Viertes Kapitel.
Von der Wirklichkeit des Wissens

[177] § 1. (Der Einwand, dass alles Wissen, da es nur Vorstellungen behandelt, blosser Schein sei.) Ich fürchte, meine Leser mögen schon lange gemeint haben, dass ich nur an einem Luftschlosse baue, und dass sie mir sagen: »Wozu all dies Bemühen? Das Wissen ist nach Ihnen nur die Auffassung von der Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung unserer eigenen Vorstellungen; allein wer weiss denn, was diese Vorstellungen sind? Giebt es etwas Maassloseres als die Einbildungskraft des Menschen? Wo ist der Mann, der nicht Chimären in seinem Kopfe hat? Und wenn es einen mässigen und weisen Mann giebt, wie unterscheidet sich denn nach Ihren Regeln sein Wissen von dem der ausgelassensten Phantasie? Beide haben ihre Vorstellungen und beide erfassen deren Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung. Sind sie verschieden, so ist der Vortheil jedenfalls auf Seiten des heissblütigen Mannes, der mehr und lebhaftere Vorstellungen hat und daher nach Ihren Regeln auch ein grösseres Wissen. Wenn wirklich alles Wissen nur in der Erfassung der Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der eigenen Vorstellungen besteht, so sind die Traumbilder eines Phantasten und die Begründungen eines gesetzten Mannes gleich gewiss. Kommt es nicht auf die Dinge selbst an, so genügt es zur Wahrheit und Gewissheit, dass man nur die Üebereinstimmung seiner eigenen Phantasiegebilde beleuchte und demgemäss spreche. Dann sind solche Luftschlösser ebenso feste Burgen der Wahrheit wie die Beweise des Euklid. Dass eine Harpye kein Centaurist, bildet hiernach ein sicheres Wissen und ist so wahr, als dass der Kreis kein Viereck ist. – Was soll aber all dieses feine Wissen um die eigenen Einbildungen für die Erfassung der wirklich bestehenden Dinge nützen? Es kommt nicht auf Das an, was man sich einbildet; man verlangt nach der Erkenntniss der Dinge; nur diese geben unseren Beweisen Werth[177] und stellen das Wissen des einen Menschen über das des andern.«

§ 2. (Ich antworte, dass dies nicht der Fall, wenn die Vorstellungen mit den Dingen übereinstimmen.) Ich antworte darauf, dass, wenn unser Wissen mit dem Wissen der Vorstellungen endet und nicht weiter reicht, so kann das ernsteste Nachdenken darüber hinaus so wenig helfen wie die Träume eines verrückten Gehirns; die darauf gebauten Wahrheiten haben keine höhere Bedeutung als die Reden eines Menschen, welcher in seinen Träumen die Dinge deutlich erkennt und darüber mit grosser Sicherheit spricht. Indess hoffe ich, noch deutlich zu zeigen, dass dieser Weg zur Gewissheit vermittelst des Wissens der eigenen Vorstellungen etwas mehr als blosse Einbildung ist, und es wird sich finden, dass die Gewissheit aller allgemeinen Wahrheiten nur darauf beruht.

§ 3. Es ist klar, dass die Seele die Dinge nicht unmittelbar kennt, sondern nur durch die Vorstellungen von ihnen. Unser Wissen ist daher insoweit wirklich, als eine Uebereinstimmung zwischen unseren Vorstellungen und der Wirklichkeit der Dinge besteht. Welches Kennzeichen giebt es aber hierfür? Wie soll die Seele, wenn sie nur ihre eigenen Vorstellungen erfasst, wissen, dass sie mit den Dingen selbst übereinstimmen? Obgleich dies seine Schwierigkeit hat, so giebt es doch zwei Arten von Vorstellungen, von deren Uebereinstimmung mit den Dingen man überzeugt sein kann.

