Elfte Vorlesung

[611] Die philosophische Religion, wie sie von uns gefordert ist, existiert nicht. Aber sofern sie durch ihre Stellung die Bestimmung hat, die begreifende der vorausgehenden, von Vernunft und Philosophie unabhängigen Religionen zu sein, insofern ist sie Zweck des Prozesses von Anfang, also das nicht heut oder morgen, aber doch gewiß zu Verwirklichende und nie Aufzugebende, das so wenig als die Philosophie selbst unmittelbar, sondern auch nur infolge einer großen und langdauernden Entwicklung erreicht wird.

Alles hat seine Zeit. Die mythologische Religion mußte vorausgehen. In der mythologischen ist die blinde, weil in einem notwendigen Prozeß sich erzeugende, die unfreie, die ungeistige Religion. Die Offenbarung, diejenige nämlich, die in das Heidentum selbst einzudringen bestimmt ist (vom Judentum wurde das Heidentum bloß ausgeschlossen), die letzte und höchste Offenbarung also, indem sie die ungeistige Religion innerlich überwindet, das Bewußtsein gegen sie in Freiheit setzt, vermittelt auf diese Art selbst die freie Religion, die Religion des Geistes, die, weil es ihre Natur ist nur mit Freiheit gesucht und mit Freiheit gefunden zu werden, nur als philosophische sich vollkommen verwirklichen kann.

