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[609] Die menschliche Seele und ihre Grenzen, der bisher überhaupt erreichte Umfang menschlicher innerer Erfahrungen, die Höhen, Tiefen und Fernen dieser Erfahrungen, die ganze bisherige Geschichte der Seele und ihre noch unausgetrunkenen Möglichkeiten: das ist für einen gebornen Psychologen und Freund der »großen Jagd« das vorbestimmte Jagdbereich. Aber wie oft muß er sich verzweifelt sagen: »ein einzelner! ach, nur ein einzelner! und dieser große Wald und Urwald!« Und so wünscht er sich einige hundert Jagdgehilfen und feine gelehrte Spürhunde, welche er in die Geschichte der menschlichen Seele treiben könnte, um dort sein Wild zusammenzutreiben. Umsonst: er erprobt es immer wieder, gründlich und bitterlich, wie schlecht zu allen Dingen, die gerade seine Neugierde reizen, Gehilfen und Hunde zu finden sind. Der Übelstand, den es hat, Gelehrte auf neue und gefährliche Jagdbereiche auszuschicken, wo Mut, Klugheit, Feinheit in jedem Sinne nottun, liegt darin, daß sie gerade dort nicht mehr brauchbar sind, wo die »große Jagd«, aber auch die große Gefahr beginnt – gerade dort verlieren sie ihr Spürauge und ihre Spürnase. Um zum Beispiel zu erraten und festzustellen, was für eine Geschichte bisher das Problem von Wissen und Gewissen in der Seele der homines religiosi gehabt hat, dazu müßte einer vielleicht selbst so tief, so verwundet, so ungeheuer sein, wie es das intellektuelle Gewissen Pascals war – und dann bedürfte es immer noch jenes ausgespannten Himmels von heller, boshafter Geistigkeit, welcher von oben herab dies Gewimmel von gefährlichen und schmerzlichen Erlebnissen zu übersehn, zu ordnen, in Formeln zu zwingen vermöchte. – Aber wer täte mir diesen Dienst! Aber wer hätte Zeit, auf solche Diener zu warten! – sie wachsen ersichtlich zu selten, sie sind zu allen Zeiten so unwahrscheinlich! Zuletzt muß man alles selber tun, um selber einiges zu wissen: das heißt, man hat viel zu tun! – Aber eine Neugierde meiner Art bleibt nun einmal das angenehmste aller Laster – Verzeihung! ich wollte sagen:[609] die Liebe zur Wahrheit hat ihren Lohn im Himmel und schon auf Erden. –


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Der Glaube, wie ihn das erste Christentum verlangt und nicht selten erreicht hat, inmitten einer skeptischen und südlich-freigeisterischen Welt, die einen jahrhundertelangen Kampf von Philosophenschulen hinter sich und in sich hatte, hinzugerechnet die Erziehung zur Toleranz, welche das imperium Romanum gab – dieser Glaube ist nicht jener treuherzige und bärbeißige Untertanen-Glaube, mit dem etwa ein Luther oder ein Cromwell oder sonst ein nordischer Barbar des Geistes an ihrem Gotte und Christentum gehangen haben; viel eher schon jener Glaube Pascals, der auf schreckliche Weise einem dauernden Selbstmorde der Vernunft ähnlich sieht – einer zähen langlebigen wurmhaften Vernunft, die nicht mit einem Male und einem Streiche totzumachen ist. Der christliche Glaube ist von Anbeginn Opferung: Opferung aller Freiheit, alles Stolzes, aller Selbstgewißheit des Geistes zugleich Verknechtung und Selbst-Verhöhnung, Selbst-Verstümmelung. Es ist Grausamkeit und religiöser Phönizismus in diesem Glauben, der einem mürben, vielfachen und vielverwöhnten Gewissen zugemutet wird: seine Voraussetzung ist, daß die Unterwerfung des Geistes unbeschreiblich wehetut, daß die ganze Vergangenheit und Gewohnheit eines solchen Geistes sich gegen das absurdissimum wehrt, als welches ihm der »Glaube« entgegentritt. Die modernen Menschen, mit ihrer Abstumpfung gegen alle christliche Nomenklatur, fühlen das Schauerlich-Superlativische nicht mehr nach, das für einen antiken Geschmack in der Paradoxie der Formel »Gott am Kreuze« lag. Es hat bisher noch niemals und nirgendswo eine gleiche Kühnheit im Umkehren, etwas gleich Furchtbares, Fragendes und Fragwürdiges gegeben wie diese Formel: sie verhieß eine Umwertung aller antiken Werte. – Es ist der Orient, der tiefe Orient, es ist der orientalische Sklave, der auf diese Weise an Rom und seiner vornehmen und frivolen Toleranz, am römischen »Katholizismus« des Glaubens Rache nahm – und immer war es nicht der Glaube, sondern die Freiheit vom Glauben, jene halb stoische und lächelnde Unbekümmertheit um den Ernst des Glaubens, was die Sklaven an ihren Herrn, gegen ihre Herrn[610] empört hat. Die »Aufklärung« empört: der Sklave nämlich will Unbedingtes, er versteht nur das Tyrannische, auch in der Moral, er liebt wie er haßt, ohne Nuance bis in die Tiefe, bis zum Schmerz, bis zur Krankheit, – sein vieles verborgenes Leiden empört sich gegen den vornehmen Geschmack, der das Leiden zu leugnen scheint. Die Skepsis gegen das Leiden, im Grunde nur eine Attitude der aristokratischen Moral, ist nicht am wenigsten auch an der Entstehung des letzten großen Sklaven-Aufstandes beteiligt, welcher mit der französischen Revolution begonnen hat.


