Achtzehntes Kapitel

[92] Hofmeisterleben.


Meine erste Hofmeisterstelle war eine Stunde weit von meinem Wohnorte bei einem elenden Pächter J., eines noch elenderen Dorfes P., und mein Gehalt war fünf Taler Polnisch. Die Armut, Unwissenheit und Roheit der Lebensart, welche hier hausten, waren unbeschreiblich. Der Pächter selbst war ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren, dessen ganzes Gesicht mit Haaren bewachsen war und mit einem schmutzigen, dicken, pechschwarzen Barte endigte; dessen Sprache eine Art Gemurmel und nur den Bauern, mit denen er täglich umging, verständlich war. Er konnte nicht nur kein Hebräisch, sondern auch nicht einmal ein Wort Jüdisch; bloß Russisch (die gewöhnliche Bauernsprache) konnte er sprechen. Man denke sich dazu Frau und Kinder von ebendem Schlage. Ferner die Wohnstube: eine Rauchhütte, kohlschwarz von innen und von außen, ohne Kamin, wo bloß im Dache eine kleine Öffnung zum Ausgange des Rauches angebracht ist, die, sobald man das Feuer ausgehen läßt, sorgfältig zugemacht wird, damit die Hitze nicht herausgehe.

Die Fenster waren kreuzweise übereinandergelegte schmale Streifen von Kienholz mit Papier überzogen. Dieses Gemach war Wohn-, Schenk-, Speise-, Studier- und Schlafstube zugleich. Nun denke man sich, daß diese Stube sehr stark geheizt und der Rauch von Wind und Nässe (wie es im Winter mehrenteils der Fall ist) in die Stube zurückgetrieben, und dieselbe bis zum Ersticken damit angefüllt wird. Hier hängt schwarze Wäsche und andere schmutzige Kleidungsstücke auf den in der Stube der Länge nach angebrachten Stangen, damit das Ungeziefer im Rauche ersticke. Da hängen Würste zum Trocknen, deren Fett den Menschen beständig auf die Köpfe heruntertröpfelt. Dort stehen Zober mit saurem Kohl und roten Rüben (die[93] Hauptspeise der Litauer); in einem Winkel das Wasser zum täglichen Gebrauche und daneben das unreine Wasser. Hier wird Brot geknetet, gekocht, gebacken, die Kuh gemolken usw.

In dieser herrlichen Wohnung sitzen die Bauern auf der bloßen Erde (höher darf man nicht sitzen, wenn man nicht vom Rauche ersticken will), saufen Branntwein und lärmen; in einer Ecke sitzen die Hausleute; hinter dem Ofen aber saß ich mit meinen schmutzigen halbnackenden Schülern und explizierte ihnen aus einer alten zerrissenen Bibel aus dem Hebräischen ins Russisch-Jüdische. Dieses alles machte im ganzen die herrlichste Gruppe von der Welt, die nur von einem Hogarth gezeichnet und von einem Buttler besungen zu werden verdiente.

Man kann sich leicht vorstellen, wie jämmerlich mein Zustand hier sein mußte. Branntwein mußte hier mein einziges Labsal sein, das mir allen meinen Kummer vergessen machte. Hierzu kam noch, daß ein Regiment Russen (die damals auf den Gütern des Fürsten R ... mit aller erdenklichen Grausamkeit wüteten) in dieses Dorf und seine Nachbarschaft gelegt wurden. Das Haus war beständig voll besoffener Russen, die alle möglichen Exzesse begingen, Tische und Bänke zerhieben, die Gläser und Bouteillen den Hausfrauen ins Gesicht schmissen und dergleichen.

Um nur ein einziges Beispiel anzuführen, so kam einst der Russe, der in diesem Hause als Saloge (Schutzmann) lag, dem es aufgetragen war, das Haus vor aller Gewalttätigkeit zu sichern, ganz besoffen nach Hause und forderte zu essen; man stellte ihm eine Schüssel Hirse mit Butter zubereitet vor. Er stieß die Schüssel von sich und schrie: man solle mehr Butter hinzutun. Man brachte ihm ein ganzes Fäßchen mit Butter. Er schrie: man solle ihm noch eine Schüssel geben. Man brachte sie gleich; er schmiß alle Butter hinein und forderte Branntwein. Man brachte ihm eine ganze Bouteille, welche er gleichfalls hineingoß; darauf mußte man ihm Milch, Pfeffer, Salz und[94] Tabak in großer Menge bringen, welches er hineintat und fraß. Nachdem er davon einige Löffel voll gegessen, fing er an, um sich zu hauen, raufte dem Wirt den Bart, gab ihm Faustschläge ins Gesicht, so daß ihm das Blut aus dem Munde herauskam, goß ihm von seinem herrlicher Breie in die Kehle, und wütete so lange, bis er aus Betrunkenheit sich nicht mehr halten konnte und zu Boden fiel. Solche Szenen waren damals in Polen überall sehr gewöhnlich. Wenn eine russische Armee einen Ort passierte, so nahm sie von da bis zu dem nächsten Ort einen Prowodnik (Wegweiser). Anstatt aber denselben vom Bürgermeister oder Dorfschulzen sich geben zu lassen, pflegten sie lieber den ersten den besten, den sie zufälligerweise auf der Straße trafen, zu ergreifen; er mochte übrigens jung oder alt, männlich oder weiblich, gesund oder krank sein, daran lag ihnen nichts, weil sie den Weg (nach speziellen Karten) wohl wußten und nur eine Gelegenheit zur Grausamkeit suchten. Ereignete es sich, daß die aufgefangene Person den Weg nicht wußte, und ihnen nicht den rechten Weg zeigte, so pflegten sie sich doch dadurch nicht irremachen zu lassen und den rechten Weg zu wählen, aber sie prügelten alsdann den armen Prowodnik halb tot, weil er den rechten Weg nicht gewußt hatte!

