[12]

[478] Inwiefern die Selbstvernichtung der Moral noch ein Stück ihrer eigenen Kraft ist. Wir Europäer haben das Blut solcher in uns, die für ihren Glauben gestorben sind; wir haben die Moral furchtbar und ernst genommen, und es ist nichts, was wir ihr nicht irgendwie geopfert haben. Andrerseits: unsre geistige Feinheit ist wesentlich durch Gewissens-Vivisektion erreicht worden. Wir wissen das »Wohin?« noch nicht, zu dem wir getrieben werden, nachdem wir uns dergestalt von unsrem alten Boden abgelöst haben. Aber dieser Boden selbst hat uns die Kraft angezüchtet, die uns jetzt hinaustreibt in die Ferne, ins Abenteuer, durch die wir ins Uferlose, Unerprobte, Unentdeckte hinausgestoßen werden – es bleibt uns keine Wahl, wir müssen Eroberer sein, nachdem wir kein Land mehr haben, wo wir heimisch sind, wo wir »erhalten« möchten. Ein verborgenes Ja treibt uns dazu, das stärker ist als alle unsre Neins. Unsre Stärke selbst duldet uns nicht mehr im alten morschen Boden: wir wagen uns in die Weite, wir wagen uns daran: die Welt ist noch reich und unentdeckt, und selbst Zugrundegehn ist besser als halb und giftig werden. Unsre Stärke selbst zwingt uns aufs Meer, dorthin, wo alle Sonnen bisher untergegangen sind: wir wissen um eine neue Welt...

[405]


Es gibt gar keinen Egoismus, der bei sich stehenbliebe und nicht übergriffe, – es gibt folglich jenen »erlaubten«, »moralisch indifferenten« Egoismus gar nicht, von dem ihr redet.

»Man fördert sein Ich stets auf Kosten des andern«; »Leben lebt immer auf Unkosten andern Lebens« – wer das nicht begreift, hat bei sich auch nicht den ersten Schritt zur Redlichkeit getan.

[369]


Kritik der neueren Philosophie: fehlerhafter Ausgangspunkt, als ob es »Tatsachen des Bewußtseins« gäbe – und keinen Phänomenalismus in der Selbst-Beobachtung.

[475]
[478]

Unsre neue »Freiheit«. – Welches Freiheitsgefühl liegt darin, zu empfinden, wie wir befreiten Geister empfinden, daß wir nicht in ein System von »Zwecken« eingespannt sind! Insgleichen, daß der Begriff »Lohn« und »Strafe« nicht im Wesen des Daseins seinen Sitz hat! Insgleichen, daß die gute und die böse Handlung nicht an sich, sondern nur in der Perspektive der Erhaltungs-Tendenzen gewisser Arten von menschlichen Gemeinschaften aus gut und böse zu nennen ist! Insgleichen, daß unsre Abrechnungen über Lust und Schmerz keine kosmische, geschweige denn eine metaphysische Bedeutung haben! (– jener Pessimismus, der Pessimismus des Herrn von Hartmann, der Lust und Unlust des Daseins selbst auf die Waagschale zu setzen sich anheischig macht, mit seiner willkürlichen Einsperrung in das vorkopernikanische Gefängnis und Gesichtsfeld, würde etwas Rückständiges und Rückfälliges sein, falls er nicht nur ein schlechter Witz eines Berliners ist.)

[789]


Hegel: seine populäre Seite die Lehre vom Krieg und den großen Männern. Das Recht ist bei dem Siegreichen: er stellt den Fortschritt der Menschheit dar. Versuch, die Herrschaft der Moral aus der Geschichte zu beweisen.

Kant: ein Reich der moralischen Werte, uns entzogen, unsichtbar, wirklich.

Hegel: eine nachweisbare Entwicklung, Sichtbarwerdung des moralischen Reiches.

Wir wollen uns weder auf die Kantische noch Hegelsche Manier betrügen lassen – wir glauben nicht mehr, wie sie, an die Moral und haben folglich auch keine Philosophien zu gründen, damit die Moral recht behalte. Sowohl der Kritizismus als der Historizismus hat für uns nicht darin seinen Reiz – nun, welchen hat er denn?–

[415]


An sich hat eine Religion nichts mit der Moral zu tun: aber die beiden Abkömmlinge der jüdischen Religion sind beide wesentlich moralische Religionen – solche, die Vorschriften darüber geben, wie gelebt werden soll und mit Lohn und Strafe ihren Forderungen Gehör schaffen.

[146]
[479]

Die Frage nach der Herkunft unsrer Wertschätzungen und Gütertafeln fällt ganz und gar nicht mit deren Kritik zusammen, wie so oft geglaubt wird: so gewiß auch die Einsicht in irgendeine pudenda origo für das Gefühl eine Wertverminderung der so entstandnen Sache mit sich bringt und gegen dieselbe eine kritische Stimmung und Haltung vorbereitet.

Was sind unsre Wertschätzungen und moralischen Gütertafeln selber wert? Was kommt bei ihrer Herrschaft heraus? Für wen? in bezug worauf? – Antwort: für das Leben. Aber was ist Leben? Hier tut also eine neue, bestimmtere Fassung des Begriffs »Leben« not. Meine Formel dafür lautet: Leben ist Wille zur Macht.

Was bedeutet das Wertschätzen selbst? weist es auf eine andere, metaphysische Welt zurück oder hinab? (wie noch Kant glaubte, der vor der großen historischen Bewegung steht.) Kurz: wo ist es entstanden? Oder ist es nicht »entstanden«? – Antwort: das moralische Wertschätzen ist eine Auslegung, eine Art zu interpretieren. Die Auslegung selbst ist ein Symptom bestimmter physiologischer Zustände, ebenso eines bestimmten geistigen Niveaus von herrschenden Urteilen: Wer legt aus? – Unsre Affekte.

[254]


Das sind meine Forderungen an euch – sie mögen euch schlecht genug zu Ohren gehen –: daß ihr die moralischen Wertschätzungen selbst einer Kritik unterziehen sollt. Daß ihr dem moralischen Gefühls-Impuls, welcher hier Unterwerfung und nicht Kritik verlangt, mit der Frage: »warum Unterwerfung?« Halt gebieten sollt. Daß ihr dies Verlangen nach einem »Warum?«, nach einer Kritik der Moral, eben als eure jetzige Form der Moralität selbst ansehen sollt, als die sublimste Art von Moralität, die euch und eurer Zeit Ehre macht. Daß eure Redlichkeit, euer Wille, euch nicht zu betrügen, sich selbst ausweisen muß: »warum nicht? – Vor welchem Forum?«

[399]


Unsre Unart, ein Erinnerungszeichen, eine abkürzende Formel als Wesen zu nehmen, schließlich als Ursache, z. B. vom Blitz zu sagen: »er leuchtet«. Oder gar das Wörtchen »ich«. Eine Art von Perspektive im Sehen wieder als Ursache des Sehens selbst zu setzen: das war das Kunststück in der Erfindung des »Subjekts«, des »Ichs«!

[548]
[480]

Eine antimetaphysische Weltbetrachtung – ja, aber eine artistische.

[1048]


Daß sich die Geschichte sämtlicher Phänomene der Moralität dermaßen vereinfachen lasse, wie es Schopenhauer glaubte – nämlich so, daß als Wurzel jeder bisherigen moralischen Regung das Mitleiden wiederzufinden sei –, zu diesem Grade von Widersinn und Naivität konnte nur ein Denker kommen, der von allem historischen Instinkte entblößt war und in der wunderlichsten Weise selbst jener starken Schulung zur Historie, wie sie die Deutschen von Herder bis Hegel durchgemacht haben, entschlüpft war.

[366]


Mein Problem: Welchen Schaden hat die Menschheit bisher von der Moral sowohl als auch von ihrer Moralität gehabt? Schaden am Geist usw.

[301]


Damit etwas bestehn soll, das länger ist als ein einzelner, damit also ein Werk bestehn bleibt, das vielleicht ein einzelner geschaffen hat: dazu muß dem einzelnen alle mögliche Art von Beschränkung, von Einseitigkeit usw. auferlegt werden. Mit welchem Mittel? Die Liebe, Verehrung, Dankbarkeit gegen die Person, die das Werk schuf, ist eine Erleichterung: oder daß unsere Vorfahren es erkämpft haben: oder daß meine Nachkommen nur so garantiert sind, wenn ich jenes Werk (z. B. die polis) garantiere. Moral ist wesentlich das Mittel, über die einzelnen hinweg oder vielmehr durch eine Versklavung der einzelnen etwas zur Dauer zu bringen. Es versteht sich, daß die Perspektive von unten nach oben ganz andere Ausdrücke geben wird als die von oben nach unten.

