist wenig, hieß es, man muß wissen, wie der Baum an sich ist, um nicht länger zu wähnen, er sei so, wie er uns scheint.«

»Wo ist denn aber der Baum an sich, den man suchte? Setzt nicht jedes Wissen einen Wissenden voraus, also ein Verhältnis von dem Gegenstande zum Beobachter? Der Beobachter sei Wurm, Käfer, Mensch; wenn es Engel gibt, er sei ein Engel. Wenn beide sind, der Baum und der Mensch, so ist es für den Baum so notwendig wie für den Menschen, daß er zu diesem in einer Beziehung steht, die sich[547] eben kundgibt durch den Eindruck auf das Auge. Ohne ein Verhältnis zu dem Auge, in das er seine Strahlen sendet, ist der Baum nicht da. Gerade durch dieses Verhältnis ist der Baum für sich.« »Alles Sein ist ein Sein durch Eigenschaften. Aber es gibt keine Eigenschaft, die nicht bloß durch ein Verhältnis besteht.«

»Der Stahl ist hart im Gegensatz zur weichen Butter. Kaltes Eis kennt nur die warme Hand, grüne Bäume ein gesundes Auge.« »Oder ist Grün etwas andres als ein Verhältnis des Lichts zu unserm Auge? Und wenn es nichts andres ist, ist dann das grüne Blatt nicht für sich, eben deshalb, weil es für unser Auge grün ist?« »Dann aber ist die Scheidewand durchbrochen zwischen dem Ding für uns und dem Ding an sich. Weil ein Gegenstand nur ist durch seine Beziehung zu andern Gegenständen, zum Beispiel durch sein Verhältnis zum Beobachter, weil das Wissen vom Gegenstand aufgeht in der Kenntnis jener Beziehungen, so ist all unser Wissen ein gegenständliches Wissen.« Allerdings ist all unser Wissen ein gegenständliches Wissen, denn es bezieht sich auf Gegenstände. Ja, noch mehr: wir müssen annehmen, daß die Beziehungen des Gegenstandes zu unsern Sinnen durch strenge Gesetze geregelt sind. Wir stehen durch die sinnliche empirische Erkenntnis zu den Gegenständen in einer so vollkommenen Beziehung, als sie unsre Natur erlaubt. Was brauchen wir weiter, um diese Erkenntnis gegenständlich zu nennen? Allein, ob wir die Gegenstände so wahrnehmen, wie sie an sich sind, ist eine ganz andre Frage.

Nun sehe man sich die kursiv gedruckten Stellen an und frage sich, an welcher Stelle des philosophischen Urwaldes befinden wir uns? Sind wir bei den extremsten Idealisten, welche überhaupt nicht annehmen, daß unsern Vorstellungen von den Dingen irgend etwas außer uns entspricht? Ist der Baum wirklich aus der Welt, wenn ich das Auge zudrücke? Gibt es gar keine Welt außer mir? – Oder sind wir bei den pantheistischen Schwärmern, welche sich einbildeten, daß der menschliche Geist das Absolute fassen kann? Ist das grüne Blatt eben deshalb an und für sich grün, weil es auf das menschliche Auge diesen Eindruck macht; während Spinnen-, Käfer- oder Engelaugen minder maßgebend sind? – In der Tat wird es wenig philosophische Systeme geben, welche nicht in jenen Sätzen eher gefunden werden können, als der Materialismus. Und wie steht es denn um die Begründung jener Orakel?

Weil nur der Gegensatz zu unsrer Blutwärme uns das Eiskalt nennen läßt, besteht deshalb keine bestimmte, von jedem Gefühl unabhängige[548] Beschaffenheit jenes Körpers, nach welcher er mit seiner Umgebung – einerlei, ob diese empfindet oder nicht – in einen bestimmten Austausch von Wärmestrahlen tritt? Und wenn dieser Austausch wesentlich von der Temperatur und andern Eigenschaften der umgebenden Körper abhängt, hängt er dann nicht auch gleichzeitig von dem Eise ab? Ist diejenige Beschaffenheit, wo durch das Eis mit dieser Umgebung diesen, mit jener einen andern Austausch von Wärmestrahlen eingeht, nicht eben eine Eigenschaft, welche dem Eis an sich zukommt? Unserm Gefühl bringt diese Eigenschaft regelmäßig den Eindruck des Kalten hervor. Wir bezeichnen sie nach dem Eindruck, den sie auf uns macht; wir nennen sie Kälte; aber wir wissen zwischen dem physiologischen Vorgang in unsern Nerven und dem physikalischen in dem Körper selbst wohl zu unterscheiden. Dieser letztere ist im Verhältnis zum ersteren das Ding an sich. Ob man fernerhin nicht nur von unsern Gefühlsnerven, sondern auch von unsrer Verstandesauffassung abstrahieren und hinter dem Eis ein Ding an sich suchen soll, welches weder räumlich noch zeitlich ist, lassen wir hier ganz und gar dahingestellt. Wir bedürfen nur einen einzigen Schritt, um zu zeigen, daß die Eigenschaften der Dinge von unsern Vorstellungen zu unterscheiden sind, und daß ein Ding Eigenschaften haben, daß es sein kann, ohne daß wir es wahrnehmen.

Wenn Wurm, Käfer, Mensch und Engel einen Baum betrachten, sind das dann fünf Bäume? Es sind vier Vorstellungen eines Baumes, vermutlich höchst verschieden voneinander; aber sie beziehen sich auf ein und denselben Gegenstand, von dem jedes einzelne Wesen nicht wissen kann, wie er an sich beschaffen ist, weil es nur seine Vorstellung von dem selben kennt. Der Mensch hat nur den einen Vorzug, daß er durch Vergleichung seiner Organe mit denen der Tierwelt und durch physiologische Untersuchungen dahin gelangt, seine eigne Vorstellung für ebenso unvollständig und einseitig zu halten wie diejenigen verschiedener Tierklassen.