§ 4. (Dies ist 1) bei allen einfachen Vorstellungen der Fall.) Die erste bilden die einfachen Vorstellungen. Denn da diese die Seele nicht selbst bilden kann, so müssen sie das Ergebniss der auf die Seele in natürlicher Weise einwirkenden Dinge sein; diese bringen darin die Wahrnehmungen hervor, welche die Weisheit und der Wille unseres Schöpfers bestimmt und eingerichtet hat. Hieraus folgt, dass die einfachen Vorstellungen keine Gebilde der Phantasie sind, sondern die regelmässigen und natürlichen Erzeugnisse der äusseren Dinge, wenn sie auf uns wirken und alle die Uebereinstimmung mit sich führen, die beabsichtigt ist oder die unsere Lage verlangt. Denn sie stellen die Dinge in den Erscheinungen uns dar, zu deren Erzeugung sie geschickt[178] sind, und wir vermögen dadurch die einzelnen Arten und Substanzen zu unterscheiden, ihre Zustände zu erkennen und sie so für unsere Bedürfnisse und unseren Nützen zu verwenden. So entspricht z.B. die Vorstellung des Weissen oder Bittern in der Seele genau der Kraft im dem Körper, wodurch sie hervorgebracht wird, und hat damit wirklich all die Uebereinstimmung, die sie mit den äusseren Dingen haben kann oder soll. Diese Uebereinstimmung zwischen unseren einfachen Vorstellungen und den bestehenden Dingen genügt für das wirkliche Wissen.

§ 5. (2. Bei allen zusammengesetzten Vorstellungen, mit Ausnahme der Substanzen.) Zweitens können alle zusammengesetzten Vorstellungen, die der Substanzen ausgenommen, nicht der Uebereinstimmung ermangeln, welche zum wirklichen Wissen gehört. Denn sie sind Urbilder, welche die Seele selbst gebildet hat, und sollen keine Dinge darstellen, noch auf das Dasein eines solchen, als ihres Urbildes, sich beziehen; was weiter nichts, als sich selbst darstellen soll, kann aber niemals unrichtig darstellen oder von der richtigen Auffassung eines Gegenstandes ablenken, und der Art, sind alle zusammengesetzten Vorstellungen, mit Ausnahme derer von den Substanzen. Sie sind, wie ich früher gezeigt habe, Verbindungen von Vorstellungen, welche die Seele nach freier Wahl vereint, ohne auf deren Verbindungen in der Natur zu achten. Deshalb gelten hier diese Vorstellungen selbst als die Muster, und bei den Dingen fragt man nur, ob sie ihnen entsprechen. Deshalb, ist sicherlich alle erlangte Kenntniss von diesen Vorstellungen eine wirkliche, die Sache selbst erfassende, und in allem Denken, Begründen und Sprechen hierüber meint man die Dinge nur so weit, als sie diesen Vorstellungen entsprechen. Deshalb kann uns hier die sichere und zweifellose Wirklichkeit nicht fehlen.

§ 6. (Hierauf beruht die Wirklichkeit der mathematischen Wissenschaften.) Es ist anerkannt, dass die Kenntniss der mathematischen Wahrheiten nicht blos ein gewisses, sondern auch ein wirkliches Wissen ist und nicht das leere Gebilde nichtssagender Chimären des Gehirns. Dennoch zeigt es sich bei näherer Betrachtung nur als ein Wissen von unseren eigenen Vorstellungen.[179] Der Mathematiker betrachtet die Wahrheit und die Eigenschaften des Rechtecks oder Kreises nur nach der Vorstellung, die davon in seiner Seele ist; denn es kann sein, dass er niemals eines von beiden in mathematischer Weise, d.h. genau wahr, in seinem Leben angetroffen hat. Dennoch ist sein Wissen von den Wahrheiten und Eigenschaften des Kreises oder einer anderen mathematischen Gestalt wahr und gewiss, und es gilt selbst von den daseienden Dingen, weil diese nicht weiter aufgefasst und in solchen Sätzen gemeint werden, als sie den Mustern in der Seele entsprechen. Ist es von dem vorgestellten Dreieck wahr, dass seine drei Winkel zweien rechten gleich sind, so ist dies auch ebenso wahr für jedes irgendwo bestehende Dreieck. Eine daseiende Gestalt, die nicht genau dieser Vorstellung in der Seele entspricht, wird bei diesem Lehrsatze nicht gemeint, und deshalb kann man sicher sein, dass alles Wissen um solche Vorstellungen ein wirkliches ist; denn man meint die Dinge nur so weit, als sie mit diesen Vorstellungen stimmen, und deshalb muss das, was man von diesen weiss, auch gelten, wenn sie stofflich bestehen, da die Auffassung immer nur diesen Vorstellungen gilt, die dieselben bleiben, wo sie auch bestehen mögen.