Ein Macht-Komplex: wie wird er erhalten? Dadurch, daß viele Geschlechter ihm sich opfern.

[730]


Gegen die Lehre vom Einfluß des Milieus und der äußeren Ursachen: die innere Kraft ist unendlich überlegen, vieles, was wie Einfluß von außen aussieht, ist nur ihre Anpassung von innen her. Genau dieselben Milieus können entgegengesetzt ausgedeutet und ausgenützt werden: es gibt keine Tatsachen. – Ein Genie ist nicht erklärt aus solchen Entstehungs-Bedingungen –

[70]
[481]

Es tut gut, »Recht«, »Unrecht« usw. in einem bestimmten, engen, bürgerlichen Sinn zu nehmen, wie »tue recht und scheue niemand«: d. h. einem bestimmten groben Schema gemäß, innerhalb dessen ein Gemeinwesen besteht, seine Schuldigkeit tun.

– Denken wir nicht gering von dem, was ein paar Jahrtausende Moral unserm Geiste angezüchtet haben!

[267]


Wir sind die Erben der Gewissens-Vivisektion und Selbstkreuzigung von zwei Jahrtausenden: darin ist unsre längste Übung, unsre Meisterschaft vielleicht, unser Raffinement in jedem Fall; wir haben die natürlichen Hänge mit dem bösen Gewissen verschwistert.

Ein umgekehrter Versuch wäre möglich: die unnatürlichen Hänge, ich meine die Neigungen zum Jenseitigen, Sinnwidrigen, Denkwidrigen, Naturwidrigen, kurz die bisherigen Ideale, die allesamt Welt-Verleumdungs-Ideale waren, mit dem schlechten Gewissen zu verschwistern.

[295]


Die volkstümlichen Ideale: der gute Mensch, der Selbstlose, der Heilige, der Weise, der Gerechte. O Marc Aurel!

[360b]


Der Mensch findet zuletzt in den Dingen nichts wieder, als was er selbst in sie hineingesteckt hat: – das Wiederfinden heißt sich Wissenschaft, das Hineinstecken – Kunst, Religion, Liebe, Stolz. In beidem, wenn es selbst Kinderspiel sein sollte, sollte man fortfahren und guten Mut zu beidem haben, – die einen zum Wiederfinden, die andern – wir andern! – zum Hineinstecken!

[606]


Tendenz der Moral-Entwicklung. – Jeder wünscht, daß keine andere Lehre und Schätzung der Dinge zur Geltung komme außer einer solchen, bei der er selbst gut wegkommt. Grundtendenz folglich der Schwachen und Mittelmäßigen aller Zeiten, die Stärkeren schwächer zu machen, herunterzuziehen: Hauptmittel das moralische Urteil. Das Verhalten des Stärkeren gegen den Schwächeren wird gebrandmarkt; die höheren Zustände des Stärkeren bekommen schlechte Beinamen.

Der Kampf der vielen gegen die wenigen, der Gewöhnlichen gegen die Seltenen, der Schwachen gegen die Starken –: eine seiner[482] feinsten Unterbrechungen ist die, daß die Ausgesuchten, Feinen, Anspruchsvolleren sich als die Schwachen präsentieren und die gröberen Mittel der Macht von sich weisen –

[345]


Es könnte scheinen, als ob ich der Frage nach der »Gewißheit« ausgewichen sei. Das Gegenteil ist wahr: aber indem ich nach dem Kriterium der Gewißheit fragte, prüfte ich, nach welchem Schwergewichte überhaupt bisher gewogen worden ist – und daß die Frage nach der Gewißheit selbst schon eine abhängige Frage sei, eine Frage zweiten Rangs.

[587]


Es fehlt das Wissen und Bewußtsein davon, welche Umdrehungen bereits das moralische Urteil durchgemacht hat und wie wirklich mehrere Male schon im gründlichsten Sinne »böse« auf »gut« umgetauft worden ist. Auf eine dieser Verschiebungen habe ich mit dem Worte »Sittlichkeit der Sitte« hingewiesen. Auch das Gewissen hat seine Sphäre vertauscht: es gab einen Herden-Gewissensbiß.

[265]


Das Sein – wir haben keine andere Vorstellung davon als »leben«. – Wie kann also etwas Totes »sein«?

[582]


Über das Mißverständnis der »Heiterkeit«. Zeitweilige Erlösung von der langen Spannung; der Übermut, die Saturnalien eines Geistes, der sich zu langen und furchtbaren Entschlüssen weiht und vorbereitet. Der »Narr« in der Form der »Wissenschaft«.

[991]


Versuch, über Moral zu denken, ohne unter ihrem Zauber zu stehen, mißtrauisch gegen die Überlistung ihrer schönen Gebärden und Blicke. Eine Welt, die wir verehren können, die unserem anbetenden Triebe gemäß ist – die sich fortwährend beweist – durch Leitung des einzelnen und allgemeinen –: dies ist die christliche Anschauung, aus der wir alle stammen.

Durch ein Wachstum an Schärfe, Mißtrauen, Wissenschaftlichkeit (auch durch einen höher gerichteten Instinkt der Wahrhaftigkeit, also unter wieder christlichen Einwirkungen) ist diese Interpretation uns immer mehr unerlaubt geworden.[483]

Feinster Ausweg: der Kantische Kritizismus. Der Intellekt stritt sich selbst das Recht ab sowohl zur Interpretation in jenem Sinne als auch zur Ablehnung der Interpretation in jenem Sinne. Man begnügt sich mit einem Mehr von Vertrauen und Glauben, mit einem Verzichtleisten auf alle Beweisbarkeit seines Glaubens, mit einem unbegreiflichen und überlegenen »Ideal« (Gott) die Lücke auszufüllen.

Der Hegelsche Ausweg, im Anschluß an Plato, ein Stück Romantik und Reaktion, zugleich das Symptom des historischen Sinns, einer neuen Kraft: der »Geist« selbst ist das »sich enthüllende und verwirklichende Ideal«: im »Prozeß«, im »Werden« offenbart sich ein immer Mehr von diesem Ideal, an das wir glauben –, also das Ideal verwirklicht sich, der Glaube richtet sich auf die Zukunft, in der er seinem edlen Bedürfnisse nach anbeten kann. Kurz,

1. Gott ist uns unerkennbar und unnachweisbar (Hintersinn der erkenntnis-theoretischen Bewegung);

2. Gott ist nachweisbar, aber als etwas Werdendes, und wir gehören dazu, eben mit unsrem Drang zum Idealen (Hintersinn der historisierenden Bewegung).

Man sieht: es ist niemals die Kritik an das Ideal selbst gerückt, sondern nur an das Problem, woher der Widerspruch gegen dasselbe kommt, warum es noch nicht erreicht oder warum es nicht nachweisbar im kleinen und großen ist.

Es macht den größten Unterschied: ob man aus der Leidenschaft heraus, aus einem Verlangen heraus, diesen Notstand als Notstand fühlt oder ob man ihn mit der Spitze des Gedankens und einer gewissen Kraft der historischen Imagination gerade noch als Problem erreicht.

Abseits von der religiös-philosophischen Betrachtung finden wir dasselbe Phänomen: der Utilitarismus (der Sozialismus, der Demokratismus) kritisiert die Herkunft der moralischen Wertschätzungen, aber er glaubt an sie, ebenso wie der Christ. (Naivität, als ob Moral übrigbliebe, wenn der sanktionierende Gott fehlt! Das Jenseits« absolut notwendig, wenn der Glaube an Moral aufrechterhalten werden soll.)

Grundproblem: woher diese Allgewalt des Glaubens? des Glaubens an die Moral? (– der sich auch darin verrät, daß selbst die Grundbedingungen[484] des Lebens zugunsten der Moral falsch interpretiert werden: trotz Kenntnis der Tierwelt und Pflanzenwelt. Die »Selbsterhaltung«; darwinistische Perspektive auf Versöhnung altruistischer und egoistischer Prinzipien.)

