[107] 9. Die Macht des Gleichgewichts

Gleichgewicht ist das höchste Weltgesetzt. Wird es auf die Körperwelt angewandt, so verhalten sich die Dinge entsprechend. Läßt man auf ein Haar, das sich im Gleichgewichtsmittelpunkt befindet, zwei gleich schwere Kräfte frei schwebend[107] wirken und das Haar zerreißt, so ist das ein Zeichen, daß es sich nicht im Gleichgewichtsmittelpunkt befand. Ist es genau im Gleichgewichtsmittelpunkt, so bewirken die zerreißenden Kräfte kein Zerreißen. Die Leute halten das nicht für wahr, aber es gibt natürlich auch solche, die die Wahrheit davon erkennen.

Dschan Ho benützte einen einzelnen Seidenfaden als Angelschnur, die Granne einer Ähre als Angelhaken, eine dünne Gerte als Angelrute und ein gespaltenes Korn als Köder und konnte damit einen Fisch, der einen ganzen Wagen füllte, fangen in einem hundert Klafter tiefen Abgrund, mitten in brausendem Wirbel, ohne daß die Angelschnur zerriß, der Haken sich streckte oder die Rute sich krümmte.

Der König von Tschu hörte es und wunderte sich darüber. Er berief ihn und fragte nach dem Grund davon. Dschang Ho sprach: »Ich hörte meinen verstorbenen Vater von der Geschicklichkeit des Pu Dsu Dsï im Schießen reden. Er benützte einen schwachen Bogen und befestigte den Pfeil an einer dünnen Leine und benützte den Wind, um ihn zu treiben. Damit holte er zusammen zwei Kraniche aus den höchsten Wolkenregionen herunter, weil sein Sinnen gesammelt war und die Bewegung der Hände dem Gleichmaß der Kräfte sich anpaßte.

Ich ahmte seinem Beispiel nach und lernte das Angeln. Nach fünf Jahren erst hatte ich den geheimen Sinn erfaßt. Wenn ich nun dem Flusse nahe mit der Angelrute in der Hand, so habe ich keine anderen Gedanken im Sinn als nur die Vorstellung der Fische. Ich werfe die Leine und versenke die Angel, ohne daß meine Hand ihr ein Gewicht verliehe, so daß von der Außenwelt her keine Verwirrung kommen kann. Wenn die Fische meine Angel und meinen Köder sehen, so halten sie es für sinkende Stäubchen oder Schaumblasen und schnappen danach ohne Bedenken.

Deshalb kann man mit Schwäche Starkes meistern, mit Leichtem Schweres bewegen. Wenn du, o Großkönig, in Wahrheit[108] also über dem Reiche zu walten vermagst, so kannst du die Welt bewegen, als faßtest du sie in der Hand, und hast nicht einmal Arbeit davon.« Der König von Tschu sprach: »Gut«.

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 107-109.
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