§ 7. (Und auch der Moral.) Daraus folgt weiter, dass auch das Wissen der Moral der Gewissheit ebenso wie die Mathematik fähig ist. Die Gewissheit besteht nur in dem Erfassen der Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung unserer Vorstellungen; auch für die Beweise gilt dies, sie sind nur durch Zwischenvorstellungen vermittelt. Nun sind aber die moralischen Vorstellungen ebenso wie die mathematischen ihre eigenen Urbilder und daher entsprechende und vollständige Vorstellungen; deshalb ist jede in ihnen angetroffene Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung ebenso wie bei den mathematischen Figuren ein wirkliches Wissen.

§ 8. (Das Dasein ist nicht nöthig, damit sie ein wirkliches Wissen seien.) Zur Erlangung des Wissens und der Gewissheit gehören bestimmte Vorstellungen, und soll das Wissen ein wirkliches sein, so müssen die Vorstellungen ihren Urbildern entsprechen. Auch darf es nicht auffallen, dass ich die Gewissheit unseres Wissens in die Auffassung unserer Vorstellungen verlege,[180] ohne dabei das wirkliche Dasein, der Dinge (wie es scheinen könnte) zu beachten; denn die meisten jener Ausführungen, welche das Denken beschäftigen und zu den Streitigkeiten zwischen Denen Anlass geben, die sich die Erforschung der Wahrheit und Gewissheit zum Geschäft machen, betreffen, wie eine nähere Betrachtung ergiebt, allgemeine Sätze und Begriffe, bei denen das Dasein überhaupt nicht betheiligt ist. Alle mathematischen Ausführungen über die Umwandlung eines Kreises oder Kegelschnittes in ein Viereck oder über andere Theile der Mathematik beziehen sich nicht auf das Dasein dieser Gestalten, vielmehr bleiben ihre Beweise, die nur von ihren Vorstellungen bedingt sind, ungeändert gültig, mag ein Kreis oder Viereck in der Welt bestehen oder nicht. In gleicher Weise sieht die Wahrheit und Gewissheit bei moralischen Ausführungen von dem wirklichen Leben und dem Dasein jener Tugenden ab, worüber sie handeln. Des Cicero Pflichtenlehre bleibt nicht weniger wahr, wenn auch Niemand in der Welt diese Regeln beobachtet und nach dem darin aufgestellten Muster eines tugendhaften Mannes lebt, welches, als er starb, nur in seinen Gedanken bestand. Wenn es eine speculative Wahrheit ist, d.h. wenn sie im Vorstellen es ist, dass der Mörder den Tod verdient, so bleibt der Satz auch für jede wirklich bestehende Handlung wahr, die dieser Vorstellung des Mordes entspricht; andere Handlungen berühren die Wahrheit dieses Satzes nicht. Dies gilt auch von allen anderen Dingen, bei denen ihr Wesen nur in der in der Seele vorhandenen Vorstellung besteht.