Auch ich wurde einst als Prowodnik aufgefangen. Ich wußte zwar den rechten Weg nicht, aber zum Glücke traf ich denselben zufälligerweise. Ich kam also mit der bloßen Drohung, daß, wenn ich sie irreführen würde, ich alsdann lebendig geschunden werden sollte (welches den Russen zuzutrauen war), und mit Faustschlägen und Rippenstößen glücklich am gehörigen Orte an.

Meine übrigen Hofmeisterstellen waren mehr oder weniger dieser ähnlich.

In einer derselben ereignete sich eine merkwürdige psychologische Begebenheit, worin ich die Hauptperson war und die in der Folge beschrieben werden soll. Eine Begebenheit von ebender Art, die sich in einer andern ereignete,[95] wovon ich aber nur Augenzeuge und nicht Hauptperson war, muß ich aber hier doch anführen.

Der Hofmeister des nächsten Dorfes nämlich, der ein Nachtwandler war, stand einst des Nachts von seinem Lager auf und ging nach dem Kirchhof dieses Dorfes mit einem Kodex der jüdischen Ritualgesetze in der Hand. Nachdem er da einige Zeit verweilt hatte, kam er wieder nach seinem Lager zurück. Des Morgens stand er auf, ohne sich das mindeste von dem, was in der Nacht vorgefallen war, zu erinnern, und ging bei seinem Koffer, wo dieser Kodex eingeschlossen zu sein pflegte, um sich den ersten Teil, Orach Chajjim genannt, worin er alle Morgen zu lesen pflegte, herauszuholen. Er stutzte aber, da er von vier Teilen, die der Kodex enthält, und wovon jeder apart gebunden war, nur drei derselben liegen fand, da sie doch alle im Koffer eingeschlossen gewesen waren, und daß besonders der Teil Jore dea fehlte.

Da er aber von seiner Krankheit wußte, so suchte er überall danach, bis er endlich auf den Friedhof kam und den Jore dea bei dem Kapitel Hilchot Awelut aufgeschlagen fand. Er hielt dieses für ein böses Omen und kam voller Unruhe nach Hause. Man fragte ihn nach der Ursache dieser Unruhe und er erzählte die vorgefallene Begebenheit mit dem Zusatze: Ach! Gott weiß, wie sich meine arme Mutter befindet; bat sich von seinem Herrn ein Pferd und die Erlaubnis aus, nach der nächsten Stadt (dem Wohnort seiner Mutter) reiten zu dürfen und sich nach ihrem Wohlsein zu erkundigen. Da er den Ort passieren mußte, wo ich Hofmeister war, und ich ihn in voller Bestürzung reiten sah, fragte ich ihn um die Ursache dieser Bestürzung; worauf er mir die vorerwähnte Begebenheit erzählte.

Ich wurde nicht so sehr über die besonderen Umstände derselben, als über das Nachtwandeln überhaupt, wovon ich bis jetzt nichts gewußt hatte, in Verwunderung gesetzt.[96] Jener hingegen versicherte mir, das Nachtwandeln sei sein gewöhnlicher Zufall, der übrigens nichts zu bedeuten hätte, nur der Umstand mit dem Jore dea, Hilchot Awelut mache ihm ein Unglück ahnden. Darauf ritt er fort, kam in seiner Mutter Haus und fand sie beim Nährahmen sitzen. Sie fragte ihn nach der Ursache seines Kommens; er gab ihr zur Antwort, er komme bloß sie zu besuchen, weil er sie schon lange nicht gesehen habe. Nachdem er da wohl ausgeruht hatte, ritt er wieder zurück, seine Unruhe wurde aber dennoch nicht gänzlich gehoben, und der Gedanke an den Jore dea, Hilchot Awelut ging ihm nicht aus dem Kopfe. Den dritten Tag darauf entstand in der Stadt, wo seine Mutter wohnte, eine Feuersbrunst, und diese arme Frau mußte im Brande umkommen. Kaum hörte der Sohn von diesem Brande, so fing er an zu wehklagen, daß seine Mutter so elend umgekommen sei, ritt schleunig nach der Stadt und fand, was ihm geahndet hatte.

Quelle:
Maimon, Salomon: Geschichte des eigenen Lebens (1754–1800). Berlin 1935, S. 92-97.
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Salomon Maimons Lebensgeschichte
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