62.
An Friedrich Ritschl

[1058] Basel, 30. Jan. 72


Verehrtester Herr Geheimrat, Sie werden mir mein Erstaunen nicht verargen, daß ich von Ihnen auch kein Wörtchen über mein jüngst erschienenes Buch zu hören bekomme, und hoffentlich auch meine Offenheit nicht, mit der ich Ihnen dies Erstaunen ausdrücke. Denn dieses Buch ist doch etwas von der Art eines Manifestes und fordert doch am wenigsten zum Schweigen auf. Vielleicht wundern Sie sich, wenn ich Ihnen sage, welchen Eindruck ich etwa bei Ihnen, mein verehrter Lehrer, voraussetzte: ich dachte, wenn Ihnen irgend etwas Hoffnungsvolles in Ihrem Leben begegnet sei, so möchte es dieses Buch sein, hoffnungsvoll für unsere Altertumswissenschaft, hoffnungsvoll für das deutsche Wesen, wenn auch eine Anzahl Individuen daran zugrunde gehen sollte. Denn die praktische Konsequenz meiner Ansichten werde ich wenigstens nicht schuldig bleiben, und Sie erraten etwas davon, wenn ich Ihnen mitteile, daß ich hier öffentliche Vorträge »Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten« halte. Von persönlichen Absichten und Vorsichten fühle ich mich – wie Sie mir glauben werden, so ziemlich frei, und weil ich nichts für mich suche, hoffe ich etwas für andere zu leisten. Mir liegt vor allem daran, mich der jüngeren Generation der Philologen zu bemächtigen und ich hielte es für ein schmähliches Zeichen, wenn mir dies nicht gelänge. – Nun beunruhigt mich etwas Ihr Schweigen. Nicht als ob ich einen Augenblick[1058] an Ihrer Teilnahme für mich gezweifelt hätte; von der bin ich ein für alle Mal überzeugt – wohl aber könnte ich mir gerade von dieser Teilnahme aus eine gleichsam persönliche Besorgnis um mich erklären. Diese zu zerstreuen schreibe ich Ihnen. –

Das Register zum Rhein. Mus. habe ich bekommen. Haben Sie vielleicht meiner Schwester ein Exemplar geschickt?

Eine Anfrage, ob ich einen event. Ruf nach Greifswald annehmen würde, habe ich ohne einen Augenblick des Zögerns verneinend beantwortet.

Bleiben Sie mir, mein verehrter Herr Geheimrat, zusammen mit Ihrer Frau Gemahlin gewogen und seien Sie herzlich gegrüßt von

Ihrem Friedr. Nietzsche

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1058-1059.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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