Die philosophische Religion ist demnach durch die geoffenbarte geschichtlich vermittelt. Der mythologische Prozeß erreicht im hellenischen Bewußtsein sein Ende und die letzte Krisis; wir sahen an diesem Punkt den ersten Schimmer einer Philosophie hervorbrechen, welche die Mythologie zu begreifen suchte; aber ihr Grund wurde damit nicht aufgehoben, das Resultat[611] des Prozesses bleibt im Bewußtsein, die vollkommene Befreiung wird von den Mysterien selbst, deren Ausbildung Herodotos Philosophen (sophistais) zuschreibt, in die Zukunft verwiesen. In der mythologischen Religion hat sich das ursprüngliche Verhältnis des Bewußtseins zu Gott in ein reales und bloß natürliches verwandelt; von dieser Seite wird es als ein notwendiges empfunden, und doch ist es von der andern ein vorübergehendes, das in sich selbst die Forderung eines höheren enthält, durch das es aufgehoben und so erst sich selbst verständlich werden soll. Dies ist der tragische Zug, der durch das ganze Heidentum geht. Das Gefühl jener Forderung, und damit eines Zukünftigen, notwendig Bevorstehenden und doch jetzt nicht Erkennbaren, mag man in einzelnen Äußerungen bei Platon zu erkennen glauben, und darin, wenn man will, Ahndungen des Christentums sehen. Sokrates, der feindseliger Absichten gegen die alten Götter beschuldigt war, erkennt diese für die Gegenwart so weit an, daß er den eines Entschlusses wegen zweifelhaften Xenophon an das delphische Orakel verweist, und seinen Schülern befiehlt, nach seinem Tode wie für die Genesung von einer schweren Krankheit dem Asklepios einen Hahn zu opfern. Aristoteles von allem Ahndungsvollen in Platon frei, äußert zwar im Anfang der Metaphysik: auch der Philosoph sei ein die Mythen Liebender wegen des Wunderbaren, das sie enthalten, und er kann es nicht lassen, von Zeit zu Zeit seinen Blick nach der Mythologie hinzuwenden; aber daß ihn die Mythologie als eine unvollendete Tatsache anläßt, der nichts für die Wissenschaft abzugewinnen ist, erhellt daraus, daß er, dessen Geist alles in der Erfahrung Gegebene aufs Großartigste umfaßt, nie daran gedacht hat, seine Untersuchungen auf religiöse Tatsachen und Erscheinungen auszudehnen. Welch ein Werk, wenn Aristoteles ebenso wie die verschiedenen Staatsverfassungen auch die verschiedenen Religionen der Völker darstellte, von denen in weite Fernen hin er durch seinen königlichen Schüler nicht weniger Kunde erhalten konnte, als von Tieren entlegener Himmelsstriche10! Einmal jedoch und gewissermaßen im Höhepunkt[612] seiner Metaphysik läßt er seine Meinung über die Mythologie erkennen. Wenn man von dem, was die ganz Alten (pampalaioi) in Gestalt des Mythos (en mythou schêmati) hinterlassen haben, nur das nehme, daß sie die ersten Substanzen (tas prôtas aousias) Götter nennen, das Andere aber, daß sie die Götter in menschlicher Gestalt oder anderen lebenden Wesen ähnlich vorstellen, nur in Rücksicht auf den großen Haufen und fürs gemeine Leben hinzugefügt annehme, so müsse man das Erste für göttlich gesagt erklären, und es seien in diesem Betracht wahrscheinlicherweise, da jede Kunst und jede Philosophie mehr als einmal, soweit es jederzeit möglich gewesen, erfunden worden und wieder verloren gegangen, auch jene Meinungen als solche Überbleibsel (leipsana) bis auf unsere Zeit gerettet worden11. So konnte er denn freilich keine Quelle von Erfahrungserkenntnis in der Mythologie sehen, nicht mehr wenigstens als in den Meinungen der Philosophen vor ihm, zu denen er auch den Hesiodos stellt12 mit dem einzigen Unterschied, daß er diesen zu den mythisch Philosophierenden (mythikôs sophizomenous) zählt, mit welchen tiefer sich einzulassen nicht lohne, nicht zu den beweisend zu Werk Gehenden (di apodeixeôs legontas)13. Wie die späteren philosophischen Schüler (Stoiker und Epikureer) die Mythologie zu erklären gesucht, haben wir seinerzeit gesehen; allein von Erklärung im Allgemeinen ist hier nicht mehr die Rede, sondern davon, ob irgend eine Philosophie oder philosophische Schule die Mythologie als Religion und zwar in ihrer Eigentlichkeit zu begreifen gewußt habe. Nenne ich nun hier die Neuplatoniker, so wäre es leicht, ihre allegorischen Erklärungen mythologischer Vorstellungen als Beweise anzuführen, wie sie sich gegen diese eben ganz als Rationalisten verhielten. Weil sie jedoch, wie früher bemerkt, um dem Christentum mit gleicher[613] Macht zu begegnen, sich gewissermaßen genötigt sahen, der alten Götterlehre einen höheren geistigen Inhalt zu geben, suchten sie dieses auf zweierlei Weise zu bewerkstelligen, einmal, indem sie ihrer Philosophie selbst das Ansehn einer Mythologie zu verschaffen sich bestrebten, wobei freilich letztere nicht viel zu gewinnen hatte, wie wenn Plotinos die höchsten Prinzipien seiner Philosophie mit Uranos, Kronos, Zeus verglich oder ihnen diese Namen gab, sodann, indem sie die Mythologie selbst als eine Art von Philosophie erklärten, nur (worin sie allerdings bestimmtere Einsicht als Aristoteles zeigten) als unbewußte, natürliche (autophyês philosophia), wie sie Julianus wirklich genannt hat; allein in gleichem Verhältnis hatte sie aufgehört, ihnen Religion zu sein, weshalb die nach Porphyrios Gekommenen theurgische, magische Zeremonien, Opfer, Beschwörungen und ähnliche Handlungen mit der Philosophie in Verbindung zu setzen anfingen. Ob aber die Neuplatoniker überhaupt, durch das Christentum gedrungen die überlieferte Götterlehre als Wahrheit zu behaupten, nicht dadurch und durch das Ekstatische der Mythologie selbst zu der Meinung geführt worden, daß nur in einer ebenfalls ekstatischen (über die Vernunft hinausgehenden) Philosophie die Mittel diese zu begreifen gefunden werden können, überhaupt nur Ekstase der neueren Zeit und ihrer Aufgabe gewachsen sei, diese Frage würde sich besser infolge späterer Entwicklungen aufwerfen lassen. Welche Annäherung zu einer philosophischen Religion aber man auch den Neuplatonikern zuschreiben möchte: es würde gegen unsere Behauptung, daß diese nur durch das Christentum vermittelt wurde, nichts beweisen, denn die Neuplatoniker gehören nicht mehr dem reinen Altertum, sondern der Übergangszeit an, und sind bereits von dem Geist des Christentums angeweht, wie sehr sie sich ihm auch verschließen und entgegensetzen.

