Fünftes Buch.
Ueber den Begriff von [114] dynamei und energeia

1. Man sagt von dem einen, es sei ›der Möglichkeit nach‹, von dem andern, es sei ›in Wirklichkeit‹: man nennt auch im Seienden etwas ›Wirklichkeit‹. Es muss also untersucht werden, was es bedeutet ›der Möglichkeit nach‹ und ›in Wirklichkeit‹. Ist nun die Wirklichkeit dasselbe mit dem in Wirklichkeit sein, und ist, wenn etwas Wirklichkeit ist, dies auch in Wirklichkeit, oder ist beides voneinander verschieden und braucht das in Wirklichkeit Seiende nicht nothwendig auch Wirklichkeit zu sein? Dass nun im sinnlich Wahrnehmbaren das der Möglichkeit nach statt hat, ist klar. Es fragt sich, ob auch im Intelligiblen oder ob dort bloss das in Wirklichkeit. Und wenn das der Möglichkeit nach statt hat, so fragt sich, ob stets bloss der Möglichkeit nach, und wenn stets, ob es niemals in die Wirklichkeit tritt, da es durch die Zeit eben nicht vollendet wird. Doch zuerst muss gesagt werden, was das der Möglichkeit nach ist, wenn man nämlich von einem Sein der Möglichkeit nach schlechthin nicht sprechen darf. Denn es giebt kein ›der Möglichkeit nach‹ von Nichts. Das Erz ist z.B. der Möglichkeit nach Bildsäule. Denn wenn nichts aus ihm noch an ihm würde und es nach dem, was[114] es war, nichts anderes werden würde noch etwas anderes werden könnte, so würde es bloss sein was es war. Was es aber war, das war schon zugegen und nicht zukünftig; wie hätte es also etwas anderes sein mögen ausser eben dem Vorhandenen? Folglich würde es nicht der Möglichkeit nach sein. Es muss also das, was der Möglichkeit nach etwas anderes ist, eben durch das ›noch etwas anderes ausser sich vermögen‹ als der Möglichkeit nach bezeichnet werden, sei es dass es bleibt, indem es jenes hervorbringt, oder dass es selbst untergeht, indem es sich jenem was es vermag darbietet. Denn anders ist das Erz der Möglichkeit nach Bildsäule, anders das Wasser der Möglichkeit nach Erz und die Luft Feuer. Wenn nun das Sein der Möglichkeit nach so beschaffen ist, soll es auch Vermögen genannt werden hinsichtlich des Zukünftigen, das Erz also Vermögen der Bildsäule? Keineswegs, wenn der Ausdruck ›Vermögen‹ in Bezug auf das Machen verstanden wird, denn das in Bezug auf das Machen verstandene Vermögen kann nicht als der Möglichkeit nach genannt werden. Wenn aber das der Möglichkeit nach nicht bloss in Bezug auf das in Wirklichkeit gesagt wird sondern auch in Bezug auf Wirklichkeit, so kann auch das der Möglichkeit nach Vermögen sein. Es ist aber besser und deutlicher, von ›der Möglichkeit nach‹ im Gegensatz zu ›in Wirklichkeit‹ und von Möglichkeit im Gegensatz zu Wirklichkeit zu sprechen. Demnach ist das ›der Möglichkeit nach‹ so eine Art Substrat für Affectionen, Gestalten und Formen, welche es aufnehmen will und zu erlangen geeignet oder auch bestrebt ist, und zwar theils zum Bessern theils zum Schlechtern und zu dem, was es beeinträchtigt, wovon jedes auch in Wirklichkeit ein anderes ist.