Wie ist denn nun die Scheidewand zwischen dem Ding für uns und dem Ding an sich durchbrochen? Wenn das Ding nur ist durch seine Beziehung zu andern Gegenständen, so kann man doch diesen metaphysischen Satz Moleschotts vernünftigerweise nur so fassen, daß das Ding an sich durch die Summe aller seiner Beziehungen zu andern Gegenständen besteht, nicht aber durch einen beschränkten Teil derselben. Wenn ich die Augen schließe, so fallen die Lichtstrahlen, welche von den verschiedenen Teilen des[549] Baums zur Netzhaut gingen, nunmehr auf die Außenfläche der Augenlider. Das ist alles, was sich geändert hat. Ob aber ein Objekt noch bestehen kann, das überhaupt mit keinem andern Gegenstand mehr Licht-, Wärme-, Schallstrahlen, elektrische Strömungen, chemischen Stofftausch und mechanische Berührungen auswechseln kann, das ist freilich die Frage. Es wäre ein recht hübsches Thema naturphilosophischer Spitzfindigkeiten. Wenn man es aber auch so löst, daß man Moleschott beistimmt, so bleibt noch immer zwischen dem Ding an sich und dem Ding für mich ein Unterschied, der ungefähr so groß ist wie der Unterschied zwischen einem Produkt aus unendlich vielen Faktoren und einem einzigen bestimmten Faktor dieses Produktes.398

Nein! Das Ding an sich ist nicht das Ding für mich; aber ich kann dieses vielleicht mit gutem Bedacht an seine Stelle setzen, wie ich z.B. meinen Begriff der Kälte und Wärme an die Stelle der Temperaturzustände der Körper setze. Der alte Materialismus sah beides ganz naiv für identisch an. Zwei Dinge haben dies für immer unmöglich gemacht: der Sieg der Undulationstheorie und die Kantsche Philosophie. Man kann sich an dem Einfluß derselben vorbeidrücken; aber damit macht man keine Epoche. Man müßte sich mit Kant abfinden. Dies tat die Naturphilosophie in der Form eines Offenbarungsrausches, der das absolute Denken zur Gottheit erhob. Eine nüchterne Abfindung muß anders angestellt werden. Man muß entweder den Unterschied zwischen dem Ding an sich und der Erscheinungswelt zugeben und sich damit begnügen, die spezielle Ausführung Kants zu verbessern; oder man muß sich dem kategorischen Imperativ in die Arme stürzen und also gewissermaßen Kant mit seinen eignen Waffen zu schlagen versuchen.

Hier ist allerdings noch ein Pförtchen offen. Kant benutzte den unendlich leeren Raum jenseits der menschlichen Erfahrung, um seine intelligible Welt hinein zu bauen. Er tat dies kraft des kategorischen Imperativs. »Du kannst, denn du sollst.« Also muß es Freiheit geben. In der wirklichen Welt unsres Verstandes gibt es keine. Also mag sie in der intelligiblen Welt wohnen. Wir können uns zwar die Willensfreiheit nicht einmal als möglich denken, wohl aber können wir uns als möglich denken, daß es in dem Ding an sich Ursachen gibt, welche sich in dem Organ unsres vernünftigen Bewußtseins als Freiheit darstellen, während sie, mit dem Organ des analysierenden Verstandes betrachtet, nur das Bild einer Kette von Ursache und Wirkung geben.[550]

Wie nun, wenn man mit einem andern kategorischen Imperativ beginnt? Wie, wenn man den Satz an die Spitze der ganzen positiven Philosophie stellt: »Begnüge dich mit der gegebenen Welt!« Ist dann nicht die Fata Morgana der intelligiblen Welt mit einem Zauberschlage vernichtet?

Kant würde zunächst entgegenhalten, daß sein kategorischer Imperativ, welcher in unsrer Brust das Gute zu tun befiehlt, eine Tatsache des innern Bewußtseins sei, von derselben Notwendigkeit und Allgemeinheit wie das Naturgesetz in der äußeren Natur; daß jener andre Imperativ aber, den wir den Feuerbachschen nennen wollen, dem Menschen keineswegs notwendig einwohne; vielmehr auf subjektiver Willkür beruhe. Hier hat nun die Gegenpartei ein nicht ungünstiges Spiel. Es ist leicht zu zeigen, daß das Sittengesetz sich kulturgeschichtlich langsam herausbildet, und daß es seinen Charakter der Notwendigkeit und unbedingten Gültigkeit erst dann haben kann, wenn es überhaupt im Bewußtsein vorhanden ist. Wenn nun eine fernere kulturhistorische Entwicklung jetzt den Satz der Befriedigung mit dieser Welt als Grundlage des moralischen Bewußtseins hervortreten läßt, so wird niemand etwas dagegen haben können. Es muß sich zeigen!

Aber freilich muß es sich zeigen, und hier kommt die größere Schwierigkeit. Kant hat dies für sich, daß in jedem geistig entwickelten Individuum das Sittengesetz zum Bewußtsein kommt. Der Inhalt desselben kann in manchen Stücken höchst verschieden sein; aber die Form ist da. Die Tatsächlichkeit der inneren Stimme steht fest. Man kann an ihrer Allgemeinheit mäkeln; man kann sie umgekehrt auf die höheren Tiere ausdehnen: das ändert an der Hauptsache durchaus nichts. Für den Feuerbachschen Imperativ aber ist noch der Beweis beizubringen, daß man sich wirklich mit der Erscheinungswelt und mit ihrer sinnlichen Auffassung begnügen kann. Ist dieser Beweis erbracht, so wollen wir einstweilen gern Glauben, daß sich darauf auch ein ethisches System bauen läßt; denn was läßt sich nicht alles bauen?

Wie Kants System in Widerspruch mit der verstandesmäßigen Erkenntnis gestanden hätte, wenn dieser Widerspruch nicht von Haus aus wäre berücksichtigt worden: so steht das System des Begnügens anscheinend im Widerspruch mit den Einheitsbestrebungen der Vernunft; mit Kunst, Poesie und Religion, in welchen der Trieb liegt, sich über die Grenzen der Erfahrung hinauszuschwingen. Es bleibt der Versuch, diese Widersprüche zu beseitigen.[551]

Sonach wäre der naive Materialismus in der Gegenwart überhaupt nicht wieder in systematischer Form aufgetaucht; wie er denn überhaupt nach Kant nicht wohl wieder auftauchen kann. Der unbedingte Glaube an die Atome ist so gut geschwunden wie andre Dogmen. Man nimmt nicht mehr an, daß die Welt absolut so beschaffen ist, wie wir sie mit Ohr und Auge wahrnehmen; aber man hält sich daran, daß wir mit der Welt an sich nichts zu schaffen haben.

Ein einziger unter den neueren Materialisten hat versucht, die Schwierigkeiten, welche sich diesem Standpunkt entgegenstellen, wirklich systematisch zu lösen. Derselbe Denker ist aber noch weiter gegangen. Er hat sogar den Versuch gemacht, die Übereinstimmung der wirklichen Welt mit der Welt unsrer Sinne nachzuweisen oder wenigstens wahrscheinlich zu machen. Dies unternahm Czolbe in seiner neuen Darstellung des Sensualismus.

Heinrich Czolbe, der Sohn eines Gutsbesitzers in der Nähe von Danzig, wandte sich schon in früher Jugend philosophischen und theologischen Fragen zu, obwohl er die Medizin als Fachstudium wählte. Auch hier finden wir den Ausgangspunkt für die spätere Richtung in derselben Naturphilosophie, welche unsre heutigen Materialisten so gern als das entgegengesetzte Extrem ihrer Bestrebungen darstellen, und von welcher doch unter den Stimmführern nur Carl Vogt ganz unberührt geblieben ist. Für Czolbe war namentlich Hölderlins Hyperion von entscheidender Bedeutung, ein Werk, welches den durch Schelling und Hegel angeregten Pantheismus in großartig wilder Poesie verkörperte und die hellenische Einheit von Geist und Natur den deutschen Kulturzuständen gegenüber verherrlichte. Strauß, Bruno Bauer und Feuerbach waren fernerhin für die Richtung des jungen Mediziners bestimmend. Merkwürdig ist aber, daß es auch ein Philosoph war – sogar ein Professor der Philosophie, wenn das nicht nach Feuerbach ein Widerspruch ist – der ihm schließlich für die Ausbildung seines besonderen materialistischen Systems den letzten Anstoß gab.