Aber auch nur vermittelt ist durch das Christentum die freie Religion, nicht unmittelbar durch dasselbe gesetzt. Das Bewußtsein muß ebenso wieder von der Offenbarung frei geworden sein, um zu jener fortzugehen. Auch die Offenbarung wird wieder eine Quelle zunächst unfreiwilliger Erkenntnis. Als Negation des Heidentums und in diesem Gegensatz zu ihm wirkt[614] das Christentum selbst auch als reale, unbegriffene Macht (denn nicht durch »vernünftige Reden menschlicher Weisheit« wurde das Heidentum überwunden); dem äußerlich noch mächtigen gegenüber mußte für eine gewisse Zeit das Christentum selbst auch zur äußeren und blinden Gewalt werden – in der Kirche, deren frühere erdrückende Macht ein noch nicht ergründetes Geheimnis ist, inwiefern sie kein bloßes Werk menschlicher Willkür, wie man gewöhnlich sich vorstellt, sein konnte; es war die Macht, die das Christentum dem Heidentum ausgezogen hatte, um sie selbst an sich zu nehmen14. Es kommt indes die Zeit, wo nach völliger Überwindung des Heidentums das Christentum seine Spannung gegen dasselbe verliert, und bis dahin Prinzip unfreiwilliger Erkenntnis, nun selbst Gegenstand freiwilliger Erkenntnis wird und insoweit nun mit dem Heidentum auf die gleiche Linie tritt. Vorzeichen dieses Gleichgewordenseins waren die plötzlich erwachte Begeisterung, ja Liebe für das klassische Altertum, in dem die christliche Bildung keinen Gegensatz mehr sah, der große Umschwung der Künste, das Verlassen der kirchlich überlieferten Typen gegen eine menschliche, natürlich insofern als heidnisch oder profan erscheinende Darstellung der christlichen Gegenstände, der freie Verkehr mit dem Heidentum, der Standpunkt der großen Literatoren des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts, denen Heidentum und Christentum nahezu als gleichgültig erschienen, indem sie beide gewissermaßen unter sich sahen, wie wenn Kardinäle der heiligen Kirche im Namen des Papstes sprechend denselben »Stellvertreter der unsterblichen Götter auf Erden«, die heilige Jungfrau selbst Göttin zu nennen nicht an standen15. Solcher Leichtsinn ließ das noch tiefer ins Innere der Kirche gedrungene Heidnische übersehen; als ein solches erschien die mächtige, hochbevorrechtete Priesterschaft, die sich im Christentum neu erhoben, erschien das beständige Opfer, erschienen die Büßungen, Kasteiungen, Beschwörungen, der auf äußere und tote Formen gegründete Gottesdienst,[615] erschien die Engel-, die Märtyrer-, die Heiligenverehrung den Urhebern der Reformation, die diesem heidnisch gewordenen das ursprüngliche Christentum aus der Zeit, wo es selbst noch vom Heidentum unterdrückt sich rein und frei von ihm erhalten hatte, samt den Aussprüchen der Apostel entgegensetzten, welche teils selbst hinausgesehen hatten in ein Reich der vollkommenen Freiheit, das sie als Ziel bezeichneten, teils das Zwischenreich eines unausbleiblich zu erwartenden Widerchristentums vorhergesagt hatten.

Die Kirche konnte sich als fortdauernde, immer gegenwärtige Offenbarung geltend machen; aber die Offenbarung, die infolge der Reformation nur noch als eine vergangene, durch schriftliche, unter nicht auszuschließenden Zufälligkeiten entstandene Denkmäler zu uns spricht, war unvermeidlich der Kritik ausgesetzt, die von den Denkmälern zum Inhalt fortgehend, erst vielleicht nur die Wahrheit der gegebenen, aber bald auch die Möglichkeit einer Offenbarung bestreitet. Durch einen unaufhaltsamen Fortschritt, zu dem das Christentum selbst mitwirkte, mußte das Bewußtsein, nachdem von der Kirche, auch von der Offenbarung selbst unabhängig werden, aus der unfreien Erkenntnis, in der es auch gegen diese sich noch befand, in den Stand des gegen sie vollkommen freien, zunächst nun freilich erkenntnislosen Denkens versetzt werden. Bei diesem, dieser inhaltslosen Freiheit, mit der auch jetzt manche alles getan wähnen, konnte es sein Bewenden nicht haben. Eine neue Entwicklung mußte also folgen.