[253]


Mein Versuch, die moralischen Urteile als Symptome und Zeichensprachen zu verstehen, in denen sich Vorgänge des physiologischen Gedeihens oder Mißratens, ebenso das Bewußtsein von Erhaltungs- und Wachstumsbedingungen verraten, – eine Interpretations-Weise vom Werte der Astrologie, Vorurteile, denen Instinkte soufflieren (von Rassen, Gemeinden, von verschiedenen Stufen, wie Jugend oder Verwelken usw.).

Angewendet auf die speziell christlich-europäische Moral: unsere moralischen Urteile sind Zeichen von Verfall, von Unglauben an das Leben, eine Vorbereitung des Pessimismus.

Mein Hauptsatz: es gibt keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Interpretation dieser Phänomene. Diese Interpretation selbst ist außermoralischen Ursprungs.

Was bedeutet es, daß wir einen Widerspruch in das Dasein hineininterpretiert haben? – Entscheidende Wichtigkeit: hinter allen andern Wertschätzungen stehen kommandierend jene moralischen Wertschätzungen. Gesetzt, sie fallen fort, wonach messen wir dann? Und welchen Wert haben dann Erkenntnis usw., usw.???

[258]


Psychologische Geschichte des Begriffs »Subjekt«. Der Leib, das Ding, das vom Auge konstruierte »Ganze« erweckt die Unterscheidung von einem Tun und einem Tuenden; der Tuende, die Ursache des Tuns, immer feiner gefaßt, hat zuletzt das »Subjekt« übriggelassen.

[547]


Sollten nicht alle Quantitäten Anzeichen von Qualitäten sein? Der größeren Macht entspricht ein anderes Bewußtsein, Begehren, ein anderer perspektivischer Blick; Wachstum selbst ist ein Verlangen, mehr zu sein; aus einem quale heraus erwächst das Verlangen nach einem Mehr von quantum; in einer rein quantitativen Welt wäre alles tot, starr, unbewegt. – Die Reduktion aller Qualitäten auf Quantitäten ist[485] Unsinn: was sich ergibt, ist, daß eins und das andre beisammensteht, eine Analogie –.

[564]


Ist jemals schon eine Kraft konstatiert? Nein, sondern Wirkungen, übersetzt in eine völlig fremde Sprache. Das Regelmäßige im Hintereinander hat uns aber so verwöhnt, daß wir uns über das Wunderliche daran nicht wundern.

[620]


Gegen die erkenntnistheoretischen Dogmen tief mißtrauisch, liebte ich es, bald aus diesem, bald aus jenem Fenster zu blicken, hütete mich, mich darin festzusetzen, hielt sie für schädlich, – und zuletzt: ist es wahrscheinlich, daß ein Werkzeug seine eigene Tauglichkeit kritisieren kann?? – Worauf ich achtgab, war vielmehr, daß niemals eine erkenntnistheoretische Skepsis oder Dogmatik ohne Hintergedanken entstanden ist, – daß sie einen Wert zweiten Ranges hat, sobald man erwägt, was im Grunde zu dieser Stellung zwang.

Grundeinsicht: sowohl Kant als Hegel, als Schopenhauer – sowohl die skeptisch-epochistische Haltung als die historisierende, als die pessimistische – sind moralischen Ursprungs. Ich sah niemanden, der eine Kritik der moralischen Wertgefühle gewagt hätte: und den spärlichen Versuchen, zu einer Entstehungsgeschichte dieser Gefühle zu kommen (wie bei den englischen und deutschen Darwinisten) wandte ich bald den Rücken.

Wie erklärt sich Spinozas Stellung, seine Verneinung und Ablehnung der moralischen Werturteile? (Es war eine Konsequenz seiner Theodizee!)

[410]


Tiefe Abneigung, in irgendeiner Gesamt-Betrachtung der Welt ein für allemal auszuruhn. Zauber der entgegengesetzten Denkweise: sich den Anreiz des enigmatischen Charakters nicht nehmen lassen.

[470]


Die größte Fabelei ist die von der Erkenntnis. Man möchte wissen, wie die Dinge an sich beschaffen sind: aber siehe da, es gibt keine Dinge an sich! Gesetzt aber sogar, es gäbe ein An-sich, ein Unbedingtes, so könnte es eben darum nicht erkannt werden! Etwas Unbedingtes kann nicht erkannt werden: sonst wäre es eben nicht unbedingt! Erkennen[486] ist aber immer »sich irgendwozu in Bedingung setzen« – –; ein solch Erkennender will, daß das, was er erkennen will, ihn nichts angeht und daß dasselbe Etwas überhaupt niemanden nichts angeht: wobei erstlich ein Widerspruch gegeben ist im Erkennen-wollen und dem Verlangen, daß es ihn nichts angehen soll (wozu doch dann Erkennen?), und zweitens, weil etwas, das niemanden nichts angeht, gar nicht ist, also auch gar nicht erkannt werden kann. – Erkennen heißt »sich in Bedingung setzen zu etwas«: sich durch etwas bedingt fühlen und ebenso es selbst unsrerseits bedingen – – es ist also unter allen Umständen ein Feststellen, Bezeichnen, Bewußtmachen von Bedingungen (nicht ein Ergründen von Wesen, Dingen, »An-sichs«).

[555]


Ein »Ding an sich« ebenso verkehrt wie ein »Sinn an sich«, eine »Bedeutung an sich«. Es gibt keinen »Tatbestand an sich«, sondern ein Sinn muß immer erst hineingelegt werden, damit es einen Tatbestand geben kann.

Das »was ist das?« ist eine Sinn-Setzung von etwas anderem aus gesehen. Die »Essenz«, die »Wesenheit« ist etwas Perspektivisches und setzt eine Vielheit schon voraus. Zugrunde liegt immer »was ist das für mich?« (für uns, für alles, was lebt usw.).

Ein Ding wäre bezeichnet, wenn an ihm erst alle Wesen ihr »was ist das?« gefragt und beantwortet hätten. Gesetzt, ein einziges Wesen mit seinen eignen Relationen und Perspektiven zu allen Dingen fehlte, so ist das Ding immer noch nicht »definiert«.

Kurz: das Wesen eines Dings ist auch nur eine Meinung über das »Ding«. Oder vielmehr: das »es gilt« ist das eigentliche »es ist«, das einzige »das ist«.

Man darf nicht fragen: »wer interpretiert denn?« sondern das Interpretieren selbst, als eine Form des Willens zur Macht, hat Dasein (aber nicht als ein »Sein«, sondern als ein Prozeß, ein Werden) als ein Affekt.

Die Entstehung der »Dinge« ist ganz und gar das Werk der Vorstellenden, Denkenden, Wollenden, Empfindenden. Der Begriff »Ding« selbst ebenso als alle Eigenschaften. – Selbst »das Subjekt« ist ein solches Geschaffenes, ein »Ding« wie alle andern: eine Vereinfachung, um die Kraft, welche setzt, erfindet, denkt, als solche zu bezeichnen, im Unterschiede von allem einzelnen Setzen, Erfinden,[487] Denken selbst. Also das Vermögen im Unterschiede von allem Einzelnen bezeichnet: im Grunde das Tun in Hinsicht auf alles noch zu erwartende Tun (Tun und die Wahrscheinlichkeit ähnlichen Tuns) zusammengefaßt.

[556]


Aus der uns bekannten Welt ist der humanitäre Gott nicht nachzuweisen: so weit kann man euch heute zwingen und treiben. Aber welchen Schluß zieht ihr daraus? »Er ist uns nicht nachweisbar«: Skepsis der Erkenntnis. Ihr alle fürchtet den Schluß »aus der uns bekannten Welt würde ein ganz anderer Gott nachweisbar sein, ein solcher, der zum mindesten nicht humanitär ist« – – und, kurz und gut, ihr haltet euren Gott fest und erfindet für ihn eine Welt, die uns nicht bekannt ist.