Es ist Lotze – derselbe, den Carl Vogt gelegentlich als Mitfabrikanten der echten Göttinger Seelensubstanz mit dem Titel eines spekulierenden Struwwelpeters belegt – Lotze, einer der scharfsinnigsten und in wissenschaftlicher Kritik sattelfestesten Philosophen unsrer Zeit, welcher dem Materialismus so unfreiwillig Vorschub leistete. Der Artikel »Lebenskraft« in Wagners Handwörterbuch und seine »allgemeine Pathologie und Therapie, als mechanische[552] Naturwissenschaften« vernichteten das Gespenst der Lebenskraft und schafften in der Rumpelkammer des Aberglaubens und der Begriffsverwirrung, welche die Mediziner Pathologie nannten, einige Ordnung. Lotze hatte einen ganz richtigen Weg betreten; denn in der Tat gehört es zu den Aufgaben der Philosophie, unter kritischer Benutzung der von den positiven Wissenschaften gelieferten Tatsachen auf diese zurückzuwirken und die Resultate eines weiteren Überblicks und einer strengeren Logik gegen das Gold echter Spezialforschung auszutauschen. Er würde ohne Zweifel auf diesem Wege noch mehr Anerkennung gefunden haben, wenn nicht gleichzeitig Virchow als praktischer Reformator der Pathologie aufgetreten wäre, und wenn Lotze selbst nicht zugleich einer eigensinnigen Metaphysik gehuldigt hätte, von der man schwer begreift, wie sie sich neben seiner eignen kritischen Schärfe behaupten konnte.

Czolbe fand sich durch die Beseitigung des »übersinnlichen Begriffes« der Lebenskraft zu dem Versuch angeregt, die Beseitigung des Übersinnlichen zum Prinzip der ganzen Weltauffassung zu machen. Schon seine Inaugural-Dissertation über die Prinzipien der Physiologie (Berlin 1844) verrät diese Bestrebungen; allein erst elf Jahre später, da der materialistische Streit schon in vollem Zuge war, trat Czolbe mit seiner »neuen Darstellung des Sensualismus« hervor.

Da wir im ganzen den Begriff des philosophischen Materialismus ziemlich eng genommen haben, müssen wir wohl vorab darlegen, warum wir gerade einem System hier besondere Beachtung schenken, welches sich als »Sensualismus« gibt. Czolbe selbst wählte diese Bezeichnung wohl deshalb, weil der Begriff sinnlicher Anschaulichkeit seinen Gedankengang durchgehends bestimmt. Diese sinnliche Anschaulichkeit steckt aber gerade darin, daß alles auf die Materie und ihre Bewegung zurückgeführt wird. Sonach ist die sinnliche Anschaulichkeit nur ein regulatives Prinzip, und das metaphysische ist die Materie.

Will man den Sensualismus vom Materialismus streng unterscheiden, so darf man nur diejenigen Systeme mit dem ersteren Namen bezeichnen, welche sich an den Ursprung unsrer Erkenntnis aus den Sinnen halten und keinen Wert darauf legen, das Weltall aus Atomen, Molekülen oder andern Gestaltungen des Stoffes konstruieren zu können. Der Sensualist kann annehmen, daß die Materie bloße Vorstellung sei – weil das, was wir in der Wahrnehmung[553] unmittelbar haben, eben nur Empfindung ist, und nicht »Stoff«. Er kann aber auch, wie Locke, geneigt sein, den Geist auf die Materie zurückzuführen. Sobald dies jedoch zur notwendigen Grundlage des ganzen Systems wird, haben wir echten Materialismus vor uns.

Und doch ist auch bei Czolbe der alte, naive Materialismus der früheren Perioden nicht wiederzufinden. Es ist nicht nur die allenthalben hervortretende persönliche Bescheidenheit des Verfassers, wenn er seine Anschauungen fast durchgehend in hypothetische Form bringt. Er hat genug von Kant mitbekommen, um das Mißliche metaphysischer Dogmen zu kennen. Überhaupt steht sein System zu Kant, den er vorzüglich bekämpft, in einem Wechselverhältnis, welches ebensoviel Analogien als Gegensätze darbietet. Gerade eine Betrachtung Czolbes muß uns daher die im vorigen Kapitel gewonnenen Resultate um vieles klarer machen.

Czolbe ist der Ansicht, daß trotz des leidenschaftlichen Streites für und wider den Materialismus noch nichts geschehen ist, um diese Auffassungsweise der Dinge in ein genügendes System zu bringen. »Was in neuester Zeit Feuerbach, Vogt, Moleschott u. a. dafür getan haben, sind nur anregende fragmentarische Behauptungen, die bei tieferem Eingehen in die Sache unbefriedigt lassen. Da sie die Erklärbarkeit aller Dinge auf rein natürliche Weise nur allgemein behaupten, aber nicht einmal versucht haben, sie spezieller nachzuweisen, befinden sie sich im Grunde noch gänzlich auf dem Boden der von ihnen angefeindeten Religion und spekulativen Philosophie.«399 Wir werden hinlänglich sehen, daß auch Czolbe diesen Boden nicht verläßt.

Czolbe gibt zu, daß das Prinzip seines Sensualismus, die Ausschließung des Übersinnlichen, ein Vorurteil oder eine vorgefaßte Meinung genannt werden könne. »Allein ohne solch ein Vorurteil ist die Bildung einer Ansicht über den Zusammenhang der Erscheinungen überhaupt unmöglich.« Neben der inneren und äußeren Erfahrung hält er die Hypothesen für ein notwendiges Element zur Bildung einer Weltauffassung.

Nun, Vorurteil oder Orakelspruch, Hypothese oder Dichtung wird wohl noch zu entscheiden sein. Wenn aber die Hypothese nicht im Verlauf der Philosophie sich finden muß, sondern in dem schlichten Gewande eines »Vorurteils« uns bereits auf der Schwelle empfängt, so werden wir wohl fragen müssen, was denn die Wahl dieser oder jener ursprünglichen Hypothese bestimmt. Czolbe hat auf diese Fragen zwei sehr verschiedene Antworten: nach der einen[554] ist er durch Induktionen dazu gekommen; nach der andern bildet die Moral, wie bei Kant, die Grundlage der ganzen positiven Philosophie, da auf dem Wege des exakten Verstandesgebrauches nichts dergleichen, wie ein metaphysisches Prinzip, zu gewinnen ist. Beide Antworten dürften in ihrer Weise richtig sein. Czolbe sieht, wie Baco einen Fortschritt in der Philosophie durch Ausschließung des Übersinnlichen zuwege bringt, warum sollte sich nicht durch Fortsetzung dieses Verfahrens ein neuer Fortschritt erzielen lassen? Lotze hat die Lebenskraft beseitigt, warum sollte man nicht alle transzendenten Kräfte und Wesen beseitigen können?