§ 9. (Auch bleibt die Moral wahr und gewiss, trotzdem dass ihre Vorstellungen von dem Menschen gebildet und benannt werden.) Man sagt hier vielleicht, dass, wenn das Wissen der Moral nur in der Betrachtung der eigenen Vorstellungen eines Jeden bestehe und diese, wie andere Besonderungen, von ihm selbst gemacht werden, dann sonderbare Begriffe von Gerechtigkeit und Massigkeit sich ergeben wurden; dass dann Tugend und Laster vermengt werden würden, wenn Jeder deren Vorstellungen nach Belieben bilden könne. Allein eine solche Verwirrung in den Dingen selbst und in der Untersuchung derselben wird so wenig eintreten, wie in der Mathematik eine Störung der Beweise oder[181] eine Aenderung in den Eigenschaften und Beziehungen der Figuren eintreten würde, wenn man auch ein Dreieck mit vier Winkeln und ein schiefes Viereck mit vier rechten Winkeln ausstattete. Dies wäre, einfach ausgedrückt, nur ein Wechsel in den Namen der Figuren, und die eine wurde nur mit dem Namen der andern benannt. Man kann die Vorstellung einer Figur mit drei Winkeln, von denen einer ein rechter ist, ein gleichseitiges oder ein ungleichseitiges Viereck oder sonst wie nennen, so bleiben doch die Eigenschaften und Beweise bei dieser Vorstellung dieselben, als wenn es ein rechtwinkeliges Dreieck genannt wird. Eine solche Aenderung des Namens wird anfänglich für Den, der an die alten gewöhnt ist, störend sein, allein sobald die Gestalt verzeichnet worden, werden die Ableitungen und Beweise ihm dennoch verständlich und klar sein. Ebenso verhält es sich mit der Wissenschaft der Moral; ein Mensch mag die Vorstellung des Wegnehmens fremder Sachen ohne Bewilligung Derer, die sie sich ehrlich erworben haben, Gerechtigkeit nennen. Dann wird Der welcher dieses Wort in dem gewöhnlichen Sinne nimmt, irrgeführt werden; allein lässt man den Namen bei Seite und nimmt man die Vorstellung so, wie der Sprechende sie hat, so stimmen dieselben Dinge mit ihr ebenso, als wenn sie Unrecht genannt wird. Allerdings erzeugen falsche Namen in der Moral mehr Störung, weil sie nicht so leicht, wie in der Mathematik, sich berichtigen lassen, wo die gezogene und wahrgenommene Gestalt den falschen Namen unschädlich macht, da es da keines Zeichens bedarf, wo das bezeichnete Ding selbst gegenwärtig ist und gesehen wird. Bei Worten aus der Moral ist das nicht so leicht, weil viele Auflösungen erst zur Bildung ihrer Gesammtvorstellungen nöthig sind; allein die falsche Benennung hindert trotzdem nicht, dass ein sicheres und beweisbares Wissen von deren Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung möglich ist, wenn man nur, wie in der Mathematik, die Vorstellungen genau festhält und sie in ihren verschiedenen Beziehungen verfolgt, ohne sich durch ihren Namen irre führen zu lassen. Trennt man die betreffende Vorstellung von ihren Zeichen, so wird die Erkenntniss der wirklichen Wahrheit und Gewissheit nicht gestört, wie auch die Namen lauten mögen.[182]

§ 10. (Die falsche Benennung hebt die Gewissheit dieses Wissens nicht auf.) Noch haben wir hier festzuhalten, dass, wenn Gott oder ein anderer Gesetzgeber gewisse Worte so definirt hat; dass sie das Wesen bestimmter Arten von Dingen, die so benannt werden, bilden sollen, es allerdings nicht gut ist, diese Namen anders zu gebrauchen; allein sonst ist es nur ein Sprachfehler, wenn die Worte gegen den gewöhnlichen Sinn gebraucht werden; selbst dies stört indess die Gewissheit dieses Wissens nicht; denn durch die gehörige Ueberlegung und Vergleichung der Vorstellungen kann, trotz deren falscher Benennung, sie immer erlangt werden.