[1036]


Gesetzt selbst, daß ein Gegenbeweis des christlichen Glaubens nicht geführt werden könnte, hielt Pascal doch in Hinsicht auf eine furchtbare Möglichkeit, daß er dennoch wahr sei, es für klug im höchsten Sinne, Christ zu sein. Heute findet man, zum Zeichen, wie sehr das Christentum an Furchtbarkeit eingebüßt hat, jenen andern Versuch seiner Rechtfertigung, daß selbst, wenn er ein Irrtum wäre, man zeitlebens doch den großen Vorteil und Genuß dieses Irrtums habe: – es scheint also, daß gerade um seiner beruhigenden Wirkungen willen dieser Glaube aufrechterhalten werden solle – also nicht aus Furcht vor einer drohenden Möglichkeit, vielmehr aus Furcht vor einem Leben, dem ein Reiz abgeht. Diese hedonische Wendung, der Beweis aus der Lust, ist ein Symptom des Niedergangs: er ersetzt den Beweis aus der Kraft, aus dem, was an der christlichen Idee Erschütterung ist, aus der Furcht. Tatsächlich nähert sich in dieser Umdeutung das Christentum der Erschöpfung: man begnügt sich mit einem opiatischen Christentum, weil man weder zum Suchen, Kämpfen, Wagen, Alleinstehen-wollen die Kraft hat noch zum Pascalismus, zu dieser grüblerischen Selbstverachtung, zum Glauben an die menschliche Unwürdigkeit, zur Angst des »Vielleicht-Verurteilten«. Aber ein Christentum, das vor allem kranke Nerven beruhigen soll, hat jene furchtbare Lösung eines »Gottes am Kreuze« überhaupt nicht nötig: weshalb im stillen überall der Buddhismus in Europa Fortschritte macht.

[240]
[488]

Die Auslegung eines Geschehens als entweder Tun oder Leiden (– also jedes Tun ein Leiden) sagt: jede Veränderung, jedes Anderswerden setzt einen Urheber voraus und einen, an dem »verändert« wird.

[546]


»Zweck und Mittel«

»Ursache und Wirkung«

»Subjekt und Objekt«

»Tun und Leiden«

»Ding an sich und Erscheinung«

als Ausdeutungen (nicht als Tatbestand) und inwiefern vielleicht notwendige Ausdeutungen? (als »erhaltende«) – alle im Sinne eines Willens zur Macht.

[589]


Der Wille zur Macht interpretiert (– bei der Bildung eines Organs handelt es sich um eine Interpretation): er grenzt ab, bestimmt Grade, Machtverschiedenheiten. Bloße Machtverschiedenheiten könnten sich noch nicht als solche empfinden: es muß ein wachsenwollendes Etwas da sein, das jedes andre wachsen-wollende Etwas auf seinen Wert hin interpretiert. Darin gleich – – In Wahrheit ist Interpretation ein Mittel selbst, um Herr über etwas zu werden. (Der organische Prozeß setzt fortwährend Interpretieren voraus.)

[643]


Die »Regelmäßigkeit« der Aufeinanderfolge ist nur ein bildlicher Ausdruck, wie als ob hier eine Regel befolgt werde: kein Tatbestand. Ebenso »Gesetzmäßigkeit«. Wir finden eine Formel, um eine immer wiederkehrende Art der Folge auszudrücken: damit haben wir kein »Gesetz« entdeckt, noch weniger eine Kraft, welche die Ursache zur Wiederkehr von Folgen ist. Daß etwas immer so und so geschieht, wird hier interpretiert, als ob ein Wesen infolge eines Gehorsams gegen ein Gesetz oder einen Gesetzgeber immer so und so handelte: während es, abgesehen vom »Gesetz«, Freiheit hätte, anders zu handeln. Aber gerade jenes So-und-nicht-anders könnte aus dem Wesen selbst stammen, das nicht in Hinsicht erst auf ein Gesetz sich so und so verhielte, sondern als so und so beschaffen. Es heißt nur: etwas kann nicht auch etwas anderes sein, kann nicht bald dies, bald anderes tun, ist weder frei noch unfrei, sondern eben so und so. Der Fehler steckt in der Hineindichtung eines Subjekts.

[632]
[489]

Gesetzt, die Welt verfügte über ein Quantum von Kraft, so liegt auf der Hand, daß jede Macht-Verschiebung an irgendeiner Stelle das ganze System bedingt – also neben der Kausalität hintereinander wäre eine Abhängigkeit neben– und miteinander gegeben.

[638]


Es liegt auf der Hand, daß weder Dinge an sich miteinander im Verhältnisse von Ursache und Wirkung stehen können noch Erscheinung mit Erscheinung: womit sich ergibt, daß der Begriff »Ursache und Wirkung« innerhalb einer Philosophie, die an Dinge an sich und an Erscheinungen glaubt, nicht anwendbar ist. Die Fehler Kants –... Tatsächlich stammt der Begriff »Ursache und Wirkung«, psychologisch nachgerechnet, nur aus einer Denkweise, die immer und überall Wille auf Wille wirkend glaubt, – die nur an Lebendiges glaubt und im Grunde nur an »Seelen« (und nicht an Dinge). Innerhalb der mechanistischen Weltbetrachtung (welche Logik ist und deren Anwendung auf Raum und Zeit) reduziert sich jener Begriff auf die mathematische Formel – mit der, wie man immer wieder unterstreichen muß, niemals etwas begriffen, wohl aber etwas bezeichnet, verzeichnet wird.

[554]


Die unabänderliche Aufeinanderfolge gewisser Erscheinungen beweist kein »Gesetz«, sondern ein Machtverhältnis zwischen zwei oder mehreren Kräften. Zu sagen »aber gerade dies Verhältnis bleibt sich gleich!« heißt nichts anderes als: »ein und dieselbe Kraft kann nicht auch eine andere Kraft sein«. – Es handelt sich nicht um ein Nacheinander, – sondern um ein Ineinander, einen Prozeß, in dem die einzelnen sich folgenden Momente nicht als Ursache und Wirkung sich bedingen...

Die Trennung des »Tuns« vom »Tuenden«, des Geschehens von einem, der geschehen macht, des Prozesses von einem Etwas, das nicht Prozeß, sondern dauernd, Substanz, Ding, Körper, Seele usw. ist, – der Versuch, das Geschehen zu begreifen als eine Art Verschiebung und Stellungs-Wechsel von »Seiendem«, von Bleibendem: diese alte Mythologie hat den Glauben an »Ursache und Wirkung« festgestellt, nachdem er in den sprachlich-grammatischen Funktionen eine feste Form gefunden hatte.

[631]
[490]

Maßstab, wonach der Wert der moralischen Wertschätzungen zu bestimmen ist.

Die übersehene Grundtatsache: Widerspruch zwischen dem »Moralischer-werden« und der Erhöhung und Verstärkung des Typus Mensch.

Homo natura. Der »Wille zur Macht«.

[391]


Der Wille zur Macht. – Wie die Menschen beschaffen sein müßten, welche diese Umwertung an sich vornehmen. Die Rangordnung als Machtordnung: Krieg und Gefahr die Voraussetzung, daß ein Rang seine Bedingungen festhält. Das grandiose Vorbild: der Mensch in der Natur – das schwächste, klügste Wesen sich zum Herrn machend, die dümmeren Gewalten sich unterjochend.

[856]


Der größte Kampf: dazu braucht es einer neuen Waffe.

Der Hammer: eine furchtbare Entscheidung heraufbeschwören, Europa vor die Konsequenz stellen, ob sein Wille zum Untergang »will«.

Verhütung der Vermittelmäßigung. Lieber noch Untergang!

[1054]


Die Voraussetzung, daß es im Grunde der Dinge so moralisch zugeht, daß die menschliche Vernunft recht behält – ist eine Treuherzigkeit und Biedermanns-Voraussetzung, die Nachwirkung des Glaubens an die göttliche Wahrhaftigkeit – Gott als Schöpfer der Dinge gedacht. – Die Begriffe eine Erbschaft aus einer jenseitigen Vorexistenz – –

[471]


»Erkennen« ist ein Zurückbeziehn: seinem Wesen nach ein regressus in infinitum. Was haltmacht (bei einer angeblichen causa prima, bei einem Unbedingten usw.), ist die Faulheit, die Ermüdung – –

[575]


Gegen das Versöhnen-wollen und die Friedfertigkeit. Dazu gehört auch jeder Versuch von Monismus.