Da aber die Darstellung des Sensualismus durchaus nicht induktiv, sondern deduktiv verfährt, so kann jene Induktion auch nicht wohl die eigentliche Grundlage des Systems bilden, sie war nur die Veranlassung. Die Grundlage liegt in der Ethik, oder vielmehr in dem mehrfach erwähnten kategorischen Imperativ: Begnüge dich mit der gegebenen Welt.

Es ist dem Materialismus eigen, daß er seine Sittenlehre ganz ohne solchen Imperativ zustande zu bringen weiß, während die Naturphilosophie einen praktischen Satz zur Stütze hat. So hatte schon Epikur eine Sittenlehre, welche sich auf den Zug der Natur selbst stützte, während er die Reinigung der Seele vom Aberglauben durch die Naturerkenntnis in die Form eines sittlichen Gebotes brachte.

Czolbe leitet die Sittlichkeit aus dem Wohlwollen ab, welches sich im Verkehr des Menschen mit dem Menschen mit Naturnotwendigkeit entwickelt. Das Prinzip der Ausschließung des Übersinnlichen aber hat einen bestimmten sittlichen Zweck.

Hier wurzelt die Anschauung unsres Philosophen sehr tief, obwohl er sie meist nur mit schlichten, sogar unzulänglichen Ausdrücken vorträgt oder sich auf irgendeinen Gewährsmann beruft. Durch unsre ganze Zeit geht der Grundzug der Erwartung einer großartigen und fundamentalen, wenn auch vielleicht still und friedlich sich vollziehenden Reform aller Anschauungen und Verhältnisse. Man fühlt, daß die Weltperiode des Mittelalters erst jetzt sich dem Ende zuneigt, und daß die Reformation, und selbst die französische Revolution, vielleicht nur Dämmerungsstrahlen eines neuen Lichtes sind. In Deutschland vereinigte sich die Wirkung unsrer großen Dichter mit den politischen, kirchlichen und sozialen Bestrebungen der Zeit, um solchen Stimmungen und Ansichten Vorschub zu leisten. Das Stichwort aber gab, wie in so mancher[555] Beziehung, die Hegelsche Philosophie durch die Forderung der Einheit von Natur und Geist, welche in der langen Periode des Mittelalters in schroffem Gegensatze erschienen waren. Schon Fichte hat es gewagt, die im Neuen Testament verheißene Ausgießung des heiligen Geistes mit derselben Kühnheit nach dem Licht seiner Zeit umzudeuten, mit welcher Christus und die Apostel die Propheten des alten Bundes gedeutet hatten. Die natürliche Einsicht kommt erst in unsrer Epoche zur vollen Entfaltung und offenbart sich damit als der wahre heilige Geist, der uns in alle Wahrheit leiten soll. Hegel gab diesen Gedanken eine bestimmtere Richtung. Seine Auffassung der Weltgeschichte läßt den Dualismus von Geist und Natur als eine großartige Durchgangsstufe zwischen einer niederen und einer höheren geläuterten Periode der Einheit erscheinen; ein Gedanke, der einerseits Anknüpfungspunkte an die innersten Motive der kirchlichen Lehre gewährt und anderseits zu jenen Bestrebungen veranlaßt hat, welche in der völligen Beseitigung aller Religion ihre Aufgabe finden. Es konnte bei der Verbreitung dieser Ansichten nicht fehlen, daß Deutschland nun seinen Blick auf das klassische Altertum zurückwandte, und namentlich auf das geistesverwandte Griechenland, in welchem jene Einheit von Geist und Natur, der wir wieder entgegengehen sollen, bisher am vollendetsten in die Erscheinung getreten ist. Es ist namentlich eine Stelle von Strauß, in welcher Czolbe das Resultat dieser Betrachtungen glücklich zusammengefaßt findet.

»Materiell,« sagt Strauß in seiner Betrachtung über Julian, »ist dasjenige, was Julian aus der Vergangenheit festzuhalten versuchte, mit demjenigen verwandt, was uns die Zukunft bringen soll: die freie, harmonische Menschlichkeit des Griechentums, die auf sich selbst ruhende Mannhaftigkeit des Römertums ist es, zu welcher wir aus der langen, christlichen Mittelzeit und mit der geistigen und sittlichen Errungenschaft von dieser bereichert, uns wieder herauszuarbeiten im Begriffe sind.« Wenn man nach der Weltauffassung der Zukunft fragt, so dürfte der Sensualismus insofern jener Ansicht von Strauß entsprechen, als »Anschaulichkeit des Denkens eine Einheit der Harmonie unsres ganzen bewußten Lebens; Resignation auf das, was Erkenntnis als unmöglich oder nicht existierend erweist, eine gewisse Mannhaftigkeit des Gefühls oder Gemütes zu bedingen scheinen.«

So Czolbe, und der Umstand, daß er in der späteren Schrift über die Entstehung des Selbstbewußtseins auf jene Stelle zurückkommt,[556] zeigt uns ihre fundamentale Bedeutung für seinen Sensualismus in noch hellerem Lichte.

»Zu dem früher über die ästhetische Bedeutung des Materialismus Gesagten ist hier noch hinzuzufügen, daß, wie die richtige Mitte, das Maßhalten ein wesentliches Merkmal der griechischen Kunstwerke war, unser Streben auch in dieser Beziehung der Ästhetik entspricht. Das welthistorische Ideal jedes derartigen Suchens aber hat der erste Anreger des heutigen Materialismus, David Strauß,... mit freudiger Zuversicht bezeichnet.«400

Hier sehen wir auch, wie Strauß zu der Ehre kommt, als Vater des heutigen Materialismus genannt zu werden; denn für Czolbe ist in der Tat der ganze Materialismus aus jenem sittlich-ästhetischen Keime entsprossen. Czolbes ganze Natur ist im Grunde dem Idealen zugewandt, und seine geistige Entwicklung führt ihn immer entschiedener dieser Richtung zu. Dies raubt aber seiner Darstellung des Sensualismus keineswegs das Interesse, welches sie uns ihrer eigentümlichen Ausbildung wegen gewährt. Hören wir deshalb noch eine andre Stelle!