§ 11. (Die Vorstellungen von den Substanzen haben ihre Muster ausserhalb ihrer.) Drittens giebt es Gesammtvorstellungen, die auf äusserliche Urbilder bezogen werden, und eine Abweichung von denselben kann hier unser Wissen unwirklich machen. Das sind die Vorstellungen von den Substanzen, die aus einer Anzahl einfacher Vorstellungen bestehen, die vermeintlich den natürlichen Gegenständen entnommen sind, aber doch davon abweichen können, weil mehr oder andere Vorstellungen verbunden sind, als in den Dingen selbst der Fall ist. Deshalb trifft es sich, dass sie oft mit den Dingen nicht genau übereinstimmen.

§ 12. (So weit sie mit den Dingen stimmen, ist unser Wissen wirklich.) Um also Vorstellungen von den Substanzen zu haben, welche mit ihnen übereinstimmen und ein wirkliches Wissen gewähren, genügt es nicht, wie bei den Zuständen, Vorstellungen, die an sich, ohne Rücksicht, ob Dinge schon so bestanden haben, mit einander sich vertragen, zu verbinden; denn die Begriffe des Kirchenraubs und des Meineids waren so wahr und richtig vor wie nach Begehung der ersten solchen Handlung; vielmehr gelten die Vorstellungen von Substanzen als Abbilder, die sich auf äusserliche Muster beziehen und deshalb einem Dinge entlehnt sind, was besteht oder bestanden hat. Deshalb können sie nicht beliebig aus Vorstellungen, ohne von einem wirklichen Muster entlehnt zu sein, gebildet werden, wenn auch die verbundenen an sich verträglich sind. Wir kennen nämlich die wirkliche Verfassung der Substanzen, nicht, von denen unsere einfachen Vorstellungen abhängen, und[183] weshalb sie in einzelnen Substanzen so eng, mit Ansschliessung anderer, verbunden sind; nur von wenigen kann man die Unverträglichkeit mit einander über die Erfahrung und Beobachtung hinaus sicher wissen. Deshalb liegt die Wirklichkeit unseres Wissens von Substanzen in einer solchen Beschaffenheit ihrer Gesammtvorstellung, dass ihre sie bildenden einfachen Vorstellungen in der Natur wirklich so zusammenbestehend angetroffen werden. Wenn unsere Vorstellungen in dieser Weise wahr sind, so bilden sie, wenn auch vielleicht keine ganz genauen Abbilder, doch die Unterlage eines wirklichen Wissens (so weit wir ein solches hier haben). Allerdings reicht es (wie ich gezeigt habe) nicht sehr weit; allein so weit dies der Fall, ist es ein wirkliches Wissen. Jede Uebereinstimmung von Vorstellungen überhaupt bildet ein Wissen; sind die Vorstellungen allgemein, so ist es ein allgemeines Wissen; soll es aber ein wirkliches Wissen von Substanzen sein, so muss es wirklich bestehenden Dingen entlehnt sein. Sind irgend welche einfache Vorstellungen in Substanzen zusammenbestehend angetroffen worden, so kann man sie getrost wieder verbinden und so allgemeine Vorstellungen von Substanzen bilden; denn waren sie einmal in der Natur verbanden, so kann das auch wieder vorkommen.

§ 13. (Bei der Erforschung der Substanzen müssen die Vorstellungen betrachtet und das Denken nicht auf die Namen oder die vermeintlich durch Namen bestimmten Arten beschränkt werden.) Wenn man dies recht erwägt und das Denken und die allgemeinen Vorstellungen nicht auf die Namen beschränkt, als ob es keine anderen Arten von Dingen geben könnte, wie die, welche durch bestimmte Namen bereits festgestellt worden sind, so würde man freier und schärfer als jetzt über die Dinge denken. Es klingt vielleicht als eine dreiste Sonderbarkeit, wenn nicht als offenbare Unwahrheit, wenn ich sage, dass gewisse missgestaltete Geschöpfe, die vierzig Jahre mit einander ohne ein Zeichen von Vernunft gelebt haben, eine Art Geschöpfe zwischen dem Menschen und dem Thiere seien; das Auffallende hierbei kommt auch davon, dass man fälschlich meint, die Worte Mensch und Thier bezeichneten bestimmte, durch ihre wirkliche Wesenheit unterschiedene[184] Arten, so dass keine Art sich zwischen ihnen befinden könne. Lässt man aber diese Name und die Annahme bei Seite, dass die Natur solche besondere Wesenheiten gebildet habe, an welchen alle Dinge dieses Namens genau in gleicher Weise theilnehmen, und bildet man sich nicht ein, dass eine bestimmte Anzahl solcher Wesenheiten bestehen, in denen, wie in Modellen, alle Dinge geformt werden, so würde man finden, dass die Vorstellung von der Gestalt, Bewegung und dem Leben eines Menschen, der aber keine Vernunft hat, ebenso bestimmt ist und ebenso eine bestimmte Art von Dingen zwischen Mensch und Thier bezeichnet, wie die Vorstellung von der Gestalt eines Esels mit Vernunft sich von der des Menschen und Thieres unterscheiden und eine Art vom Geschöpfen zwischen beiden bilden würde.