2. Hinsichtlich der Materie aber muss untersucht werden, ob sie der Möglichkeit nach das ist wozu sie gestaltet wird, während sie in Wirklichkeit etwas anderes ist, oder ob sie in Wirklichkeit nichts ist und ob überhaupt auch das andere, was wir der Möglichkeit nach nennen, dadurch dass es die Form empfängt und dasselbe bleibt in Wirklichkeit wird, oder ob man den Ausdruck ›in Wirklichkeit‹ von der Bildsäule brauchen wird, indem man bloss die Bildsäule in Wirklichkeit der Bildsäule der Möglichkeit nach gegenüberstellt, nicht aber dieser Ausdruck von jenem gebraucht wird, welches als Bildsäule der Möglichkeit nach bezeichnet wurde. Wenn dem so ist, dann wird nicht das der Möglichkeit nach in Wirklichkeit, sondern aus dem, was früher der Möglichkeit nach war, wurde später das in Wirklichkeit. Denn eben das in Wirklichkeit Seiende[115] ist beides zugleich, nicht die Materie, wohl aber die Form an ihr. Und zwar ist dies der Fall, wenn eine andere Substanz wird, wie aus dem Erz die Bildsäule. Denn als beides zugleich ist die Bildsäule eine andere Substanz; bei dem aber, was überhaupt nicht bleibt, ist klar, dass das der Möglichkeit nach durchaus ein anderes war. Wenn aber der Grammatiker der Möglichkeit nach es in Wirklichkeit wird, wie sollte hier das der Möglichkeit nach nicht auch in Wirklichkeit dasselbe sein? Denn Sokrates der Möglichkeit nach ist derselbe Weise auch in Wirklichkeit. Ist nun etwa auch der Unwissende wissend? Denn er war der Möglichkeit nach wissend. Nun, accidentiell ist der Ungebildete wissend. Denn nicht insofern er ungebildet, ist er der Möglichkeit nach wissend, sondern accidentiell war er ungebildet, seine Seele aber, an sich gut beanlagt, war insofern sie auch wissend ist das der Möglichkeit nach. Es bewahrt also sein ›der Möglichkeit nach‹ auch ein Grammatiker der Möglichkeit nach, auch wenn er schon Grammatiker ist. Doch steht nichts im Wege, dass es sich auch auf andere Weise verhält: dort nämlich bloss der Möglichkeit nach, hier aber indem die Möglichkeit die Form hat. Wenn nun aber das der Möglichkeit nach das Substrat ist, das in Wirklichkeit beides zugleich, die Bildsäule: als was soll dann die Form am Erz bezeichnet werden? Es ist wohl nicht ungeeignet die Wirklichkeit, der zufolge etwas in Wirklichkeit und nicht bloss der Möglichkeit nach ist, die Form und die Gestalt zu nennen, nicht schlecht weg Wirklichkeit, sondern Wirklichkeit dieses Einzelnen. Sonst könnten wir vielleicht im eigentlichen Sinne auch eine andere Wirklichkeit so nennen, welche dem die Wirklichkeit herbeiführenden Vermögen entgegengesetzt ist. Denn das der Möglichkeit nach hat das in Wirklichkeit von einem andern, die Wirklichkeit dagegen hat was sie vermag der Möglichkeit nach von ihr, z.B. der habituelle Zustand und die nach ihm benannte Wirklichkeit, Tapferkeit und tapfer sein. Dies also auf diese Weise.