»Die aus der Unzufriedenheit mit dem irdischen Leben entspringenden sogenannten moralischen Bedürfnisse dürfte man ebenso richtig unmoralische nennen. Es ist eben kein Beweis von Demut, sondern von Anmaßung und Eitelkeit, die erkennbare Welt durch Erfindung einer übersinnlichen verbessern und den Menschen durch Beilegung eines übersinnlichen Teiles zu einem über die Natur erhabenen Wesen machen zu wollen. Ja gewiß – die Unzufriedenheit mit der Welt der Erscheinungen, der tiefste Grund der übersinnlichen Auffassung ist kein moralischer, sondern eine moralische Schwäche! Da, wie die Bewegung einer Maschine den geringsten Kraftaufwand verlangt, wenn man genau den richtigen Angriffspunkt trifft, auch die systematische Entwicklung richtiger Grundgedanken oft viel weniger Scharfsinn fordert, als diejenige falscher – so macht der Sensualismus nicht Anspruch auf größere Scharfsinnigkeit, wohl aber auf tiefere, echtere Sittlichkeit.«401

Czolbes »System« litt an manchen unheilbaren Schwächen, aber eine tiefe und echte Sittlichkeit hat er in seinem Leben bewahrt. Rastlos arbeitete er an der Vervollkommnung seiner Weltanschauung, und wenn er dabei auch den strengeren Materialismus schon sehr bald verließ, so blieb er doch seinem Prinzip des Begnügens mit der gegebenen Welt und des Ausschlusses alles Übersinnlichen unwandelbar getreu. Die Meinung, daß die Welt in ihrem jetzigen[557] Bestande ewig und nur geringen Schwankungen unterworfen sei, und die Theorie, daß Licht- und Schallwellen, die er sich schon an sich leuchtend und klingend vorstellt, sich mechanisch durch Seh- und Hörnerven in das Gehirn fortpflanzen, bildeten zwei Grundpfeiler seines Systems, das also von keiner Seite empfindlicheren Anfechtungen unterworfen war, als von seiten der exakten Forschung. Hier zeigte er sich hartnäckig und hielt alle Gegenbeweise der Wissenschaft für bloßen Schein, der sich bei fernerem Fortschritt der Untersuchungen heben werde.402 Es fehlte ihm also unzweifelhaft, während er die äußerste Konsequenz der mechanischen Weltanschauung zu ziehen glaubte, die strenge Auffassung des Mechanischen selbst.

Anderseits erkannte er schon früh, daß Mechanismus der Atome und Empfindung zwei verschiedene Prinzipien sind, und er scheute sich daher auch nicht, die Konsequenz dieser Erkenntnis, da sie mit seinem ethischen Prinzip nicht in Streit geriet, in seine Weltanschauung aufzunehmen. In einer erst 1865 erschienenen Schrift über die Grenzen und den Ursprung der menschlichen Erkenntnis nimmt er daher eine Art von »Weltseele« an, welche aus Empfindungen besteht, die mit den Schwingungen der Atome unwandelbar verbunden sind, und die sich im menschlichen Organismus nur verdichten und zu dem Gesamteffekt des Seelenlebens gruppieren. Er fügt diesen beiden Prinzipien noch ein drittes hinzu: die aus Atomgruppen von Ewigkeit her festgefügten organischen Grundformen, aus deren Mitwirkung im Mechanismus des Geschehens sich die Organismen erklären lassen. Begreiflicherweise konnte Czolbe bei solchen Grundsätzen von der Lehre Darwins keinen Gebrauch machen. Er gab zu, daß durch Darwins Prinzip gewisse Modifikationen im Bestand der Organismen sinnreich und glücklich erklärt werden, aber die Deszendenztheorie vermochte er sich nicht anzueignen.

Diese Schwierigkeiten seines Standpunktes und die allzu große Geneigtheit, Hypothesen auf Hypothesen zu bauen,403 beeinträchtigten die Bedeutung eines philosophischen Versuches, welcher durch seinen ethischen Ausgangspunkt und das Verhältnis seiner Theorie zu ihrer ethischen Grundlage großes Interesse wecken mußte. Schon in der »Entstehung des Selbstbewußtseins« äußert Czolbe mit der ihm eignen Offenheit: »Ich kann mir wohl denken, wie man... urteilen wird: scheint es mir doch selbst, daß ich durch die Konsequenzen, zu denen das Prinzip mich zwang, in[558] eine märchenhafte Gedankenwelt geraten bin« (a. a. O. S. 53). – Mit dieser Anerkennung der Schwächen seines eignen Standpunktes verband sich die äußerste Toleranz gegen fremde Ansichten. »Niemals,« sagte er in dem 1865 erschienenen Werke, »habe ich die Meinung der bekanntesten Vertreter des Materialismus geteilt, daß die Macht der naturwissenschaftlichen Tatsachen es sei, die beim Denken zum Prinzipe der Ausschließung alles Übernatürlichen nötige. Ich war immer überzeugt, daß die Tatsachen der äußeren und inneren Erfahrung sehr vieldeutig sind und auch durch Annahme einer zweiten Welt theologisch oder spiritualistisch mit vollkommenem Rechte oder ohne irgendeinen logischen Fehler gedeutet werden können.« Und weiterhin: »Wie R. Wagner einst erklärte, nicht die Physiologie nötige ihn zur Annahme einer unstofflichen Seele, sondern die ihm immanente und von ihm unzertrennliche Vorstellung einer moralischen Weltordnung; wie er im Gehirn der theologisch Denkenden als notwendige Bedingung jener Vorstellung ein Organ des Glaubens annahm: so erkläre ich offen, daß mich ebenfalls weder die Physiologie, noch das Verstandesprinzip der Ausschließung des Übernatürlichen, sondern zunächst das moralische Pflichtgefühl gegen die natürliche Weltordnung, die Zufriedenheit mit derselben zur Leugnung einer übernatürlichen Seele nötigt.« »Eine gewisse chemische und physikalische Beschaffenheit der Hirnmaterie« möge dem religiösen Bedürfnisse, eine andre dem atheistischen angemeßner sein. Der Materialismus stamme, gleich der entgegengesetzten Richtung, nicht aus dem Wissen und Verstande, sondern aus dem Glauben und dem Gemüte.404

Wir werden noch reichlich sehen, wie viel Wahres in dieser extremen Anschauung enthalten ist; hier aber muß zunächst erinnert werden, daß sie, offenbar im Zusammenhang mit der weichlichen und ungründlichen Erfassung des Naturwissenschaftlichen, welche wir bei Czolbe fanden, die starke Seite des Materialismus unnütz preisgibt. Sie weicht von der richtigen Haltung mindestens ebensoviel nach der entgegengesetzten Seite ab, als Büchners Auftreten nach der Seite allzu großer Zuversicht und naiver Verwechslung von Wahrscheinlichem und Bewiesenem. Der Verstand ist in diesen Fragen nicht so neutral wie Czolbe meint, sondern er führt in der Tat auf induktivem Wege zur höchsten Wahrscheinlichkeit einer streng mechanischen Weltordnung, neben welcher die transzendente Idealität nur in einer »zweiten Welt« behauptet werden[559] kann. Umgekehrt aber ist mit der Annahme einer intelligiblen Welt noch lange nicht jede »theologische« oder »spiritualistische« Deutung der Erfahrung gerechtfertigt. Hier war Czolbe nur konsequent in der Inkonsequenz. Seine Abneigung gegen Kant, dessen »intelligible Welt« in der Tat mit allen Konsequenzen der Naturforschung vereinbar ist, verleitete ihn, von diesem oft mit harten Worten zu reden, während er die extremsten Lehren der kirchlichen Orthodoxie als relativ berechtigt gelten ließ, die sich doch keineswegs mit einer »zweiten Welt« hinter der Erscheinungswelt begnügen, sondern mit ihren Dogmen vielfach mit den unabweisbarsten Konsequenzen der Erfahrungstatsachen in Konflikt geraten.