§ 14. (Widerlegung des Einwurfs, dass ein Wechselbalg nicht zwischen die Menschen und Thiere gestellt werden könne.) Jedermann wird hier fragen: Was ist ein Wechselbalg, wenn er zwischen Mensch und Thier seine Stelle haben soll? Ich sage, Wechselbalg bezeichnet so gut Etwas, was von Mensch und Thier verschieden ist, als die Worte Mensch und Thier von einander verschiedene Dinge bezeichnen. Wird dies richtig erwogen, so löst es die Frage und zeigt ohne Umstände, was ich meine. Allein ich kenne den Eifer vieler Männer, die hier Folgen sich ausspinnen und Gefahren für die Religion sehen, sowie man es wagt, von ihrer Art zu sprechen abzugehen, und ich sehe daher voraus, mit welchen Namen eine solche Behauptung belegt werden wird. Sicherlich wird man fragen, was aus den Wechselbälgen, wenn sie zwischen Mensch und Thier stehen, in jener Welt werden wird? Darauf antworte ich: 1) Dass ich mich hier auch nicht darum zu kümmern brauche; dies trifft nur ihren Herrn, und ihr Zustand wird weder besser noch schlechter, wenn ich Etwas von ihnen behaupte. Sie sind in den Händen eines treuen Schöpfers und gütigen Vaters, der über seine Geschöpfe nicht nach unseren engen Meinungen entscheidet und sie nicht nach den von uns ausgedachten Namen sondert. Wir wissen von unserer eigenen Welt so wenig, und wir hüten uns also, denke ich, die verschiedenen Zustände zu bestimmen, in welche die Geschöpfe bei dem Verlassen[185] dieser Bühne eintreten sollen. Es muss uns genügen, dass Er Allen, die der Belehrung, Rede und Vernunft fähig sind, kund gethan hat, dass sie Rechnung abzulegen haben und empfangen werden nach Dem, was sie gethan haben.