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Wo nur auf Erden bisher die religiöse Neurose aufgetreten ist, finden wir sie verknüpft mit drei gefährlichen Diät-Verordnungen: Einsamkeit, Fasten und geschlechtlicher Enthaltsamkeit – doch ohne daß hier mit Sicherheit zu entscheiden wäre, was da Ursache, was Wirkung sei, und ob hier überhaupt ein Verhältnis von Ursache und Wirkung vorliege. Zum letzten Zweifel berechtigt, daß gerade zu ihren regelmäßigsten Symptomen, bei wilden wie bei zahmen Völkern, auch die plötzlichste ausschweifendste Wollüstigkeit gehört, welche dann, ebenso plötzlich, in Bußkrampf und Welt- und Willens-Verneinung umschlägt: beides vielleicht als maskierte Epilepsie deutbar? Aber nirgendswo sollte man sich der Deutungen mehr entschlagen: um keinen Typus herum ist bisher eine solche Fülle von Unsinn und Aberglauben aufgewachsen, keiner scheint bisher die Menschen, selbst die Philosophen, mehr interessiert zu haben – es wäre an der Zeit, hier gerade ein wenig kalt zu werden, Vorsicht zu lernen, besser noch: wegzusehn, wegzugehn. – Noch im Hintergrunde der letztgekommnen Philosophie, der Schopenhauerschen, steht, beinahe als das Problem an sich, dieses schauerliche Fragezeichen der religiösen Krisis und Erweckung. Wie ist Willensverneinung möglich? wie ist der Heilige möglich? – das scheint wirklich die Frage gewesen zu sein, bei der Schopenhauer zum Philosophen wurde und anfing. Und so war es eine echt Schopenhauersche Konsequenz, daß sein überzeugtester Anhänger (vielleicht auch sein letzter, was Deutschland betrifft –), nämlich Richard Wagner, das eigne Lebenswerk gerade hier zu Ende[611] brachte und zuletzt noch jenen furchtbaren und ewigen Typus als Kundry auf der Bühne vorführte, type vécu, wie er leibt und lebt; zu gleicher Zeit, wo die Irrenärzte fast aller Länder Europas einen Anlaß hatten, ihn aus der Nähe zu studieren, überall, wo die religiöse Neurose – oder, wie ich es nenne, »das religiöse Wesen« – als »Heilsarmee« ihren letzten epidemischen Ausbruch und Aufzug gemacht hat. – Fragt man sich aber, was eigentlich am ganzen Phänomen des Heiligen den Menschen aller Art und Zeit, auch den Philosophen, so unbändig interessant gewesen ist: so ist es ohne allen Zweifel der ihm anhaftende Anschein des Wunders, nämlich der unmittelbaren Aufeinanderfolge von Gegensätzen, von moralisch entgegengesetzt gewerteten Zuständen der Seele: man glaubte hier mit Händen zu greifen, daß aus einem »schlechten Menschen« mit einem Male ein »Heiliger«, ein guter Mensch werde. Die bisherige Psychologie litt an dieser Stelle Schiffbruch: sollte es nicht vornehmlich darum geschehen sein, weil sie sich unter die Herrschaft der Moral gestellt hatte, weil sie an die moralischen Wert-Gegensätze selbst glaubte, und diese Gegensätze in den Text und Tatbestand hineinsah, hineinlas, hineindeutete? – Wie? Das »Wunder« nur ein Fehler der Interpretation? Ein Mangel an Philologie? –