3. Weshalb aber dies vorher gesagt wurde, soll jetzt gesagt werden, nämlich wie wohl im Intelligiblen von dem ›in Wirklichkeit‹ gesprochen wird und ob alles und jedes bloss in Wirklichkeit oder auch Wirklichkeit ist und ob es dort auch das ›der Möglichkeit nach‹ giebt. Wenn aber dort weder Materie ist an welcher das ›der Möglichkeit nach‹ sich findet, noch etwas von dem dortigen sein wird was es nicht schon ist, und nichts durch sein Uebergehen in ein anderes oder durch sein Bleiben etwas anderes erzeugt oder durch sein[116] aus sich Heraustreten ein anderes an seiner Stelle sein lässt, so kann es dort kein ›der Möglichkeit nach‹ geben, worin alles wesenhaft ist, indem das Seiende auch Ewigkeit, nicht Zeit hat. Wenn nun jemand diejenigen, die auch dort im Intelligiblen Materie annehmen, fragen wollte, ob nicht auch dort an der dortigen Materie das der Möglichkeit nach vor handen sei – denn wenn daselbst die Materie auch in einer andern Weise vorhanden ist, so wird doch an jedem einzelnen Dinge etwas wie Materie, etwas anderes wie Form und wieder etwas beides zugleich sein – was werden sie sagen? Doch wohl, dass auch jenes der Materie etwa Gleichkommende daselbst Form sei, da auch die Seele, obwohl an sich Form, doch in Bezug auf ein anderes Materie sein kann. Also auch nicht in Bezug auf jenes der Möglichkeit nach? Nein. Denn sie war Form, die Form bezieht sich aber nicht auf die Zukunft und wird nicht getrennt ausser im Begriff und hat nur insoweit Materie als ein doppeltes gedacht wird, beides aber ist eine Natur; wie auch Aristoteles sagt, der fünfte Körper sei immateriell. Wie wollen wir uns aber über die Seele äussern? Sie ist der Möglichkeit nach lebendiger Organismus, auch wenn dieser noch nicht ist, aber sein wird, auch Musik der Möglichkeit nach und alles andere was sie wird ohne es ewig zu sein. Folglich findet sich auch im Intelligiblen Materie. Oder vielmehr, es ist das nicht der Möglichkeit nach, sondern die Seele ist die Möglichkeit davon. Wie aber ist dort das ›in Wirklichkeit?‹ Etwa wie die Bildsäule in Wirklichkeit beides zugleich ist, weil jedes die Form empfangen hat? Vielmehr weil jedes Form und vollständig das ist was es ist. Denn der Geist tritt nicht aus der Möglichkeit eines potentiellen Denkens in die Wirklichkeit des Denkens – dann würde er eines andern Höheren bedürfen, das nicht aus der Möglichkeit stammte – sondern in ihm ist das Ganze. Denn das der Möglichkeit nach Seiende will durch das Hinzukommen von etwas anderem in die Wirklichkeit geführt werden um etwas in Wirklichkeit zu werden; was aber an sich selbst stete Identität mit sich selber hat, das ist in Wirklichkeit. Alle ersten Principien sind also in Wirklichkeit, denn sie haben was sie haben müssen an sich selbst und ewig. Und so auch die Seele d.h. die nicht in der Materie sondern im Intelligiblen befindliche. Auch die in der Materie befindliche ist in Wirklichkeit eine andere, z.B. die vegetative; denn auch sie ist in Wirklichkeit was sie ist. So ist also wohl alles in Wirklichkeit und wesenhaft, und alles auch Wirklichkeit? Oder[117] wie sonst? Wenn demnach jene Natur mit Recht als ›schlaflos‹ bezeichnet ist, als Leben und bestes Leben, so dürften dort die schönsten Wirklichkeiten sein. Folglich ist alles in Wirklichkeit und Wirklichkeit und alles Leben, und der Ort daselbst ist der Ort des Lebens und in Wahrheit Princip und Quelle der Seele und des Geistes.

4. Alles andere nun, was der Möglichkeit nach etwas ist, ist auch in Wirklichkeit etwas anderes, was, indem es bereits ist, im Verhältniss zu einem andern als Sein der Möglichkeit nach bezeichnet wird. Wie will man aber von der angeblich seienden Materie, welche wir als die Totalität des Seienden der Möglichkeit nach bezeichnen, sagen, dass sie in Wirklichkeit etwas von dem Seienden sei? Denn dann würde sie ja nicht mehr die Totalität des Seienden der Möglichkeit nach sein. Wenn sie aber nichts von dem Seienden ist, dann ist sie ja nothwendigerweise selbst nichts Seiendes. Wie soll sie nun in Wirklichkeit etwas sein, wenn sie nichts von dem Seienden ist? Sie mag nichts von dem Seienden sein, was an ihr wird, immerhin aber kann sie etwas anderes sein, da ja auch nicht alles Seiende an der Materie ist. Wenn sie nun nichts von dem ist, was an ihr ist, dies aber das Seiende ist, so ist sie ein nicht Seiendes. Da sie als etwas formloses vorgestellt wird, kann sie aber auch nicht Form sein, folglich auch nicht unter die Formen gezählt werden. Sie ist also auch in dieser Hinsicht etwas nicht Seiendes. Da sie also nach beiden Seiten hin im nicht Seienden ist, so wird sie in mehrfachem Sinne ein nicht Seiendes sein. Wenn sie nun von der Natur des in Wahrheit Seienden fern ist, aber auch das nicht einmal erreichen kann, dem fälschlich Sein beigelegt wird, weil sie nicht einmal ein Schattenbild des Begriffes ist wie dieses, in welchem Sein soll sie denn mit begriffen werden? Und wenn in keinem Sein, was soll sie denn in Wirklichkeit sein?