[601]


Nihilistischer Zug

  • a) In den Naturwissenschaften (»Sinnlosigkeit« –); Kausalismus, Mechanismus. Die »Gesetzmäßigkeit« ein Zwischenakt, ein Überbleibsel.
  • [491] b) Insgleichen in der Politik: es fehlt einem der Glaube an sein Recht, die Unschuld; es herrscht die Lügnerei, die Augenblicks-Dienerei.
  • c) Insgleichen in der Volkswirtschaft: die Aufhebung der Sklaverei: Mangel eines erlösenden Standes, eines Rechtfertigers, – Heraufkommen des Anarchismus. »Erziehung«?
  • d) Insgleichen in der Geschichte: der Fatalismus, der Darwinismus; die letzten Versuche, Vernunft und Göttlichkeit hineinzudeuten, mißraten. Sentimentalität vor der Vergangenheit; man ertrüge keine Biographie! – (Der Phänomenalismus auch hier: Charakter als Maske; es gibt keine Tatsachen.)
  • e) Insgleichen in der Kunst: Romantik und ihr Gegenschlag (Widerwille gegen die romantischen Ideale und Lügen).Letzterer, moralisch, als Sinn größerer Wahrhaftigkeit, aber pessimistisch. Die reinen »Artisten« (gleichgültig gegen den Inhalt). (Beichtvater-Psychologie und Puritaner-Psychologie, zwei Formen der psychologischen Romantik: aber auch noch ihr Gegenschlag, der Versuch, sich rein artistisch zum »Menschen« zu stellen, – auch da wird noch nicht die umgekehrte Wertschätzung gewagt!)

[69]


Das Phänomen »Künstler« ist noch am leichtesten durchsichtig: – von da aus hinzublicken auf die Grundinstinkte der Macht, der Natur usw.! Auch der Religion und Moral!

»Das Spiel«, das Unnützliche – als Ideal des mit Kraft Überhäuften, als »kindlich«. Die »Kindlichkeit« Gottes, pais paizôn.

[797]


Romantik und ihr Gegenstück. – In Hinsicht auf alle ästhetischen Werte bediene ich mich jetzt dieser Grundunterscheidung: ich frage in jedem einzelnen Falle: »Ist hier der Hunger oder der Überfluß schöpferisch geworden?« Von vornherein möchte sich eine andre Unterscheidung besser zu empfehlen scheinen – sie ist bei weitem augenscheinlicher –, nämlich die Unterscheidung, ob das Verlangen nach Starr-werden, Ewig-werden, nach »Sein« die Ursache des Schaffens ist oder aber das Verlangen nach Zerstörung, nach Wechsel, nach Werden. Aber beide Arten des Verlangens erweisen sich, tiefer angesehn, noch als zweideutig, und zwar deutbar eben nach jenem vorangestellten und mit Recht, wie mich dünkt, vorgezogenen Schema.[492]

Das Verlangen nach Zerstörung, Wechsel, Werden kann der Ausdruck der übervollen zukunftsschwangern Kraft sein (mein Terminus dafür ist, wie man weiß, das Wort »dionysisch«); es kann aber auch der Haß der Mißratnen, Entbehrenden, Schlechtweggekommenen sein, der zerstört, zerstören muß, weil ihn das Bestehende, ja alles Bestehen, alles Sein selbst, empört und aufreizt.

»Verewigen« andrerseits kann einmal aus Dankbarkeit und Liebe kommen – eine Kunst dieses Ursprungs wird immer eine Apotheosen-Kunst sein, dithyrambisch vielleicht mit Rubens, selig mit Hafis, hell und gütig mit Goethe und einen homerischen Glorienschein über alle Dinge breitend; – es kann aber auch jener tyrannische Wille eines Schwer-Leidenden sein, welcher das Persönlichste, Einzelnste, Engste, die eigentliche Idiosynkrasie seines Leidens noch zum verbindlichen Gesetz und Zwang stempeln möchte und der an allen Dingen gleichsam Rache nimmt, dadurch daß er ihnen sein Bild, das Bild seiner Tortur aufdrückt, einzwängt, einbrennt. Letzteres ist romantischer Pessimismus in der ausdrucksvollsten Form: sei es als Schopenhauersche Willens-Philosophie, sei es als Wagnersche Musik.

[846]


Nihilismus als Konsequenz der bisherigen Wert-Interpretation des Daseins.

[1]


Es ist die Zeit des großen Mittags, der furchtbarsten Aufhellung: meine Art von Pessimismus: – großer Ausgangspunkt.

  • I. Grundwiderspruch in der Zivilisation und der Erhöhung des Menschen.
  • II. Die moralischen Wertschätzungen als eine Geschichte der Lüge und Verleumdungskunst im Dienste eines Willens zur Macht (des Herden-Willens, welcher sich gegen die stärkeren Menschen auflehnt).
  • III. Die Bedingungen jeder Erhöhung der Kultur (die Ermöglichung einer Auswahl auf Unkosten einer Menge) sind die Bedingungen alles Wachstums.
  • IV. Die Vieldeutigkeit der Welt als Frage der Kraft, welche alle Dinge unter der Perspektive ihres Wachstums ansieht. Die moralisch-christlichen Werturteile als Sklaven-Aufstand und SklavenLügenhaftigkeit[493] (im Vergleich zu den aristokratischen Werten der antiken Welt).

[134]


Was ist Wahrheit? – Inertia; die Hypothese, bei welcher Befriedigung entsteht: geringster Verbrauch von geistiger Kraft usw.

[537]


Die Schauspielerei

Die Farbenbuntheit des modernen Menschen und ihr Reiz. Wesentlich Versteck und Überdruß.

Der Literat.

Der Politiker (im »nationalen Schwindel«).

Die Schauspielerei in den Künsten:

Mangel an Probität der Vorbildung und Schulung (Fromentin);

die Romantiker (Mangel an Philosophie und Wissenschaft und Überfluß an Literatur);

die Romanschreiber (Walter Scott, aber auch die Nibelungen-Ungeheuer mit der nervösesten Musik);

die Lyriker.

Die »Wissenschaftlichkeit«.

Virtuosen (Juden).

Die volkstümlichen Ideale als überwunden, aber noch nicht vor dem Volk:

der Heilige, der Weise, der Prophet.

[78]


Zur Geschichte der modernen Verdüsterung.

Die Staats-Nomaden (Beamte usw.): ohne »Heimat« –.

Der Niedergang der Familie.

Der »gute Mensch« als Symptom der Erschöpfung.

Gerechtigkeit als Wille zur Macht (Züchtung).

Geilheit und Neurose.

Schwarze Musik: – die erquickliche Musik wohin?

Der Anarchist.

Menschenverachtung, Ekel.

Tiefste Unterscheidung: ob der Hunger oder der Überfluß schöpferisch wird? Ersterer erzeugt die Ideale der Romantik. –

Nordische Unnatürlichkeit.[494]

Das Bedürfnis nach Alcoholica: die Arbeiter– »Not«.

Der philosophische Nihilismus.

[59]


Unendliche Ausdeutbarkeit der Welt: jede Ausdeutung ein Symptom des Wachstums oder des Untergehens.

Die Einheit (der Monismus) ein Bedürfnis der inertia; die Mehrheit der Deutung Zeichen der Kraft. Der Welt ihren beunruhigenden und enigmatischen Charakter nicht abstreiten wollen!

[600]


Das Kunstwerk, wo es ohne Künstler erscheint, z. B. als Leib, als Organisation (preußisches Offizierkorps, Jesuitenorden). Inwiefern der Künstler nur eine Vorstufe ist.

Die Welt als ein sich selbstgebärendes Kunstwerk – –

[796]


Ist die Kunst eine Folge des Ungenügens am Wirklichen? Oder ein Ausdruck der Dankbarkeit über genossenes Glück? Im ersten Falle Romantik, im zweiten Glorienschein und Dithyrambus (kurz Apotheosen-Kunst): auch Raffael gehört hierhin, nur daß er jene Falschheit hatte, den Anschein der christlichen Weltauslegung zu vergöttern. Er war dankbar für das Dasein, wo es nicht spezifisch christlich sich zeigte.

Mit der moralischen Interpretation ist die Welt unerträglich. Das Christentum war der Versuch, die Welt damit zu »überwinden«: d. h. zu verneinen. In praxi lief ein solches Attentat des Wahnsinns – einer wahnsinnigen Selbstüberhebung des Menschenangesichts der Welt – auf Verdüsterung, Verkleinlichung, Verarmung des Menschen hinaus: die mittelmäßigste und unschädlichste Art, die herdenhafte Art Mensch, fand allein dabei ihre Rechnung, ihre Förderung, wenn man will.

Homer als Apotheosen-Künstler; auch Rubens. Die Musik hat noch keinen gehabt.

Die Idealisierung des großen Frevlers (der Sinn für seine Größe) ist griechisch; das Herunterwürdigen, Verleumden, Verächtlichmachen des Sünders ist jüdisch-christlich.

