Siebentes Buch.
Ueber die Frage, ob es auch von den Einzeldingen Ideen giebt

[198] 1. Ob es auch von dem Einzeldinge eine Idee giebt? Nun, wenn ich und jeder einzelne sich auf das Intelligible zurückführt, so liegt auch der Ursprung eines jeden dort. Und wenn Sokrates und die Seele des Sokrates stets sind, so wird es auch einen Sokrates an sich geben insofern die Einzelseele auch dort ist; wenn aber nicht immer, sondern wenn zu einer andern Zeit eine andere Seele wird d.h. der frühere Sokrates etwa Pythagoras oder ein anderer, so ist dieser einzelne nicht mehr dort. Aber wenn die Seele eines jeden die Begriffe von dem allen hat was sie durchdringt, so sind alle auch dort, und wir sagen ja auch, dass eine jede Seele alle die Begriffe hat, die der Kosmos hat. Wenn nun der Kosmos nicht bloss die Begriffe eines Menschen, sondern auch aller einzelnen lebenden Wesen hat, so auch die Seele; unendlich wird also das Gebiet der Begriffe sein, ausser wenn nach gewissen der Kreislauf sich schliesst und so die Unendlichkeit begrenzt wird, wenn ebendieselbe Mittheilung erfolgt. Wenn nun überhaupt die werdenden Dinge in grösserer Anzahl vorbanden sind als das Musterbild, wozu braucht es dann der Begriffe und Musterbilder von alle dem was in einer[198] Periode wird? Denn es scheint ein Mensch zu genügen für alle Menschen, wie auch Seelen in begrenzter Anzahl unzählig viele Menschen hervorbringen. Allein Verschiedenes kann nicht nach demselben Maassstabe gemessen werden und ein beliebiger Mensch genügt nicht zum Musterbilde für bestimmte menschliche Individuen, die untereinander verschieden sind nicht bloss durch die Materie, sondern auch durch unzählige specifische Unterschiede; denn sie verhalten sich nicht wie die Bilder des Sokrates zum Original, sondern man muss den Unterschied bestimmen aus der Verschiedenheit der Begriffe. Denn die gesammte Periode hat alle Begriffe, und bei der Wiederholung kehrt ebendasselbe wieder nach denselben Begriffen. Vor der Unbegrenztheit [unendlichen Mannigfaltigkeit] im Intelligiblen braucht man sich nicht zu scheuen; denn sie ist ganz im Untheilbaren und tritt gleichsam hervor, wenn sie thätig wirkt.

2. Allein wenn die Mischungen der [im Samen enthaltenen] Begriffe des Männlichen und Weiblichen verschiedene Individuen hervorbringen, so wird es nicht mehr von einem jeden erzeugten einen Begriff geben und jeder erzeugende von den beiden z.B. der männliche wird nicht nach verschiedenen Begriffen hervorbringen, sondern nach einem, dem eigenen oder dem seines Vaters. Doch vielleicht hindert auch nichts, dass es nach verschiedenen geschehe, weil sie sie alle haben, einige ihnen aber stets zur Hand sind. Wenn aber verschiedene Kinder von denselben Eltern gehören werden? Das kommt daher, weil nicht dieselbe Kraft gleichmässig das Uebergewicht erhält. Aber jenes ist der Fall, nicht weil beim Erzeugen bald der männliche, bald der weibliche Theil den grössten Einfluss ausübt; jeder hat zu gleichen Theilen beigetragen, oder vielmehr: er hat das Ganze beigetragen und dies liegt auch darin, es gewinnt aber der eine oder der andere Theil die Oberhand über die Materie. Dann giebt also wohl die Materie, die nicht in gleicher Weise bewältigt wird, den Unterschied ab? Dann wären alle Individuen mit Ausnahme des einen wider die Natur. Wenn aber der mannigfache Unterschied etwas schönes ist, so ist die Form nicht eine. Aber der Hässlichkeit allein ist es zuzuschreiben, dass wider die Natur die Materie die Oberhand gewinnt über die vollkommenen Begriffe, die wohl verborgen, aber doch in ihrer Ganzheit vorhanden sind. Doch es seien immerhin die Begriffe verschieden: warum müssen es so viele sein als Individuen in einer Periode entstehen, wenn es nämlich möglich ist, dass beim Vorhandensein[199] derselben Begriffe nach aussen hin verschiedene zur Erscheinung kommen? Es ist zugestanden, wenn die ganzen gegeben werden; es fragt sich aber, ob auch wenn ein und dieselben die Oberhand haben. Kommt es vielleicht daher, dass in der andern Periode durchaus die Identität, in dieser aber die Identität durchaus nicht statthat?

3. Wie werden wir nun behaupten können, dass in den vielen Zwillingen die Begriffe verschieden seien? Ebenso wenn man die übrigen lebenden Wesen ansieht, besonders die Thiere, welche auf einmal viele Jungen zur Welt bringen? Nun, da wo sich die Jungen nicht von einander unterscheiden, ist nur ein Begriff. Aber wenn dies, so sind nicht ebenso viele Begriffe da als Einzelwesen. Doch es sind so viele da als verschiedene Einzelwesen und zwar verschiedene nicht dadurch, dass sie der Form [Species] nach hinter andern zurückbleiben. Aber was hindert, dass auch in den nichtverschiedenen Einzelwesen verschiedene Begriffe sind? Wenn es nämlich überhaupt durchaus nichtverschiedene [ununterschiedene] giebt. Denn der Künstler z.B. muss, auch wenn er nichtunterschiedene Dinge macht, gleichwohl das Identische durch einen logischen Unterschied auffassen, nach welchem er etwas anderes machen wird, indem er etwas verschiedenes mit dem Identischen zusammenhält; in der Natur, wo das Verschiedene nicht durch Ueberlegung sondern nur durch Begriffe entsteht, muss mit der Form der Unterschied verknüpft sein, wir sind nur nicht im Stande den Unterschied zu fassen. Und wenn bei der schöpferischen Thätigkeit der Zufall hinsichtlich der Anzahl statthat, dann ist der Begriff ein anderer; wenn aber die Anzahl fest abgemessen ist, so wird die Quantität bestimmt sein durch die Entwickelung und Entfaltung der gesammten Begriffe, und zwar wird dann, wenn alles zu Ende ist, ein anderer Anfang stattfinden; denn die Grösse der Welt und die Zahl der lebenden Wesen, die sich in ihrem Leben durch sie hin entwickeln, liegt von Anfang an beschlossen in dem was die Begriffe enthält. Giebt es nun auch bei den andern Thieren, bei denen eine Menge Junge durch eine Geburt entsteht, ebensoviele Begriffe? Doch die unbegrenzte Menge in den Samenkörnern und Begriffen ist nicht zu fürchten, da die Seele alles insgesammt in sich fasst. Doch auch im Intellect ist die unbegrenzte Menge dieser, sofern sie in der Seele ist, während jene in der intelligiblen Welt wiederum zu einer neuen Schöpfungsperiode bereit sind.[200]

Quelle:
Plotin: Die Enneaden. Band 2, Berlin 1880, S. 198-201.
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