Dritter Abschnitt.
Die Sinne.

[19] Frage: In dem sūtra wird gelehrt: »Es sind sechs Sinne.« Nämlich:

Auge, Ohr, Nase, Zunge, Leib (kāya), Verstand (manas) sind die sechs Sinne. Diese Sinne, Auge usw., gehen auf die sechs Sinnesgebiete (gocara) des rūpa (visuelle Erscheinung) usw. (III. 1.)

Hier bedeutet »Auge« den inneren Sinn, »rūpa« bedeutet »äußeres Gebiet«. Das Auge kann rūpa sehen usw. bis »manas« ist innerer Sinn, »dharma« (Objekt) ist äußeres Gebiet; manas kann die dharmas erkennen.

Antwort: Es ist nicht so. Weshalb?

Das Auge kann eben seine eigene1 Substanz nicht selbst sehen. Wenn es nicht sich selbst sehen kann, wie sieht es die übrigen Dinge? (III. 2.)

Das Auge kann nicht sich selbst sehen. Weshalb? Wie eine Lampe sich selbst beleuchten und anderes beleuchten kann, so könnte auch das Auge, wenn es die Eigenschaft des Sehens hat, sich selbst sehen und könnte anderes sehen. Aber tatsächlich ist es nicht so. Deshalb wird im śloka gelehrt: »Wenn das Auge nicht sich selbst sieht, wie kann es die übrigen Dinge sehen?«

Frage: Obwohl das Auge nicht sich selbst sehen kann, so kann es doch anderes sehen; wie das Feuer anderes brennen, aber nicht sich selbst brennen kann.

Antwort:

Das Beispiel des Feuers kann eben nicht das Auge (und) das Sehen der Objekte (dharma) feststellen (eig. »erreichen«). (Die) schon zusammengefaßte (Erörterung) des Gegangenen, noch nicht Gegangenen, Gehenden beantwortet diese Sache. (III. 3.)[20]

Obwohl ihr das Beispiel des Feuers anführt, so kann es doch nicht das Auge (und) das Sehen der dharmas feststellen. Diese Sache ist im Abschnitt über das Gehen2 dargelegt (eig. »beantwortet«) worden. Wie in dem schon Gegangenen kein Gehen, in dem noch nicht Gegangenen kein Gehen, in dem (jetzt) Gehenden kein Gehen ist, so3 ist in dem gebrannt habenden, in dem noch nicht gebrannt habenden, in dem (jetzt) Brennenden überall kein Brennen; so ist in dem (schon) Gesehenen, in dem noch nicht Gesehenen, in dem jetzigen Sehen überall kein Sehen vorhanden. Ferner:

Wenn das Sehen noch nicht sehend ist, so heißt es nicht »Sehen«; aber (wenn man) sagt: »Das Sehen kann sehen«, so ist (auch) das nicht richtig. (III. 4.)

Das Auge, (wenn es) dem rūpa noch nicht entspricht, dann kann es nicht sehen; zu solcher Zeit heißt es nicht »Sehen«. Dadurch, daß es dem rūpa entspricht, heißt es »Sehen«. Deshalb wird in dem śloka gelehrt: »Wenn es noch nicht sehend ist, ist nicht Sehen«. Wieso? (Nur) durch Sehen kann (man) sehen. Ferner: an beiden Orten zusammen ist nicht Sehen. (Weshalb?)4

Das Sehen kann nicht sehen, das Nicht-Sehen auch sieht nicht; wenn das Sehen widerlegt ist, so ist der Seher widerlegt. (III. 5.)

Das Sehen kann nicht, sehen, wegen des früher gelehrten Fehlers. Das Nicht-Sehen auch sieht nicht, wegen seiner Eigenschaft des Nicht-Sehens. Wenn die Eigenschaft des Nicht-Sehens (da ist), wie kann Sehen (sein), da der Zustand (dharma) des Sehens nicht ist? Der Seher auch ist nicht. Weshalb? Wenn getrennt vom Sehen der Seher ist, dann könnte auch ein Augenloser durch die übrigen Sinne sehen. Wenn man durch Sehen sieht, dann ist in dem Sehen die Eigenschaft des Sehens. Der Seher hat nicht die Eigenschaft des Sehens. Deshalb ist in dem śloka gelehrt: »Wenn das Sehen widerlegt ist, so ist auch der Seher widerlegt.« Ferner:

Getrennt vom Sehen und nicht getrennt vom Sehen ist der Seher nicht zu erreichen. Da der Seher nicht ist, wie ist das Sehen und das Sichtbare? (III. 6.)[21]

Wenn das Sehen ist, so wird der Seher nicht erreicht. Wenn Sehen nicht ist, dann auch wird der Seher nicht erreicht. Da der Seher nicht ist, wie ist das Sehen (und) das Sichtbare? Wenn der Seher nicht ist, wer kann das Sehen anwenden (und) die äußeren Erscheinungen (rūpa) unterscheiden? Deshalb wird in dem śloka gelehrt: »Weil der Seher nicht ist, wie ist das Sehen (und) das Sichtbare?« Ferner:

Da das Sehen (und) das Sichtbare nicht ist, so sind nicht die vier Zustände (dharma) des Bewußtseins (vijñāna) usw. Wie werden dann die vier nidānas, upādāna usw., möglich sein? (III. 7.)

Da die dharmas des Sehens (und) des Sichtbaren nicht sind, so sind Bewußtsein (vijñāna), Berührung (sparśa), Empfindung (vedanā), Verlangen (tṛṣṇā): diese vier dharmas ausnahmslos sind nicht. Weil Verlangen (usw.)5 nicht ist, so sind die vier, upādāna usw.6 (nicht, und auch) eine Unterscheidung der zwölf Glieder ist nicht. Ferner:

Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, der Ton und der Hörer sollen in diesem Sinne erkannt werden: alles zusammen ist gleich dem oben Gelehrten. (III. 8.)

Wie das Sichtbare (und) das Sehen leer, abhängig von den Bedingungen (pratyaya) (und) deswegen nicht in Wahrheit ist, so werden auch die übrigen fünf Sinne, Hören usw., sowie die fünf Sinnesgebiete (gocara), Ton usw., als dem Sehen und Sichtbaren gleich erkannt werden. Wegen der Bedeutungsgleichheit werden sie nicht besonders erklärt (eig. »gelehrt«).

1

Korrektur von TE.

2

2. Abschnitt.

3

TE.: »wie«.

4

Zusatz von TE.

5

Zusatz von TE.

6

bhava, jāti, jarā-maraṇa.

Quelle:
Die mittlere Lehre des Nāgārjuna. Heidelberg 1912, S. 19-22.
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