[845]


Auch Resignation ist nicht eine Lehre der Tragödie, sondern ein Mißverständnis derselben! Sehnsucht ins Nichts ist Verneinung der tragischen Weisheit, ihr Gegensatz!

[1029b]
[495]

Ein Romantiker ist ein Künstler, den das große Mißvergnügen an sich schöpferisch macht – der von sich und seiner Mitwelt wegblickt, zurückblickt.

[844]


Die Bedeutung der deutschen Philosophie (Hegel): einen Pantheismus auszudenken, bei dem das Böse, der Irrtum und das Leid nicht als Argumente gegen Göttlichkeit empfunden werden. Diese grandiose Initiative ist mißbraucht worden von den vorhandenen Mächten (Staat usw.), als sei damit die Vernünftigkeit des gerade Herrschenden sanktioniert.

Schopenhauer erscheint dagegen als hartnäckiger Moral-Mensch, welcher endlich, um mit seiner moralischen Schätzung recht zu behalten, zum Welt-Verneiner wird. Endlich zum »Mystiker«.

Ich selbst habe eine ästhetische Rechtfertigung versucht: wie ist die Häßlichkeit der Welt möglich? – Ich nahm den Willen zur Schönheit, zum Verharren in gleichen Formen, als ein zeitweiliges Erhaltungs- und Heilmittel: fundamental aber schien mir das ewig-Schaffende als das ewig-Zerstören-Müssende gebunden an den Schmerz. Das Häßliche ist die Betrachtungsform der Dinge unter dem Willen, einen Sinn, einen neuen Sinn in das Sinnlos-gewordene zu legen: die angehäufte Kraft, welche den Schaffenden zwingt, das Bisherige als unhaltbar, mißraten, verneinungswürdig, als häßlich zu fühlen! –

[416]


Bei Plato, als bei einem Menschen der überreizbaren Sinnlichkeit und Schwärmerei, ist der Zauber des Begriffs so groß gewesen, daß er unwillkürlich den Begriff als eine Idealform verehrte und vergötterte. Dialektik-Trunkenheit: als das Bewußtsein, mit ihr eine Herrschaft über sich auszuüben – – als Werkzeug des Machtwillens.

[431b]


Druck und Stoß etwas unsäglich Spätes, Abgeleitetes, Unursprüngliches. Es setzt ja schon etwas voraus, das zusammenhält und drücken und stoßen kann! Aber woher hielte es zusammen?

[622]


Die Religionen gehen am Glauben an die Moral zugrunde. Der christlich-moralische Gott ist nicht haltbar: folglich »Atheismus« – wie als ob es keine andere Art Götter geben könne.[496]

Desgleichen geht die Kultur am Glauben an die Moral zugrunde. Denn wenn die notwendigen Bedingungen entdeckt sind, aus denen allein sie wächst, so will man sie nicht mehr (Buddhismus).

[151]


Die »Sinnlosigkeit des Geschehens«: der Glaube daran ist die Folge einer Einsicht in die Falschheit der bisherigen Interpretationen, eine Verallgemeinerung der Mutlosigkeit und Schwäche, – kein notwendiger Glaube.

Unbescheidenheit des Menschen –: wo er den Sinn nicht sieht, ihn zu leugnen!

[599]


Daß der Wert der Welt in unserer Interpretation liegt (– daß vielleicht irgendwo noch andre Interpretationen möglich sind als bloß menschliche –), daß die bisherigen Interpretationen perspektivische Schätzungen sind, vermöge deren wir uns im Leben, d. h. im Willen zur Macht, zum Wachstum der Macht, erhalten, daß jede Erhöhung des Menschen die Überwindung engerer Interpretationen mit sich bringt, daß jede erreichte Verstärkung und Machterweiterung neue Perspektiven auftut und an neue Horizonte glauben heißt – das geht durch meine Schriften. Die Welt, die uns etwas angeht, ist falsch, d. h. ist kein Tatbestand, sondern eine Ausdichtung und Rundung über einer mageren Summe von Beobachtungen; sie ist »im Flusse«, als etwas Werdendes, als eine sich immer neu verschiebende Falschheit, die sich niemals der Wahrheit nähert: denn – es gibt keine »Wahrheit«.

[616]


Die Täuschung Apollos: die Ewigkeit der schönen Form; die aristokratische Gesetzgebung »so soll es immer sein!«.

Dionysos: Sinnlichkeit und Grausamkeit. Die Vergänglichkeit könnte ausgelegt werden als Genuß der zeugenden und zerstörenden Kraft, als beständige Schöpfung.

[1049]


Der Glaube an den Leib ist fundamentaler als der Glaube an die Seele: letzterer ist entstanden aus der unwissenschaftlichen Betrachtung der Agonien des Leibes (etwas, das ihn verläßt. Glaube an die Wahrheit des Traumes –).

[491]
[497]

Der Hammer. Wie müssen Menschen beschaffen sein, die umgekehrt wertschätzen? – Menschen, die alle Eigenschaften der modernen Seele haben, aber stark genug sind, sie in lauter Gesundheit umzuwandeln? – Ihr Mittel zu ihrer Aufgabe.

[905]


Armut, Demut und Keuschheit – gefährliche und verleumderische Ideale, aber, wie Gifte in gewissen Krankheitsfällen, nützliche Heilmittel, z. B. in der römischen Kaiserzeit.

Alle Ideale sind gefährlich; weil sie das Tatsächliche erniedrigen und brandmarken; alle sind Gifte, aber als zeitweilige Heilmittel unentbehrlich.

[223]


Wie hat sich der gesamte organische Prozeß verhalten gegen die übrige Natur? – Da enthüllt sich sein Grundwille.

[691]


Inwiefern die Dialektik und der Glaube an die Vernunft noch auf moralischen Vorurteilen ruht. Bei Plato sind wir als einstmalige Bewohner einer intelligiblen Welt des Guten noch im Besitz eines Vermächtnisses jener Zeit: die göttliche Dialektik, als aus dem Guten stammend, führt zu allem Guten (– also gleichsam »zurück« –). Auch Descartes hatte einen Begriff davon, daß in einer christlich-moralischen Grunddenkweise, welche an einen guten Gott als Schöpfer der Dinge glaubt, die Wahrhaftigkeit Gottes erst uns unsre Sinnesurteile verbürgt. Abseits von einer religiösen Sanktion und Verbürgung unsrer Sinne und Vernünftigkeit – woher sollten wir ein Recht auf Vertrauen gegen das Dasein haben! Daß das Denken gar ein Maß des Wirklichen sei – daß was nicht gedacht werden kann, nicht ist – ist ein plumpes non plus ultra einer moralistischen Vertrauensseligkeit (auf ein essentielles Wahrheits-Prinzip im Grund der Dinge), an sich eine tolle Behauptung, der unsre Erfahrung in jedem Augenblicke widerspricht. Wir können gerade gar nichts denken, inwiefern es ist...

[436]


Die Sinneswahrnehmungen nach »außen« projiziert: »innen« und »außen« – da kommandiert der Leib –?

Dieselbe gleichmachende und ordnende Kraft, welche im Idioplasma waltet, waltet auch beim Einverleiben der Außenwelt: unsere[498] Sinneswahrnehmungen sind bereits das Resultat dieser Anähnlichung und Gleichsetzung in bezug auf alle Vergangenheit in uns; sie folgen nicht sofort auf den »Eindruck«–

[500]


Ironie gegen die, welche das Christentum durch die modernen Naturwissenschaften überwunden glauben. Die christlichen Werturteile sind damit absolut nicht überwunden. »Christus am Kreuze« ist das erhabenste Symbol – immer noch. –

[219]


Unsere Wahrnehmungen, wie wir sie verstehen: d. i. die Summe aller der Wahrnehmungen, deren Bewußtwerden uns und dem ganzen organischen Prozesse vor uns nützlich und wesentlich war: also nicht alle Wahrnehmungen überhaupt (z. B. nicht die elektrischen); das heißt: wir haben Sinne nur für eine Auswahl von Wahrnehmungen – solcher, an denen uns gelegen sein muß, um uns zu erhalten. Bewußtsein ist so weit da, als Bewußtsein nützlich ist. Es ist kein Zweifel, daß alle Sinneswahrnehmungen gänzlich durchsetzt sind mit Werturteilen(nützlich und schädlich – folglich angenehm oder unangenehm). Die einzelne Farbe drückt zugleich einen Wert für uns aus (obwohl wir es uns selten oder erst nach langem, ausschließlichem Einwirken derselben Farbe eingestehen, z. B. Gefangene im Gefängnis oder Irre). So auch reagieren Insekten auf verschiedene Farben anders: einige lieben diese, andere jene, z. B. Ameisen.

