[11]

[473] »– Maledetto colui

che contrista un spirto immortal!«

Manzoni (Conte di Carmagnola, II. Akt)

[986]


Innerhalb einer Herde, jeder Gemeinde, also inter pares, hat die Überschätzung der Wahrhaftigkeit guten Sinn. Sich nicht betrügen lassen – und folglich, als persönliche Moral, selber nicht betrügen! eine gegenseitige Verpflichtung unter gleichen! Nach außen hin verlangt die Gefahr und Vorsicht, daß man auf der Hut vor Betrug sei: als psychologische Vorbedingung dazu auch innen. Mißtrauen als Quelle der Wahrhaftigkeit.

[278]


Die Annahme des einen Subjekts ist vielleicht nicht notwendig; vielleicht ist es ebensogut erlaubt, eine Vielheit von Subjekten anzunehmen, deren Zusammenspiel und Kampf unserem Denken und überhaupt unserem Bewußtsein zugrunde liegt. Eine Art Aristokratie von »Zellen«, in denen die Herrschaft ruht? Gewiß von pares, welche miteinander ans Regieren gewöhnt sind und zu befehlen verstehen?

Meine Hypothesen: Das Subjekt als Vielheit.

Der Schmerz intellektuell und abhängig vom Urteil »schädlich«: projiziert.

Die Wirkung immer »unbewußt«: die erschlossene und vorgestellte Ursache wird projiziert, folgt der Zeit nach.

Die Lust ist eine Art des Schmerzes.

Die einzige Kraft, die es gibt, ist gleicher Art wie die des Willens: ein Kommandieren an andere Subjekte, welche sich daraufhin verändern.[473]

Die beständige Vergänglichkeit und Flüchtigkeit des Subjekts. »Sterbliche Seele«.

Die Zahl als perspektivische Form.

[490]


In betreff des Gedächtnisses muß man umlernen; hier steckt die Hauptverführung, eine »Seele« anzunehmen, welche zeitlos reproduziert, wiedererkennt usw. Aber das Erlebte lebt fort »im Gedächtnis«; daß es »kommt«, dafür kann ich nichts, der Wille ist dafür untätig wie beim Kommen jedes Gedankens. Es geschieht etwas, dessen ich mir bewußt werde: jetzt kommt etwas Ähnliches – wer ruft es? weckt es?

[502]


Scheinbar entgegengesetzt die zwei Züge, welche die modernen Europäer kennzeichnen: das Individualisti sche und die Forderung gleicher Rechte: das verstehe ich endlich. Nämlich, das Individuum ist eine äußerst verwundbare Eitelkeit – diese fordert, bei ihrem Bewußtsein wie schnell sie leidet, daß jeder andere ihm gleichgestellt gelte, daß er nur inter pares sei. Damit ist eine gesellschaftliche Rasse charakterisiert, in welcher tatsächlich die Begabungen und Kräfte nicht erheblich auseinandergehn. Der Stolz, welcher Einsamkeit und wenige Schätzer will, ist ganz außer Verständnis; die ganz »großen« Erfolge gibt es nur durch Massen, ja man begreift es kaum noch, daß ein Massen-Erfolg immer eigentlich ein kleiner Erfolg ist: weil pulchrum est paucorum hominum.

Alle Moralen wissen nichts von »Rangordnung« der Menschen; die Rechtslehrer nichts vom Gemeinde-Gewissen. Das Individual-Prinzip lehnt die ganz großen Menschen ab und verlangt, unter ungefähr gleichen, das feinste Auge und die schnellste Herauserkennung eines Talentes; und weil jeder etwas von Talenten hat, in solchen späten und zivilisierten Kulturen – also erwarten kann, sein Teil Ehre zurückzubekommen –, deshalb findet heute ein Herausstreichen der kleinen Verdienste statt wie niemals noch: es gibt dem Zeitalter einen Anstrich von grenzenloser Billigkeit. Seine Unbilligkeit besteht in einer Wut ohne Grenzen nicht gegen die Tyrannen und Volksschmeichler, auch in den Künsten, sondern gegen die vornehmen Menschen, welche das Lob der vielen verachten. Die Forderung gleicher Rechte (z. B. über alles und jeden zu Gericht sitzen zu dürfen) ist anti-aristokratisch.[474]

Ebenso fremd ist ihm das verschwundene Individuum, das Untertauchen in einen großen Typus, das Nicht-Person-sein-wollen: worin die Auszeichnung und der Eifer vieler hohen Menschen früher bestand (die größten Dichter darunter); oder »Stadt-sein« wie in Griechenland; Jesuitismus, preußisches Offiziers-Korps und Beamtentum; oder Schüler-sein und Fortsetzer großer Meister: wozu ungesellschaftliche Zustände und der Mangel der kleinen Eitelkeit nötig ist.