§ 15. Indess antworte ich auch zweitens, dass die Bedeutung dieser Frage (nämlich, ob man die Wechselbälge eines jenseitigen Lebens berauben Wolle) sich auf zwei Annahmen stützt, die beide falsch sind. Die erste ist, dass alle Wesen mit der äusseren Gestalt und dem Ansehen eines Menschen nothwendig zu einem jenseitigen Leben bestimmt seien, und zweitens: dass jede menschliche Geburt daran Theil nehme. Nimmt man diese Einbildungen weg, so ist die Frage grundlos und lächerlich. Ich frage Die, welche nur einen zufälligen Unterschied zwischen sich und den Wechselbälgen annehmen, während das Wesen beider gleich sei, ob wohl die Unsterblichkeit von der äusseren Gestalt eines Körpers abhängig sein könne? Die blosse Aufstellung dieser Frage genügt wohl, sie zu verneinen. Niemand bis jetzt, und wenn er noch so tief in den Stoff versunken war, räumte einer Gestalt von groben sinnlichen und äusserlichen Theilen eine solche Vortrefflichkeit ein, dass ihr das ewige Leben gebühre oder ihr als nothwendige Folge zukomme; oder dass irgend ein Stück Stoff, nach seiner Auflösung hier, später zu einem ewigen Zustand von Wahrnehmen und Wissen gelangen solle, blos weil es die oder jene Gestalt gehabt und seine Theile besonders geformt gewesen sind. Wenn man die Unsterblichkeit so mit der oberflächlichen Gestalt verbindet, so setzt man alle Rücksicht auf Seele und Geist bei Seite, derentwegen allein bisher gewisse Körper für unsterblich erachtet worden sind. Man giebt dann auf das Aeussere mehr als auf das Innere der Dinge und verlegt den Vorzug des Menschen mehr in die äussere Gestalt seines Körpers als in die inneren Vollkommenheiten seiner Seele; dies ist ebenso viel, als ob man den unschätzbaren Vortheil der Unsterblichkeit und des ewigen Lebens, den der Mensch vor anderen Geschöpfen hat, von der Grösse seines Bartes oder dem Schnitt seines Rockes abhängig machte, da dieses oder ein anderes äusseres Zeichen des Körpers die Hoffnung auf ein ewiges Leben so wenig mit sich führt, als[186] der Schnitt von eines Menschen Kleid ihn hoffen lassen kann, es werde sich nie abtragen oder ihn selbst unsterblich machen. Man entgegnet vielleicht, dass nicht die Gestalt das Ding unsterblich machen solle, sondern dass die Gestalt nur das Zeichen einer vernünftigen Seele im Innern sei, die unsterblich ist. Indess möchte ich wissen, wer sie zu einem solchen Zeichen gemacht hat; denn das blosse Sagen macht sie noch nicht dazu, dazu gehören Gründe; keine Gestalt spricht diese Sprache. Man könnte dann mit gleichem Recht folgern, dass auch der Leichnam eines Menschen, an dem sich nicht mehr Leben wie an einem Standbild zeigt, wegen seiner Gestalt auch eine lebendige Seele in sich habe, wie dass eine vernünftige Seele in einem Geschöpfe sei, weil es äusserlich einem vernünftigen Wesen gleiche, obgleich sein Handeln während seines ganzen Lebens weniger Zeichen von Vernunft verräth, als man bei manchen Thieren antrifft.