Eine indirekte Bedeutung gewann Czolbe noch für die Geschichte des Materialismus durch seinen regen Verkehr mit Ueberweg in der Zeit, in welcher dieser seine materialistische Weltanschauung, von welcher weiter unten die Rede sein wird, ausbildete. Ein hinterlassenes Werk Czolbes, welches unter anderm auch eine Darstellung der Weltanschauung Ueberwegs enthalten soll, ist noch zu erwarten. Czolbe starb im Februar dieses Jahres (1873), von allen die ihn kannten, hoch geachtet und auch von Männern entgegengesetzter Richtung wegen seines edlen Strebens geschätzt.405[560]

383

Wenn bisweilen Hegels Einfluß auf die Geschichtschreibung als besonders verderblich hervorgehoben wird, so findet dies seinen Anhalt namentlich in jener Neigung, die Tatsachen unter eine philosophische Konstruktion zu beugen, von welcher wir gerade auch in der Geschichte des Materialismus ein so auffallendes Beispiel kennengelernt haben. (Vgl. I, S. 327 u. ff.). Man vergißt aber darüber nur zu leicht, wie schwach es im allgemeinen vor Hegel noch mit der Geschichtschreibung in Deutschland bestellt war. Nicht mit Unrecht sagt Zeller (Gesch. d. deutschen Phil., S. 824): »Wenn unsre heutige Geschichtschreibung sich nicht mehr mit der gelehrten Ausmittlung und kritischen Sichtung der Überlieferungen, mit der Zusammenstellung und pragmatischen Erklärung der Tatsachen begnügt, sondern vor allem darauf ausgeht, den durchgreifenden Zusammenhang der Ereignisse zu verstehen, die geschichtliche Entwicklung und die sie beherrschenden geistigen Mächte im großen zu begreifen, so ist dieser Fortschritt nicht am wenigsten auf den Einfluß zurückzuführen, den Hegels Philosophie der Geschichte auch auf solche ausgeübt hat, welche der Hegelschen Schule niemals angehört haben.« – Der richtige Gesichtspunkt wird etwas verschoben, wenn man der mit Kant und Schiller beginnenden »idealistischen« Richtung in der Geschichtschreibung die gegenwärtige als schlechthin realistisch entgegenstellt. Wenn Alex. v. Humboldt (vgl. Tomaschek, Schiller in s. Verh. z. Wissensch., S. 130) die idealistische Richtung mit der Annahme von »Lebenskräften« in der Physiologie vergleicht, so könnte man vielleicht richtiger das Verhältnis von Idee und Tatsache an dem Einflusse der Theorie Darwins auf die naturgeschichtliche Forschung veranschaulichen. Es kann die Neigung zur Konstruktion auch hier von einer streng von den Tatsachen ausgehenden Richtung abgelöst werden, ohne daß man die Bedeutung eines solchen großen Gesichtspunktes für die Auffassung und Beurteilung des einzelnen verkennt.

384

Vgl. Cabanis, rapports du physique et du moral de l'homme et lettre sur les causes premières, 8. ed. augm. de notes etc. par L. Peisse, Paris 1844. Die erste Hälfte des Werkes wurde gegen Ende des Jahres 1795 in der Akademie gelesen und 1798-99 in den Abhandl. der Akademie gedruckt; die zweite Hälfte erschien mit der I. Aufl. des Gesamtwerkes 1802. Der »Brief über die ersten Ursachen«, eine der letzten Arbeiten, erschien erst lange nach dem Tode des Verf. im Jahre 1824. Man hat viel darüber gestritten, ob die pantheistische Philosophie des Briefes und insbesondere der entschieden ausgesprochene Vitalismus (Annahme einer substantiellen Lebenskraft, neben und über den organischen Naturkräften) mit dem materialistischen Geiste des Hauptwerkes im Einklang seien oder nicht. Der Herausgeber, Peiße, hat in der vorangeschickten Abhandlung über das Leben und die Lehren Cabanis' und in mehreren seiner Anmerkungen gezeigt, daß man bei Cabanis allerdings keine ganz strenge philosophische Konsequenz suchen darf, daß seine Schriften mancherlei kleine Schwankungen und selbst Widersprüche enthalten mögen, daß aber zu der Annahme einer Sinnesänderung und bewußten Retraktation zwischen dem Hauptwerk und dem metaphysischen Briefe keine Veranlassung vorliegt. So wird z.B. aus einer Stelle eines früheren Werkes gezeigt, daß Cabanis schon vor Abfassung der »Rapports« ein entschiedner Anhänger des Stallschen Vitalismus war. Seine Neigung zum Pantheismus kann man mit Leichtigkeit aus dem historischen Abschnitte der »Rapports«, namentlich aus seinen Äußerungen über die Naturphilosophie der Stoiker entnehmen. Damit ist es durchaus nicht unvereinbar, daß wir bei Cabanis fast alle Kraftsprüche unsrer heutigen Materialisten schon antreffen, so z.B. daß die Gedanken eine Sekretion des Gehirnes sind (a. a. O. S. 138).

385

Vgl. II. Mémoire, § 8; p. 141 u. 142 der in vorh. Anm. zitierten Ausgabe.

386

Wir können hier verweisen auf die geistvolle und vielfach belehrende »Geschichte der Entwicklung der naturwissenschaftlichen Weltanschauung in Deutschland« von Dr. H. Böhmer. Der Verfasser erhebt freilich Herder auf Kosten von Kant und huldigt einem »Realismus«, dessen Schwächen wir weiter unten darzulegen hoffen.

387

Von Strauß' neuestem Auftreten kann an dieser Stelle natürlich noch nicht die Rede sein.