Nun ist das, was der Offenbarung insgemein und am unmittelbarsten entgegengesetzt wird, die Vernunft; aber das Bewußtsein, das sich der Offenbarung entzog, konnte zunächst nur der ihm natürlichen, also ebensowenig freien Erkenntnis anheimfallen – der natürlichen Vernunft, welche, wie der Apostel sagt, vom Geist Gottes nichts vernimmt, sondern zu allem Göttlichen nur ein äußeres und formelles Verhältnis hat, durch welche also das Bewußtsein nur einer andern Notwendigkeit, einem andern Gesetz und andern Voraussetzungen, nämlich denen seines unbegriffenen Erkenntnisvermögens anheimfällt16.[616]

Eine auf diesen natürlichen Voraussetzungen gebaute Wissenschaft hatte indes nicht erst nach der Lossagung von der Kirche zu entstehen. Unter der Bedingung, daß sie keinen Anspruch machte, den Inhalt der geoffenbarten Religion als eine begriffene zu besitzen, also philosophische Religion in diesem Sinne zu sein, war sie von der Kirche, der noch unerschüttert herrschenden, selbst nicht allein zugelassen, sondern sogar begünstigt; diese Wissenschaft existierte in der scholastischen Metaphysik, welche eine im eben bezeichneten Sinn sogenannte natürliche oder rationale Theologie (von einer Vernunftreligion war noch nicht die Rede) zu ihrem Schluß und Ende hatte.

Die Natur dieser Metaphysik zu verstehen, muß man wissen, daß sie drei von der Offenbarung unabhängige, voneinander verschiedene Quellen der natürlichen Erkenntnis, als ebensoviel Autoritäten zu Voraussetzungen hatte, nämlich:

a) Die Autorität der allgemeinen Erfahrung, derjenigen, die uns des Daseins und der Beschaffenheit der sinnlichen Dinge, sowie des eignen äußern und innern Daseins und der bleibenden sowohl als wechselnden Bestimmungen desselben versichert. (Die Offenbarung als besondere Erfahrung war schon durch die erste Definition der Wissenschaft ausgeschlossen, zu der das »seposita revelatione« gehörte.)

b) Die Autorität der allgemeinen, nicht erst durch Erfahrung erworbenen Prinzipien, die als koinai ennoiai, als dem Bewußtsein eingeborne gedacht wurden, und unter denen das Gesetz der Ursache (sowohl der Ursache überhaupt, als der der Wirkung angemessenen Ursache) das weitreichendste war.

c) Die Autorität der Vernunft als des Vermögens der Demonstration oder des Schlusses. Als eine besondere Quelle von Erkenntnis wurde dieses angesehen, inwiefern man annahm, es seien durch Schlüsse, in welchen jene allgemeinen, den Charakter der Notwendigkeit an sich tragenden Grundsätze auf das[617] in der Erfahrung Gegebene, Zufällige angewendet wurden, auch solche Gegenstände erreichbar, die außer aller Erfahrung liegen, z.B. das immaterielle Wesen der menschlichen Seele; insbesondere aber lasse sich auf diese Weise das Dasein Gottes wirklich erweisen17.

Denn allein um das Dasein Gottes war es in dieser Metaphysik zu tun, nicht um die Natur, und gegen das in der Erfahrung Gegebene mußte dieses Dasein allerdings ein notwendiges sein. Wenn eine Welt zufälliger Existenzen, insbesondere eine im Ganzen und im Einzelnen als zweckmäßig sich erweisende gegeben ist, so muß eine letzte Ursache und selbst eine intelligente und freiwollende angenommen werden, aber in sich selbst hat diese Ursache darum keine Notwendigkeit zu existieren. Man mußte freilich nach der Hand sagen: das, was die letzte Ursache von allem enthält, kann nicht selbst wieder zufällig existieren, noch eine Ursache seines Daseins außer sich haben, also existiert es notwendig, wohlzumerken, wenn es existiert; aber daß es existiert, ist keine Folge dieser Argumentation, sondern dabei immer schon vorausgesetzt. Der Beweis dafür war also kein anderer, als wie er auch für das Dasein irgend eines anderen einzelnen, nur nicht in unmittelbarer Erfahrung gegebenen Objekts (z.B. eines noch nie gesehenen Planeten) sich geben ließe. An sich war Gott bloßes Objekt der Erfahrung, reines Einzelwesen, der Schluß nur Ersatz der wirklichen, für den natürlichen Menschen unmöglichen Erfahrung. Dem angeblich apodiktischen Argument, das von der Idee, dem was Gott ist, ausgehend, dessen Existenz, daß er ist, folgert, dem darum ontologisch genannten Argument hatte selbst das große Ansehen des berühmten Kirchenlehrers Anselmus keinen Eingang in die herrschende Metaphysik verschaffen können. Die großen[618] Scholastiker, wie Thomas von Aquino, ließen es nicht zu, es blieb bei den Beweisen, von denen die Erfahrung ein Element ist und von denen die Späteren – nicht erst Gabriel Biel sondern schon Occam – erklärten, daß sie nur Probabilität, keine apodiktische Gewißheit gewähren. Wurde die Schlußwissenschaft der Metaphysik demungeachtet rationale Theologie genannt, so war es, weil unter Vernunft als Gegensatz der Offenbarung das Ganze der dem Menschen natürlichen Erkenntnis, insoweit also auch die Erfahrung, begriffen war. Als besondere Quelle der Erkenntnis hatte die Vernunft auch in der Metaphysik bloß formale oder instrumentale Bedeutung, und in diesem Sinn als bloßes Vermögen zu schließen, konnte sie dann um so weniger in der eigentlichen, auf die Autorität der Offenbarung sich stützenden Theologie eine andere als die bloß dienende Rolle ansprechen; es war nur eine Unwissenheit, wenn man aus dieser der Vernunft angewiesenen Stellung der christlichen Theologie einen Vorwurf machen wollte18.