§ 16. (Ungeheuer.) Allein es ist doch einmal, sagt man, der Sprössling vernünftiger Eltern, und es muss deshalb auch eine vernünftige Seele haben. Ich weiss indess nicht, nach welcher Logik dies folgt. Niemand wird solche Folgerung anerkennen, sonst würde man nicht ohne Weiteres missgestaltete Geburten vernichten. Aber man sagt hier: dies sind Ungeheuer. Gut; aber was ist denn der närrische, unverständige und unhandliche Wechselbalg? Macht ein Fehler am Körper zu einem Ungeheuer und ein Fehler an der Seele (als dem edleren, anerkannt wesentlichen Theile) nicht? Soll der Mangel der Nase oder des Busens aus einem Geschöpf ein Ungeheuer machen und es aus der Menschengattung stossen, aber der Mangel der Vernunft und des Verstandes nicht? Damit holt man wieder alles Das hervor, waschen erst widerlegt worden ist; damit legt man wieder allen Werth auf das Aeussere und entscheidet über den Menschen nur nach seiner Gestalt. Um nach der gebräuchlichen Beweismethode darzulegen, wie man hierbei alles Gewicht auf die Gestalt legt und das ganze Wesen der Menschengattung (wie man sie sich zurechtlegt) in der äusseren Gestalt findet, wie verkehrt dies auch sein und so sehr man dies auch selbst abläugnen mag, brauche ich solche. Gedanken nur etwas weiter zu verfolgen, dann wird dies[187] klar hervortreten. Der wohlgestaltete Wechselbalg ist ein Mensch, hat eine vernünftige Seele, wenn sie auch sich nicht zeigt; dies ist unzweifelhaft, sagt man. Machen wir aber die Ohren ein wenig länger und spitzer und die Nase etwas flacher als gewöhnlich, beginnt man zu stutzen; wird das Gesicht noch schmäler, platter und länger, so ist man in Zweifel; fügt man nun noch mehr und mehr hinzu, was ihn dem Thiere ähnlicher macht, und wird der Kopf genau der eines Thieres, dann ist es auf einmal ein Ungeheuer, und es ist erwiesen, dass es keine vernünftige Seele hat und zerstört werden muss. Wo ist hier (frage ich) die Grenze, bei der die Gestalt keine vernünftige Seele mehr hat? Es hat Geburten gegeben, die halb Thier, halb Mensch gewesen sind; andere waren es zu drei Viertel und ein Viertel, und so können sie sich allmählich mehr dem Menschen oder mehr dem Thiere nähern, und die Aehnlichkeit mit beiden kann auf das Mannichfachste gemischt sein. Welche Linien sollen nun in solchem Falle entscheiden, ob eine vernünftige Seele damit verbunden ist oder nicht? Welche Art Aeusseres ist das sichere Zeichen, dass ein solcher Bewohner sich darin befindet? Und doch spricht man, ehe dies geschehen, aufs Gerathewohl von Menschen, und dies wird so lange der Fall sein, als man sich auf gewisse Worte oder Laute verlässt und sich einbildet, die Natur habe feste Arten gebildet, ohne dass man weiss, in welcher Weise dies geschehen. Nach alledem möchte ich noch bemerken, dass in der Antwort: eine missgestaltete Geburt sei ein Ungeheuer, derselbe Fehler wiederkehrt, gegen den man vorher bei Annahme einer Gattung zwischen Thier und Menschen selbst gekämpft hat. Was ist dies Ungeheuer hier (wenn das Wort Ungeheuer überhaupt Etwas bedeutet), als Etwas, was weder Mensch noch Thier ist, aber an beiden Theil hat. Und genau so ist auch der vorerwähnte Wechselbalg. Hieraus erhellt, wie nothwendig man die gewöhnlichen Begriffe von Arten und Wesen zu verlassen hat, wenn man wahrhaft die Natur der Dinge erblicken und sie nach Dem untersuchen will, was man in ihnen so, wie sie sind, entdecken kann, und nicht nach den Einbildungen, die über sie aufgestellt worden sind.[188]

§ 17. (Worte und Arten.) Ich habe dies erwähnt, weil man sich nicht genug davor hüten kann, durch Worte und Arten in deren angewöhntem Sinne das freie Urtheil zu beschränken. Darin liegt ein Haupthinderniss klarer und deutlicher Kenntnisse, insbesondere in Bezug auf Substanzen, und daraus sind für die Wahrheit und Gewissheit viele Streitigkeiten entstanden. Gewöhnt man sich daran, seine Gedanken und Betrachtungen von den Worten unabhängig zu machen, so würde es diesem Uebelstande bei unserem Denken zwar erheblich abhelfen, aber in dem Verkehr mit Anderen würde es doch immer stören, so lange man die Arten und das Wesen derselben für mehr als allgemeine Vorstellungen (was sie nur sind) hält, denen Namen nur gegeben sind, um sie damit zu bezeichnen.

§ 18. (Schluss.) Wo man die Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung irgend welcher von unseren Vorstellungen bemerkt, da ist ein sicheres Wissen, und wo man sicher ist, dass diese Vorstellungen mit den wirklichen Dingen übereinstimmen, da ist sicheres, wirkliches Wissen. Indem ich hier die Kennzeichen von dieser Uebereinstimmung der Vorstellungen mit den wirklichen Dingen dargelegt habe, werde ich gezeigt haben, worin diese Gewissheit, diese wirkliche Gewissheit besteht. Mögen Andere davon halten, was sie wollen, für mich gehörte diese Frage zu denen, deren Lösung mir bis jetzt gefehlt zu haben schien.[189]

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 2, Berlin 1872, S. 177-190.
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