II. Urteile über das Verhältnis der demokritischen und epikureischen Physik

[268] Wie meine Ansicht sich im allgemeinen zu den frühern verhält, wird in die Augen springen, wenn man die Urteile der Alten über das Verhältnis der demokritischen und epikureischen Physik flüchtig durchmustert.

[268] Posidonius der Stoiker, Nikolaus und Sotion werfen dem Epikur vor, er habe die demokritische Lehre von den Atomen und die des Aristipp vom Vergnügen für sein Eigentum ausgegeben. Cotta der Akademiker fragt bei Cicero: »Was wäre wohl in der Physik des Epikur, das nicht dem DemokritA10 gehörte? Er verändert zwar einiges, das meiste aber spricht er jenem nach.« So sagt Cicero selbst: »In der Physik, in der Epikur am meisten prahlt, ist er ein vollkommener Fremdling. Das meiste gehört dem Demokrit; wo er von ihm abweicht, wo er verbessern will, da verdirbt und verschlechtert er.« Obgleich aber von vielen Seiten dem Epikur Schmähungen gegen den Demokrit vorgeworfen werden: so behauptet dagegen Leonteus nach Plutarch, EpikurA11 habe den DemokritA12 geehrt, weil dieserA13 vor ihm zur wahren Lehre sich bekannt, weil erA14 früher die Prinzipien der Natur entdeckt habe. In der Schrift De placitis philosophorum wird Epikur ein nach Demokrit Philosophierender genannt. Plutarch in seinem Kolotes geht weiter. Indem er den Epikur der Reihe nach mit Demokrit, Empedokles, Parmenides, Plato, Sokrates, Stilpo, den Kyrenaikern und Akademikern vergleicht, sucht er das Resultat zu gewinnen, »Epikur habe aus der ganzen griechischen Philosophie sich das Falsche zugeeignet, das Wahre nicht verstanden«, wie auch dieA15 Abhandlung De eo, quod secundum Epicurum non beate vivi possit von feindseligen Insinuationen ähnlicher Art angefüllt ist.

Diese ungünstige Ansicht der altern Schriftsteller bleibt dieselbe bei den Kirchenvätern. Ich führe in der Anmerkung nur eine Stelle des Clemens Alexandrinus an, eines Kirchenvaters, der in bezug auf Epikur vorzugsweise Erwähnung verdient, weil er die Warnung des Apostels Paulus vor der Philosophie überhaupt in eine Warnung vor epikureischer Philosophie umdeutet, als welche nicht einmal über Vorsehung u.dgl. phantasiert habe. Wie geneigt man aber überhaupt war, dem Epikur Plagiate zur Last zu legen, zeigt am auffallendsten Sextus Empiricus, der einige ganz ungehörige Stellen aus Homer und Epicharmus zu Hauptquellen epikureischer Philosophie umstempeln will.

Daß die neuern Schriftsteller im ganzen ebenfalls den Epikur, soweit er Naturphilosoph, zu einem bloßen Plagiarius des Demokrit machen, ist bekannt. Ihr Urteil im allgemeinen repräsentiere hier ein Ausspruch von Leibniz: »Nous ne savons presque de ce grand homme« (Démocrite), »que ce qu'Epicure en a emprunté, qui n'était pas capable d'en prendre toujours[269] le meilleur«. Wenn also Cicero den Epikur die demokritische Lehre verschlechtern läßt, wobei ihm wenigstens der Wille bleibt, sie zu verbessern, und das Auge, ihre Mängel zu sehen; wenn Plutarch ihm Inkonsequenz und eine prädeterminierte Neigung für das Schlechtere zuschreibt, also auch seinen Willen verdächtigt: so spricht ihm Leibniz sogar die Fähigkeit ab, den Demokrit auch nur geschickt zu exzerpieren.

Alle aber kommen darin überein, daß Epikur seine Physik von Demokrit entlehnt habe.

A10

von Marx korrigiert aus: Epikur

A11

von Marx korrigiert aus: er (Epikur)

A12

von Marx korrigiert aus: ihn (den Demokrit)

A13

von Marx korrigiert aus: er

A14

nach »er« von Marx gestrichen: (Demokrit)

A15

von Marx korrigiert aus: seine

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1968, Band 40, S. 268-270.
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