5. Wie also werden wir von ihr sprechen? Wie ist sie Materie des Seienden? Eben weil sie es der Möglichkeit nach ist. Aber darum ist sie nicht schon insofern sie sein wird, sondern das Sein ist für sie bloss das in Aussicht gestellte, zukünftige; das Sein wird für sie gleichsam auf das verschoben was sein wird. Der Möglichkeit nach ist sie jedoch nicht ein einzelnes Etwas, sondern der Möglichkeit nach ist sie alles. Indem sie aber nichts an sich ist, sondern was sie als Materie ist, ist sie auch nicht in Wirklichkeit. Denn wenn sie etwas in Wirklichkeit ist, so wird das, was sie in Wirklichkeit ist, nicht Materie sein; sie wäre also nicht schlechthin Materie,[118] sondern wie das Erz. So ist sie denn das Nichtseiende, nicht als etwas vom Seienden verschiedenes, wie z.B. die Bewegung, denn diese haftet noch am Seienden als von ihm ausgehend und an ihm stattfindend, vielmehr ist sie wie ausgestossen und gänzlich isolirt nicht im Stande sich zu verändern, sondern stets sich gleichbleibend, was sie von Anfang war – nichtseiend. Aber sie war weder von Anfang an etwas in Wirklichkeit, entfernt von allem Seienden, noch wurde sie etwas. Denn von dem, worein sie eingehen wollte, hat sie nicht einmal eine Färbung annehmen können, sondern indem sie für anderes bleibt und für das weitere der Möglichkeit nach ist, indem sie erscheint, wenn jenes Seiende bereits aufgehört hat, und von dem nach ihr Werdenden ergriffen wird, ist sie auch von diesem das äusserste. Von beiden nun ergriffen gehört sie in Wirklichkeit zu keinem von beiden, nur der Möglichkeit nach bleibt ihr übrig ein schwaches und dunkles Bild zu sein, das nicht gestaltet werden kann. In Wirklichkeit also ist sie ein Trugbild, also eine Lüge in Wirklichkeit; das heisst so viel als sie ist die wahrhafte Lüge, das wirklich Nichtseiende. Wenn sie nun in Wirklichkeit das Nichtseiende ist, so ist sie das Nichtseiende in höherem Grade und demnach das wirklich Nichtseiende. Weit entfernt also in Wirklichkeit etwas von dem Seienden zu sein, hat sie ihre Wahrheit vielmehr im Nichtseienden. Wenn sie also sein muss, so muss sie in Wirklichkeit nicht sein, um aus dem wahrhaften Sein herausgetreten im Nichtsein ihr Sein zu haben. Denn wenn man dem fälschlich Seienden seine Falschheit nimmt, so nimmt man ihm sein bisheriges Wesen, und wenn man an das, was das Sein und die Wesenheit der Möglichkeit nach hatte, die Wirklichkeit heranführt, so vernichtet man den Grund seiner Daseinsform, weil das Sein für dasselbe in der Möglichkeit bestand. Wenn man nun die Materie als unvergänglich festhalten muss, so muss man sie auch als Materie festhalten. Man darf also, wie sich ergiebt, nur sagen, dass sie der Möglichkeit nach sei, damit sie sei was sie ist, oder man muss diese Auseinandersetzung widerlegen.

Quelle:
Plotin: Die Enneaden. Band 1, Berlin 1878, S. 114-119.
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