[101] 3. Berge versetzender Glaube

[101] Die beiden Berge Tai Hing und Wang We sind 700 Meilen im Geviert und zehntausend Klafter hoch. Sie standen ursprünglich südlich von Gi Dschou und nördlich von Ho Yang (an der Grenze zwischen Nord- und Mittelchina). In Nordberg lebte ein einfältiger Mann, der war an neunzig Jahre alt. Er wohnte im Angesicht der Berge und war unwillig, daß der Nordhang der Berge den Ausgang und Eingang versperrte. Er versammelte sein Haus und sagte nachdenkend: »Wäre es nicht möglich, daß wir mit aller Kraft die steilen Gipfel abtragen, so daß wir nach Yü Dschou im Süden einen Durchgang haben, der nach Han Yin geht?« Und sie versprachen es alle einander. Sein Weib äußerte Zweifel und sprach: »Deine Kraft reicht nicht mehr aus, um ein kleines Erdhäufchen zu beseitigen, wie soll es da erst mit dem Tai Hing- und Wang Wu-Berge werden? Und wo wollt ihr denn die Erde und die Steine hintun?« Alle sprachen: »Wir werfen sie ans Ende des Gelben Meeres im Norden des dunkeln Landes.« Darauf führte er Sohn und Enkel hinaus ans Werk. Die drei zerklopften die Steine, schaufelten Erde, luden sie in Körbe und beförderten sie ans Ende des Gelben Meeres. Unter den Nachbarn war die Witwe eines Mannes namens Hauptstädter, die hatte einen Nachgeborenen, der eben die Zähne wechselte. Der sprang herzu und half mit. Der Winter hatte mit dem Sommer gewechselt, als sie zum ersten Male heimkehrten.

In Flußeck aber war ein weiser Greis, der verlachte sie und wollte sie abhalten und sprach: »Groß, wahrlich, ist dein Unverstand. Mit deiner alterswelken Kraft kannst du kein Gräschen des Berges mehr ausreißen, wieviel weniger Erde und Steine.« Der einfältige Alte von Nordberg atmete tief und sprach: »Dein Herz ist hart, undurchdringlich hart. Da ist dieses schwache Kind der Witwe besser. Wenn ich auch sterbe, so bleibt mein Sohn noch am Leben. Mein Sohn zeugt wieder[102] Enkel, die Enkel zeugen wieder Söhne, deren Söhne haben wieder Söhne, deren Söhne haben wieder Enkel. So gehen die Geschlechter der Söhne und Enkel in unerschöpflicher Folge weiter. Dem Berg aber wird nichts hinzugefügt. Warum also sollte es zu schwer sein, ihn abzutragen?« Der weise Greis von Flußeck hatte nichts darauf zu erwidern.

Einer der schlangenhaltenden Götter hörte davon und fürchtete, es möchte kein Ende nehmen. So sagte er es dem Herrn. Der Herr ward bewegt von diesem Glauben und befahl den zwei Söhnen des Kua Wo (Ameisenfürsten), die beiden Berge auf den Rücken zu nehmen und den einen östlich des Nordens und den anderen südlich von Yung zu vergraben. Seither gibt es südlich von Gi und nördlich von Han keinen trennenden Wall mehr.

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 101-103.
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