388

In einem Zirkular-Reskr. des Ministeriums der Geistl.-, Unterr.- u. Medizinal-Angel., vom 21. Aug. 1824 heißt es: »Die K. wissensch. Prüfüngs-Kom. wird zugleich aufgefordert, hierbei auf die Gründlichkeit und den inneren Gehalt der Philosophie und ihres Studiums strenge Rücksicht zu nehmen, damit die seichten und oberflächlichen Philosophismen, welche in neuern Zeiten nur zu oft das ganze philosophische Studium ausgemacht haben, endlich einem gründlichen Studium der Philosophie weichen, das wahre philosphische Studium seine so ehrenvolle und nützliche Stellung und Richtung wieder erhalte, und die akademische Jugend, anstatt durch jene Afterphilosophie verwirrt und dunkler gemacht zu werden, durch gründlichen Unterricht im echt philosophischen Geiste zur klaren, richtigen und gründlichen Anwendung ihrer Geisteskräfte geleitet werde.« Rönne, Unterrichtswesen des Preuß. Staates, II, S. 42. – »Jene Afterphilosophie« ist vermutlich die Benekesche, vgl. Ueberweg, Grundriß d. Phil. III, 3. Aufl., S. 319. Die Tendenz und Wirkung des Erlasses mußte aber unter den damaligen Verhältnissen notwendig auf ein Monopol für die Hegelsche Philosophie abzielen.

389

Über Comte und sein System, vgl. Auguste Comte and positivsm, by John Stuart Mill, reprinted from the Westminster Review. (London 1865). – Über Begriff und Tendenz des Positivismus gibt in Kürze Aufschluß der Discours sur l'esprit positiv., par M. Auguste Comte, Paris 1844, 8°, 108 S. – Comtes Hauptwerk ist der sechsbändige Cours de philosophie positive 1830-1842, in zweiter Ausgabe mit Vorwort von Littré, Paris 1864. Comte ist in Deutschland erst seit kurzem beachtet worden. In Ueberwegs Grundriß III, S. 361 u. f. findet sich eine von Paul Janet verfaßte Notiz über ihn, welche jedoch Comte insofern nicht gerecht wird, als sie seine Lehre von den drei Perioden, der theologischen, metaphysischen und positiven, schlechthin zum negativen Teile seiner Philosophie macht, worauf dann als positiver Teil nur zwei Gedanken übrigbleiben: »eine gewisse geschichtliche Annahme« und »eine gewisse Anordnung der Wissenschaften«. In der Tat liegt die positive Leistung wesentlich in der Herausarbeitung und konsequenten Durchführung des Comte eigentümlichen Begriffes des »Positiven«. Genaueres gibt Dühring, krit. Gesch. d. Phil., 2. Aufl., Berlin 1873, S. 494-510.

390

Grundsätze der Philosophie der Zukunft, Leipzig 1849, S. 81, § 55.

391

Diese Sätze finden sich in den § 5 32, 33, 37 und 39 der Grunds. d. Phil. d. Zukunft.

392

A. a. O. 5 34.

393

Ebendaselbst §§ 40 u. 42.

394

Phil. d. Zuk. §§ 42,61 u. 62. – Diese sehr wesentlichen Stellen hat z.B. Schaller in seiner Darsull. u. Kritik der Phil. Feuerbachs (Leipzig 1874) ganz übersehen, wobei es dann nicht zu verwundern ist, daß er Feuerbachs Moral mit derjenigen Stirners identifiziert und damit schließt, den Egoismus und die Sophistik, »die prinzipielle Entsittlichung des Geistes« für unabweisbare Konsequenzen der Feuerbachschen Prinzipien zu erklären. – Hier sei noch bemerkt, daß die Versuchung sehr nahe lag, den »Tuismus« Feuerbachs mit dem »Altruismus« Comtes in Parallele zu stellen, allein ohne weitläufige Erörterung wäre es doch nicht möglich gewesen, den gemeinsamen Punkt hervorzuheben, ohne die Ähnlichkeit größer erscheinen zu lassen, als sie ist. Feuerbach geht immerhin vom Individuum aus, welches seine Ergänzung im andern sucht und durch persönliche Liebe erst zum Handeln für das Ganze kommt. Bei Comte ist die Gesellschaft und der Trieb des Menschen zur Gesellschaft der Ausgangspunkt und seine Moralregel des »vivre pour autrui« fließt nicht frei, wie die Leidenschaft, aus dem Innern hervor, sondern muß durch den Gedanken der Pflicht gegen die Gesellschaft gestützt werden.

395

Am ausschweifendsten ist der Gebrauch des Wortes »Hypothese« in den »Schlußbetrachtungen« zu Kraft und Stoff, S. 259 u. ff. der I. Auflage. Hier heißen sogar die religiösen Dogmen Hypothesen. Dagegen findet sich der richtige Sprachgebrauch, z.B. Natur und Geist, S. 83, wo die Atomistik eine »wissenschaftliche Hypothese« genannt wird.

396

Als relativistisch (wenn nicht vielmehr idealistisch) muß man schon den von Moleschott entlehnten Satz ansehen, daß die Dinge überhaupt nur für einander da sind (vgl. unt. Anm. s8). Ferner gehört hier seine Lehre von der Unendlichkeit im Kleinsten und die damit notwendig geforderte Relativität des Atombegriffs (vgl. Kraft u. Stoff, I. Aufl. S. 22 u. f.; Natur und Geist, S. 82 u. f.). Daß dessenungeachtet anderwärts die Atome als Tatsachen, Entdeckungen usw. behandelt werden, darf bei Büchner nicht auffallen. – In den »sechs Vorl. über die Darwinsche Theorie« (Leipzig 1868), S. 383 u. f. lehnt Büchner den systematischen Materialismus ausdrücklich ab und möchte seine Philosophie »Realismus« nennen.

397

Die betreffenden Stellen finden sich freilich hauptsächlich in »Natur und Geist« (Frankf. 1857), einem total fehlgeschlagenen Versuche des sonst so gewandten Schriftstellers, seine Philosophie in der Form ruhiger, möglichst unparteiischer Erörterung unter das große Publikum zu bringen. Vgl. das. S. 83 »Da unsre Erkenntnis nicht in das Innerste der Natur reicht und das eigentliche tiefste Wesen der Materie wahrscheinlich immer ein unlösbares Problem für uns bleiben wird«; – S. 173 »Daß ich es vorziehe, Dir unsre Unwissenheit über Zeit und Ewigkeit, über Raum und Unendlichkeit einzugestehen.« – Höchst charakteristisch für Büchners Denkweise ist die Stelle, ebendas. S. 176 u. f., wo der Verf. in Beziehung auf die Frage der Unendlichkeit von Raum und Zeit den Vertreter seines Standpunktes (»August«) sich damit begnügen läßt, daß die Grenzen, welche Raum, Zeit und Kausalität unsern Begriffen zu stecken scheinen, »in einer solchen Entfernung liegen, daß sie meiner philosophischen Anschauungsweise von Welt und Materie kaum entgegentreten.« – Sehr bemerkenswert ist auch folgende (später größtenteils weggelassene) Stelle aus der 1. Auflage von Kraft und Stoff, S. 261 »Hinter dem, was unsrer sinnlichen Erkenntnis verschlossen ist, können ja alle denkbaren Dinge existieren aber alles dieses kann sie« (die »Hypothese«) »nur willkürlich, nur ideell, nur metaphysisch. Wer die Empirie verwirft, verwirft alles menschliche Begreifen überhaupt und hat noch nicht einmal eingesehen, daß menschliches Wissen und Denken ohne reale Objekte ein nonsens ist.« So ungefähr sagt das auch Kant; nur mit ein wenig andern Worten.