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Es scheint, daß den lateinischen Rassen ihr Katholizismus viel innerlicher zugehört, als uns Nordländern das ganze Christentum überhaupt; und daß folglich der Unglaube in katholischen Ländern etwas ganz andres zu bedeuten hat als in protestantischen – nämlich eine Art Empörung gegen den Geist der Rasse, während er bei uns eher eine Rückkehr zum Geist (oder Ungeist –) der Rasse ist. Wir Nordländer stammen unzweifelhaft aus Barbaren-Rassen, auch in Hinsicht auf unsre Begabung zur Religion: wir sind schlecht für sie begabt. Man darf die Kelten ausnehmen, welche deshalb auch den besten Boden für die Aufnahme der christlichen Infektion im Norden abgegeben haben – in Frankreich kam das christliche Ideal, soweit es nur die blasse Sonne des Nordens erlaubt hat, zum Ausblühen. Wie fremdartig fromm sind unserm Geschmack selbst diese letzten französischen Skeptiker noch, sofern etwas keltisches Blut in ihrer Abkunft[612] ist! Wie katholisch, wie undeutsch riecht uns Auguste Comtes Soziologie mit ihrer römischen Logik der Instinkte! Wie jesuitisch jener liebenswürdige und kluge Cicerone von Port-Royal, Sainte-Beuve, trotz all seiner Jesuiten-Feindschaft! Und gar Ernest Renan: wie unzugänglich klingt uns Nordländern die Sprache solch eines Renan, in dem alle Augenblicke irgendein Nichts von religiöser Spannung seine in feinerem Sinne wollüstige und bequem sich bettende Seele um ihr Gleichgewicht bringt! Man spreche ihm einmal diese schönen Sätze nach – und was für Bosheit und Übermut regt sich sofort in unsrer wahrscheinlich weniger schönen und härteren, nämlich deutscheren Seele als Antwort! – »disons donc hardiment que la religion est un produit de l'homme normal, que l'homme est le plus dans le vrai quand il est le plus religieux et le plus assuré d'une destinée infinie... C'est quand il est bon qu'il veut que la vertu corresponde à un ordre éternel, c'est quand il contemple les choses d'une manière désintéressée qu'il trouve la mort révoltante et absurde. Comment ne pas supposer que c'est dans ces moments-là, que l'homme voit le mieux?...« Diese Sätze sind meinen Ohren und Gewohnheiten so sehr antipodisch, daß, als ich sie fand, mein erster Ingrimm daneben schrieb »la niaiserie religieuse par excellence!« – bis mein letzter Ingrimm sie gar noch liebgewann, diese Sätze mit ihrer auf den Kopf gestellten Wahrheit! Es ist so artig, so auszeichnend, seine eignen Antipoden zu haben!


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Das, was an der Religiosität der alten Griechen staunen macht, ist die unbändige Fülle von Dankbarkeit, welche sie ausströmt – es ist eine sehr vornehme Art Mensch, welche so vor der Natur und vor dem Leben steht! – Später, als der Pöbel in Griechenland zum Übergewicht kommt, überwuchert die Furcht auch in der Religion; und das Christentum bereitete sich vor. –


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Die Leidenschaft für Gott: es gibt bäurische, treuherzige und zudringliche Arten, wie die Luthers – der ganze Protestantismus entbehrt der südlichen delicatezza. Es gibt ein orientalisches Außersichsein[613] darin, wie bei einem unverdient begnadeten oder erhobnen Sklaven, zum Beispiel bei Augustin, der auf eine beleidigende Weise aller Vornehmheit der Gebärden und Begierden ermangelt. Es gibt frauenhafte Zärtlichkeit und Begehrlichkeit darin, welche schamhaft und unwissend nach einer unio mystica et physica drängt: wie bei Madame de Guyon. In vielen Fällen erscheint sie wunderlich genug als Verkleidung der Pubertät eines Mädchens oder Jünglings; hier und da selbst als Hysterie einer alten Jungfer, auch als deren letzter Ehrgeiz – die Kirche hat das Weib schon mehrfach in einem solchen Falle heiliggesprochen.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 609-614.
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