[505]


Gesundheit und Krankhaftigkeit: man sei vorsichtig! Der Maßstab bleibt die Effloreszenz des Leibes, die Sprungkraft, Mut und Lustigkeit des Geistes – aber, natürlich auch, wie viel von Krankhaftem er auf sich nehmen und überwinden kann – gesund machen kann. Das, woran die zarteren Menschen zugrunde gehen würden, gehört zu den Stimulanz-Mitteln der großen Gesundheit.

[1013]


Man müßte wissen, was Sein ist, um zu entscheiden, ob dies und jenes real ist (z. B. »die Tatsachen des Bewußtseins«); ebenso was Gewißheit ist, was Erkenntnis ist und dergleichen. – Da wir das aber nicht wissen, so ist eine Kritik des Erkenntnisvermögens unsinnig: wie sollte das Werkzeug sich selbst kritisieren können, wenn es eben nur sich zur Kritik gebrauchen kann? Es kann nicht einmal sich selbst definieren!

[486]
[499]

Wenn alle Einheit nur als Organisation Einheit ist? Aber das »Ding«, an das wir glauben, ist nur als Unterlage zu verschiednen Prädikaten hinzuerfunden. Wenn das Ding »wirkt«, so heißt das: wir fassen alle übrigen Eigenschaften, die sonst noch hier vorhanden sind und momentan latent sind, als Ursache, daß jetzt eine einzelne Eigenschaft hervortritt: d. h. wir nehmen die Summe seiner Eigenschaften – x – als Ursache der Eigenschaft x: was doch ganz dumm und verrückt ist!

Alle Einheit ist nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit: nicht anders, als wie ein menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist: also Gegensatz der atomistischen Anarchie, somit ein Herrschafts-Gebilde, das eins bedeutet, aber nicht eins ist.

[561]


Eine Kraft, die wir uns nicht vorstellen können, ist ein leeres Wort und darf kein Bürgerrecht in der Wissenschaft haben: wie die sogenannte rein mechanische Anziehungs- und Abstoßungskraft, welche uns die Welt vorstellbar machen will, nichts weiter!

[621]


Alles Geschehen aus Absichten ist reduzierbar auf die Absicht der Mehrung von Macht.

[663]


Gleichheit und Ähnlichkeit.

  • 1. Das gröbere Organ sieht viele scheinbare Gleichheit;
  • 2. der Geist will Gleichheit, d. h. einen Sinneneindruck subsumieren unter eine vorhandene Reihe: ebenso wie der Körper Unorganisches sich assimiliert.

Zum Verständnis der Logik:

der Wille zur Gleichheit ist der Wille zur Macht – der Glaube, daß etwas so und so sei (das Wesen des Urteils), ist die Folge eines Willens, es soll so viel als möglich gleich sein.

[511]


Wenn unser »Ich« uns das einzige Sein ist, nach dem wir alles Sein machen oder verstehen: sehr gut! Dann ist der Zweifel sehr am Platze, ob hier nicht eine perspektivische Illusion vorliegt – die scheinbare Einheit, in der wie in einer Horizontlinie alles sich zusammenschließt. Am Leitfaden des Leibes zeigt sich eine ungeheure Vielfachheit; es ist methodisch erlaubt, das besser studierbare reichere Phänomen zum[500] Leitfaden für das Verständnis des ärmeren zu benutzen. Endlich: gesetzt, alles ist Werden, so ist Erkenntnis nur möglich auf Grund des Glaubens an Sein.

[518]


Illusion, daß etwas erkannt sei, wo wir eine mathematische Formel für das Geschehene haben: es ist nur bezeichnet, beschrieben: nichts mehr!

[628]


In jedem Urteile steckt der ganze, volle, tiefe Glaube an Subjekt und Prädikat oder an Ursache und Wirkung (nämlich als die Behauptung, daß jede Wirkung Tätigkeit sei und daß jede Tätigkeit einen Täter voraussetze); und dieser letztere Glaube ist sogar nur ein Einzelfall des ersteren, so daß als Grundglaube der Glaube übrigbleibt: es gibt Subjekte, alles, was geschieht, verhält sich prädikativ zu irgendwelchem Subjekte.

Ich bemerke etwas und suche nach einem Grund dafür: das heißt ursprünglich: ich suche nach einer Absicht darin und vor allem nach einem, der Absicht hat, nach einem Subjekt, einem Täter: alles Geschehen ein Tun – ehemals sah man in allem Geschehen Absichten, dies ist unsere älteste Gewohnheit. Hat das Tier sie auch? Ist es, als Lebendiges, nicht auch auf die Interpretation nach sich angewiesen? – Die Frage »warum?« ist immer die Frage nach der causa finalis, nach einem »Wozu?« Von einem »Sinn der causa efficiens« haben wir nichts: hier hat Hume recht, die Gewohnheit (aber nicht nur die des Individuums!) läßt uns erwarten, daß ein gewisser oft beobachteter Vorgang auf den andern folgt: weiter nichts! Was uns die außerordentliche Festigkeit des Glaubens an Kausalität gibt, ist nicht die große Gewohnheit des Hintereinanders von Vorgängen, sondern unsre Unfähigkeit, ein Geschehen anders interpretieren zu können als ein Geschehen aus Absichten. Es ist der Glaube an das Lebendige und Denkende als an das einzig Wirkende – an den Willen, die Absicht –, es ist der Glaube, daß alles Geschehen ein Tun sei, daß alles Tun einen Täter voraussetze, es ist der Glaube an das »Subjekt«. Sollte dieser Glaube an den Subjekt- und Prädikat-Begriff nicht eine große Dummheit sein?


Frage: ist die Absicht Ursache eines Geschehens? Oder ist auch das Illusion? Ist sie nicht das Geschehen selbst?


[550]
[501]

»Anziehen« und »Abstoßen« in rein mechanischem Sinne ist eine vollständige Fiktion: ein Wort. Wir können uns ohne eine Absicht ein Anziehen nicht denken. – Den Willen, sich einer Sache zu bemächtigen oder gegen ihre Macht sich zu wehren und sie zurückzustoßen – das »verstehen« wir: das wäre eine Interpretation, die wir brauchen könnten.

Kurz: die psychologische Nötigung zu einem Glauben an Kausalität liegt in der Unvorstellbarkeit eines Geschehens ohne Absichten: womit natürlich über Wahrheit oder Unwahrheit (Berechtigung eines solchen Glaubens) nichts gesagt ist! Der Glaube an causae fällt mit dem Glauben an telê (gegen Spinoza und dessen Kausalismus).

[627]


Das Urteilen ist unser ältester Glaube, unser gewohntestes Für-Wahr- oder Für-Unwahr-halten, ein Behaupten oder Leugnen, eine Gewißheit, daß etwas so und nicht anders ist, ein Glaube, hier wirklich »erkannt« zu haben – was wird in allen Urteilen als wahr geglaubt?

Was sind Prädikate? – Wir haben Veränderungen an uns nicht als solche genommen, sondern als ein »An-sich«, das uns fremd ist, das wir nur »wahrnehmen«: und wir haben sie nicht als ein Geschehen, sondern als ein Sein gesetzt, als »Eigenschaft« – und ein Wesen hinzuerfunden, an dem sie haften, d. h. wir haben die Wirkung als Wirkendes angesetzt und das Wirkende als Seiendes. Aber auch noch in dieser Formulierung ist der Begriff »Wirkung« willkürlich: denn von jenen Veränderungen, die an uns vorgehen und von denen wir bestimmt glauben, nicht selbst die Ursache zu sein, schließen wir nur, daß sie Wirkungen sein müssen: nach dem Schluß: »zu jeder Veränderung gehört ein Urheber«; – aber dieser Schluß ist schon Mythologie: er trennt das Wirkende und das Wirken. Wenn ich sage »der Blitz leuchtet«, so habe ich das Leuchten einmal als Tätgkeit und das andere Mal als Subjekt gesetzt: also zum Geschehen ein Sein supponiert, welches mit dem Geschehen nicht eins ist, vielmehr bleibt, ist und nicht »wird«. – Das Geschehen als Wirken anzusetzen: und die Wirkung als Sein: das ist der doppelte Irrtum, oder Interpretation, deren wir uns schuldig machen.