398

Dies gilt auch in vollem Maße für Büchner, der uns in Anm. 82 zu seinem Werke: Die Stellung des Menschen in der Natur (Leipzig 1870) zum Dank für unsre Anerkennung seiner poetischen Naturanlage einen Lobgesang auf das »Ding an sich« gewidmet und demselben eine weitschweifige, aber nicht sonderlich klare Polemik vorangeschickt hat. Das totale Mißverständnis des Kantschen Satzes, daß unsre Begriffe sich nicht nach den Gegenständen, sondern daß die Gegenstände sich nach unsern Begriffen richten, lassen wir hier auf sich beruhen. Wer aus unserm Ab schnitt über Kant nicht entnehmen kann, wie dies aufzufassen ist, wird es auch aus einer neuen Erörterung in dieser Anmerkung nicht entnehmen. – Büchner versucht den Unterschied zwischen dem Ding an sich und der Erscheinung auf den alten Unterschied der primären und der sekundären Eigenschaften zurückzuführen, wagt jedoch nicht die einzig richtige Konsequenz des Materialismus zu ziehen, daß die bewegten Atome das »Ding an sich« sind. Die Wichtigkeit der Physiologie der Sinnesorgane für diese Frage wird von Büchner ohne irgendwelches Eingehen auf die wissenschaftliche Seite dieser Frage ganz so oberflächlich abgefertigt, als der Materialismus oft abgefertigt wird, mit dem Hinweis, daß die Hauptsache daran schon längst dagewesen sei. Was der gegenwärtige Standpunkt der Wissenschaft leisten kann, um einen schon früher aufgetauchten allgemeinen Gedanken neu und tiefer zu begründen, wird von Büchner aufs lebhafteste betont, wo es ihm paßt, und gänzlich ignoriert, wo es seinem Standpunkte Schwierigkeiten bereitet. – Daß ferner das Kantsche »Ding an sich« ein »neues Gedankending« ist, »unvorstellbar« usw., brauchen wir nicht erst von Büchner zu lernen. »Undenkbar« aber ist etwas ganz andres, wiewohl es bei Büchner in einem Atem mit den übrigen Prädikaten hingeht. Er erklärt aber das Ding an sich für undenkbar, »weil alle Dinge nur für einander da sind und ohne gegenseitige Beziehungen nichts bedeuten.« Wenn nun aber eben diese »Beziehungen« eines Dinges auf den Menschen seine von uns wahrgenommenen Eigenschaften sind (oder was sollten sie sonst sein?), wird dann nicht gerade mit diesem Satz das »Ding an sich« behauptet? Es mag sein, daß das Ding ohne alle Beziehungen nichts bedeutet, wie Büchner in Übereinstimmung mit dem dogmatischen Idealismus annimmt; dann ist es eben dennoch, als Ursprung aller seiner wirklichen Beziehungen zu verschiednen andern Dingen gedacht, etwas andres als die bloße, in uns zum Bewußtsein kommende Beziehung zu uns. Die letztere ist aber allein das, was der populäre Sprachgebrauch »das Ding« und was die kritische Philosophie dagegen »die Erscheinung« nennt. Weiterhin verrät Büchner durch die Art, wie er die Subjektivität der Sinneswahrnehmungen auf die vereinzelten Sinnestäuschungen zurückführt, daß er sich mit dem empirischen Material auf diesem Gebiete noch nicht hinlänglich vertraut gemacht hat. Er verspricht an einem passenderen Orte auf diesen Gegenstand zurückzukommen. Wenn dies dann mit der nötigen Sachkenntnis geschieht, so dürfte die Verständigung keine großen Schwierigkeiten haben.

399

Neue Darstellung des Sensualismus, Leipzig 1855. Vorwort, S. VI.

400

Entsteh. des Selbstbewußtseins, Leipzig 1856, S. 52 u. f.: N. D. d. Sensualism. S. s. – Vgl. ferner Czolbe, die Grenzen u. d. Ursprung der menschl. Erkenntnis, Jena u. Leipzig 1865, S. 280 u. f.

401

Neue Darstd. d. Sensual., S. 187 u. f.

402

In der Schrift über die Grenzen und den Ursprung der menschl. Erkenntnis (1865) spricht sich Czolbe über die Vorgänge in den Sinnesnerven mehr im Sinne der rationellen Physiologie aus (S. 210 u. ff.); die Ansicht von der Unveränderlichkeit der Weltordnung, dem ewigen Bestande unsres Sonnensystems usw. findet sich dagegen auch hier noch (S. 129 u. ff.) und wird mit auffallender Geringschätzung der unabweisbarsten Konsequenzen der Mechanik verfochten.

403

Das Bedenkliche des von Czolbe eingeschlagenen Verfahrens ist leicht einzusehen. Die guten und großen Hypothesen enthalten meist eine einzige Annahme, welche sich an sehr vielen Fällen bewahrheiten lädt: hier dagegen haben wir eine große Reihe von Hypothesen, welche sich kaum überhaupt durch die Erfahrung prüfen lassen. Auch stehen sie nicht isoliert oder dienen nur zur Erklärung von Spezialfällen, wie das in der Naturforschung häufig vorkommt, sondern jede ist eine notwendige Stütze für die andre und für das ganze System. Wenn nur eine einzige falsch ist, so ist das System falsch. Setzt man die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit für jede einzelne Hypothese gleich groß mit der Wahrscheinlichkeit des Gegenteils also =1/2, so ergibt sich für die Richtigkeit des ganzen Systems schon 1/2n als Ausdruck der Wahrscheinlichkeit, wo n die Zahl der Hypothesen bedeutet. Auf diesem einfachen mathematischen Gesetz beruht das Mißliche aller Konstruktionen mit notwendigen Hilfs-Hypothesen, welches wir übrigens auch ohne mathematischen Nachweis empfinden.

404

Die Grenzen u. der Urspr. der menschl. Erkenntnis, im Gegensatz zu Kant und Hegel. Naturalistisch-teleologische Durchführung des mechan. Prinzips, von Dr. H. Czolbe, Jena u. Leipzig, 1865, S. 50 u. 51.

405

Speziellere Auskunft über Czolbes Person und Ansichten gibt eine gute biographische Skizze von Dr. Ed. Johnson in der Altpreuß. Monatsschrift X. Bd. Heft 4 S.338-352 (auch Separatabdruck, Königsberg, A. Rosbachsche Buchdr. 1873).

Quelle:
Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Frankfurt am Main 1974, S. 512-561.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Geschichte des Materialismus
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