[783]


Ausgangspunkt vom Leibe und der Physiologie: warum? – Wir gewinnen die richtige Vorstellung von der Art unsrer Subjekt-Einheit, nämlich als Regenten an der Spitze eines Gemeinwesens (nicht als »Seelen« oder »Lebenskräfte«), insgleichen von der Abhängigkeit dieser Regenten von den Regierten und den Bedingungen der Rangordnung und Arbeitsteilung als Ermöglichung zugleich der Einzelnen und des Ganzen. Ebenso wie fortwährend die lebendigen Einheiten entstehen und sterben und wie zum »Subjekt« nicht Ewigkeit gehört; ebenso daß der Kampf auch in Gehorchen und Befehlen sich ausdrückt und ein fließen des Machtgrenzen-bestimmen zum Leben gehört. Die gewisse Unwissenheit, in der der Regent gehalten wird über die einzelnen Verrichtungen und selbst Störungen des Gemeinwesens, gehört mit zu den Bedingungen, unter denen regiert werden kann. Kurz, wir gewinnen eine Schätzung auch für das Nichtwissen, das Im-großen-und-groben-Sehen, das Vereinfachen und Fälschen, das Perspektivische. Das Wichtigste ist aber: daß wir den Beherrscher und seine Untertanen als gleicher Art verstehn, alle fühlend, wollend, denkend – und daß wir überall, wo wir Bewegung im Leibe sehen oder erraten, auf ein zugehöriges subjektives, unsichtbares Leben hinzuschließen lernen. Bewegung ist eine Symbolik für das Auge; sie deutet hin, daß etwas gefühlt, gewollt, gedacht worden ist.

Das direkte Befragen des Subjekts über das Subjekt und alle Selbst-Bespiegelung des Geistes hat darin seine Gefahren, daß es für seine Tätigkeit nützlich und wichtig sein könnte, sich falsch zu interpretieren. Deshalb fragen wir den Leib und lehnen das Zeugnis der verschärften Sinne ab: wenn man will, wir sehen zu, ob nicht die Untergebenen selber mit uns in Verkehr treten können.

[492]
[475]

Das Urteil – das ist der Glaube: »Dies und dies ist so.« Also steckt im Urteil das Geständnis, einem »identischen Fall« begegnet zu sein: es setzt also Vergleichung voraus, mit Hilfe des Gedächtnisses. Das Urteil schafft es nicht, daß ein identischer Fall da zu sein scheint. Vielmehr es glaubt einen solchen wahrzunehmen; es arbeitet unter der Voraussetzung, daß es überhaupt identische Fälle gibt. Wie heißt nun jene Funktion, die viel älter, früher arbeitend sein muß, welche an sich ungleiche Fälle ausgleicht und verähnlicht? Wie heißt jene zweite, welche auf Grund dieser ersten usw. »Was gleiche Empfindungen erregt, ist gleich«: wie aber heißt das, was Empfindungen gleich macht, als gleich »nimmt«? – Es könnte gar keine Urteile geben, wenn nicht erst innerhalb der Empfindungen eine Art Ausgleichung geübt wäre: Gedächtnis ist nur möglich mit einem beständigen Unterstreichen des schon Gewohnten, Erlebten. – Bevor geurteilt wird, muß der Prozeß der Assimilation schon getan sein: also liegt auch hier eine intellektuelle Tätigkeit vor, die nicht ins Bewußtsein fällt, wie beim Schmerz infolge einer Verwundung. Wahrscheinlich entspricht allen organischen Funktionen ein inneres Geschehen, also ein Assimilieren, Ausscheiden, Wachsen usw.

Wesentlich: vom Leib ausgehen und ihn als Leitfaden zu benutzen. Er ist das viel reichere Phänomen, welches deutlichere Beobachtung zuläßt. Der Glaube an den Leib ist besser festgestellt als der Glaube an den Geist.

»Eine Sache mag noch so stark geglaubt werden: darin liegt kein Kriterium der Wahrheit.« Aber was ist Wahrheit? Vielleicht eine Art Glaube, welche zur Lebensbedingung geworden ist? Dann freilich wäre die Stärke ein Kriterium, z. B. in betreff der Kausalität.

[532]


Die Logik ist geknüpft an die Bedingung: gesetzt, es gibt identische Fälle. Tatsächlich, damit logisch gedacht und geschlossen werde, muß diese Bedingung erst als erfüllt fingiert werden. Das heißt: der Wille zur logischen Wahrheit kann erst sich vollziehen, nachdem eine grundsätzliche Fälschung alles Geschehens angenommen ist. Woraus sich ergibt, daß hier ein Trieb waltet, der beider Mittel fähig ist, zuerst der Fälschung und dann der Durchführung seines Gesichtspunktes: die Logik stammt nicht aus dem Willen zur Wahrheit.

[512]
[476]

Die Optik aller organischen Funktionen, aller stärksten Lebensinstinkte: die irrtumwollende Kraft in allem Leben; der Irrtum als Voraussetzung selbst des Denkens. Bevor »gedacht« wird, muß schon »gedichtet« worden sein; das Zurechtbilden zu identischen Fällen, zur Scheinbarkeit des gleichen ist ursprünglicher als das Erkennen des gleichen.

[544b]


Es ist nur eine Sache der Kraft: alle krankhaften Züge des Jahrhunderts haben, aber ausgleichen in einer überreichen plastischen wiederherstellenden Kraft. Der starke Mensch.

[1014] [477]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 473-478.
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