[531]


Die Eigenschaften eines Dinges sind Wirkungen auf andre »Dinge«: denkt man andre »Dinge« weg, so hat ein Ding keine Eigenschaften,[502]

d. h. es gibt kein Ding ohne andre Dinge,

d. h. es gibt kein »Ding an sich«.

[557]


Was kann allein Erkenntnis sein? – »Auslegung«, Sinn-hineinlegen – nicht »Erklärung« (in den meisten Fällen eine neue Auslegung über eine alte unverständlich gewordne Auslegung, die jetzt selbst nur Zeichen ist). Es gibt keinen Tatbestand, alles ist flüssig, unfaßbar, zurückweichend; das Dauerhafteste sind noch unsre Meinungen.

[604]


Unsre Werte sind in die Dinge hineininterpretiert.

Gibt es denn einen Sinn im An-sich?!

Ist nicht notwendig Sinn eben Beziehungs-Sinn und Perspektive?

Aller Sinn ist Wille zur Macht (alle Beziehungs-Sinne lassen sich in ihn auflösen).

[590]


Neue Formen der Moralität: Treue-Gelübde im Vereinen über das, was man lassen und tun will, ganz bestimmte Entsagung von vielem. Proben, ob reif dazu.

[914]


Der Künstler-Philosoph. Höherer Begriff der Kunst. Ob der Mensch sich so ferne stellen kann von den andern Menschen, um an ihnen zu gestalten? (– Vorübungen: 1. der sich selbst Gestaltende, der Einsiedler; 2. der bisherige Künstler als der kleine Vollender, an einem Stoffe.)

[795]


Zum Kapitel »Musik«. – Deutsche und französische und italienische Musik. (Unsre politisch niedrigsten Zeiten die fruchtbarsten. Die Slaven?) – Das kulturhistorische Ballett: hat die Oper überwunden. – Schauspieler-Musik und Musiker-Musik. – Ein Irrtum, daß das, was Wagner geschaffen hat, eine Form sei – es ist eine Formlosigkeit. Die Möglichkeit des dramatischen Baues ist nun noch zu finden. – Rhythmisches. Der »Ausdruck« um jeden Preis. Hurenhafte Instrumentation. – Zu Ehren von Heinrich Schütz. – Zu Ehren Mendelssohns: ein Element Goethe darin und nirgends sonst! (ebenso wie ein andres Element Goethe in der Rahel zur Vollendung kam; ein drittes in Heinrich Heine.)

[835]
[503]

Die Physiologen sollten sich besinnen, den »Erhaltungstrieb« als kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor allem will etwas Lebendiges seine Kraft auslassen: die »Erhaltung« ist nur eine der Konsequenzen davon. – Vorsicht vor überflüssigen teleologischen Prinzipien! Und dahin gehört der ganze Begriff »Erhaltungstrieb«.

[650]


Der Leib als Herrschaftsgebilde

Die Aristokratie im Leibe, die Mehrheit der Herrschenden (Kampf der Zellen und Gewebe).

Die Sklaverei und die Arbeitsteilung: der höhere Typus nur möglich durch Herunterdrückung eines niederen auf eine Funktion.

Lust und Schmerz kein Gegensatz. Das Gefühl der Macht.

»Ernährung« nur eine Konsequenz der unersättlichen Aneignung, des Willens zur Macht.

Die »Zeugung«, der Zerfall eintretend bei der Ohnmacht der herrschenden Zellen, das Angeeignete zu organisieren.

Die gestaltende Kraft ist es, die immer neuen »Stoff« (noch mehr »Kraft«) vorrätig haben will. Das Meisterstück des Aufbaus eines Organismus aus dem Ei.

»Mechanistische Auffassung«: will nichts als Quantitäten: aber die Kraft steckt in der Qualität. Die Mechanistik kann also nur Vorgänge beschreiben, nicht erklären.

Der »Zweck«. Auszugehen von der »Sagazität« der Pflanzen.

Begriff der »Vervollkommnung«: nicht nur größere Kompliziertheit, sondern größere Macht (– braucht nicht nur größere Masse zu sein –).

Schluß auf die Entwicklung der Menschheit: die Vervollkommnung besteht in der Hervorbringung der mächtigsten Individuen, zu deren Werkzeug die größte Menge gemacht wird (und zwar als intelligentestes und beweglichstes Werkzeug).

[660]


Es wird von nun an günstige Vorbedingungen für umfänglichere Herrschafts-Gebilde geben, derengleichen es noch nicht gegeben hat. Und dies ist noch nicht das wichtigste; es ist die Entstehung von internationalen Geschlechts-Verbänden möglich gemacht, welche sich die Aufgabe setzen, eine Herren-Rasse heraufzuzüchten, die zukünftigen »Herren der Erde«; – eine neue, ungeheure, auf der härtesten Selbst-Gesetzgebung[504] aufgebaute Aristokratie, in der dem Willen philosophischer Gewaltmenschen und Künstler-Tyrannen Dauer über Jahrtausende gegeben wird – eine höhere Art Menschen, die sich, dank ihrem Übergewicht von Wollen, Wissen, Reichtum und Einfluß, des demokratischen Europas bedienen als ihres gefügigsten und beweglichsten Werkzeugs, um die Schicksale der Erde in die Hand zu bekommen, um am »Menschen« selbst als Künstler zu gestalten. Genug, die Zeit kommt, wo man über Politik umlernen wird.

[960]


Mein leidlich radikales Fragezeichen bei allen neueren Straf-Gesetzgebungen ist dieses: daß die Strafen proportional weh tun sollen gemäß der Größe des Verbrechens – und so wollt ihr's ja alle im Grunde! – nun, so müßten sie jedem Verbrecher proportional seiner Empfindlichkeit für Schmerz zugemessen werden – das heißt, es dürfte eine vorherige Bestimmung der Strafe für ein Vergehn, es dürfte einen Strafkodex gar nicht geben? Aber in Anbetracht, daß es nicht leicht gelingen möchte, bei einem Verbrecher die Grad-Skala seiner Lust und Unlust festzustellen, so würde man in praxi wohl auf das Strafen verzichten müssen? Welche Einbuße! Nicht wahr? Folglich – –

[743]


»Geradezu stoßen die Adler.« – Die Vornehmheit der Seele ist nicht am wenigsten an der prachtvollen und stolzen Dummheit zu erkennen, mit der sie angreift – »geradezu«.

[950]


»Das Paradies ist unter dem Schatten der Schwerter« – auch ein Symbolon und Kerbholz-Wort, an dem sich Seelen vornehmer und kriegerischer Abkunft verraten und erraten.

[952]


Eine Frage kommt uns immer wieder, eine versucherische und schlimme Frage vielleicht: sei sie denen ins Ohr gesagt, welche ein Recht auf solche fragwürdige Fragen haben, den stärksten Seelen von heute, welche sich selbst auch am besten in der Gewalt haben: wäre es nicht an der Zeit, je mehr der Typus »Herdentier« jetzt in Europa entwickelt wird, mit einer grundsätzlichen künstlichen und bewußten Züchtung des entgegengesetzten Typus und seiner Tugenden den Versuch zu machen? Und wäre es für die demokratische Bewegung nicht[505] selber erst eine Art Ziel, Erlösung und Rechtfertigung, wenn jemand käme, der sich ihrer bediente – dadurch, daß endlich sich zu ihrer neuen und sublimen Ausgestaltung der Sklaverei (– das muß die europäische Demokratie am Ende sein) jene höhere Art herrschaftlicher und cäsarischer Geister hinzufände, welche sich auf sie stellte, sich an ihr hielte, sich durch sie emporhübe? Zu neuen, bisher unmöglichen, zu ihren Fernsichten? Zu ihren Aufgaben?

[954]


Es gibt eine vornehme und gefährliche Nachlässigkeit, welche einen tiefen Schluß und Einblick gewährt: die Nachlässigkeit der selbstgewissen und überreichen Seele, die sich nie um Freunde bemüht hat, sondern nur die Gastfreundschaft kennt, immer nur Gastfreundschaft übt und zu üben versteht – Herz und Haus offen für jedermann, der eintreten will, seien es nun Bettler oder Krüppel oder Könige. Dies ist die echte Leutseligkeit: wer sie hat, hat hundert »Freunde«, aber wahrscheinlich keinen Freund.

[939] [506]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 478-507.
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