Diese Bedeutung also der mittelalterlichen Metaphysik muß man wohl aufgefaßt und verstanden haben, um den Übergang in die folgende, die neuere Zeit zu verstehen. Denn, gerade wie zuvor von der Offenbarung (wenigstens formell), sollte das Bewußtsein auch wieder von der natürlichen Erkenntnis frei werden. Denn nicht umsonst haben wir von den verschiedenen Quellen derselben als ebensoviel verschiedenen Autoritäten gesprochen. Das Zeugnis der Sinne, dem wir glauben und auf dem der ansehnlichste Teil unserer Erfahrungserkenntnis beruht, ist die allgemeinste Autorität, der sich jeder blindlings unterwirft, vor der unmittelbar sogar jede andere verstummt. Aber auch den allgemeinen Grundsätzen, von denen wir in unseren Urteilen bestimmt werden, z.B. dem Gesetz der Ursache und Wirkung, gehorcht unser Inneres fast nicht anders, als der Körper dem Gesetz der Schwere gehorcht19, wir urteilen ihm gemäß nicht weil wir wollen oder infolge eigentlicher Einsicht, sondern weil[619] wir nicht anders können. Ebenso üben die Gesetze des Vernunftschlusses, ohne daß und ehe wir derselben bewußt sind, über uns eine völlig blinde Gewalt aus. Zuerst nun das Ansehn des Syllogismus – nicht sein Gebrauch, überhaupt aber seine Tauglichkeit zur Erforschung der Prinzipien und der Ursachen, wurde durch Baco bestritten, der von den drei Quellen der Erkenntnis die Sinnenerfahrung als die einzig berechtigte stehen ließ, und von keinem Allgemeinen wissen wollte, als das durch Induktion in diesem Sinne gewonnen wäre. Descartes aber hatte dem metaphysischen Schluß selbst den Stoff entzogen, indem er gerade die Realität der Sinnenvorstellungen, auf welche jener zuletzt allein alles bauen wollte, in Zweifel zog, und selbst der objektiven Gültigkeit der allgemeinen Wahrheiten nicht mehr unmittelbar vertrauen wollte. Damit war das ganze künstliche Gewebe der Metaphysik völlig zerrissen. Dieser Riß vervollständigte nur den Bruch, der durch die Reformation in das System der bisher geltenden Erkenntnisse gemacht worden. Sie selbst, mehr aus tief religiöser und sittlicher Erregung als wissenschaftlichem Geist hervorgegangen, hatte die alte Metaphysik unangetastet stehen lassen, war aber eben dadurch unvollendet geblieben. Ein dunkler Drang hatte den Jüngling Descartes auf den Schallplatz des großen politischen Kampfs, den die Reformation in Deutschland zu bestehen hatte, und in die Heerlager ihrer Gegner geführt, und unzweifelhaft wohl in Deutschland hat er die erste Grundlage seines Gedankensystems gefunden. Unter beständigen Beteurungen seiner Anhänglichkeit an die Kirche, deren Urteil er alle seine Lehrsätze unterwerfen zu wollen erklärte, suchte er ein Asyl in Holland, das er nur verließ, um im äußersten Norden Europas bei der Tochter des Helden, der die Sache der Reformation in Deutschland wieder aufgerichtet hatte, den letzten Wohnsitz anzunehmen, wie er eine warme Freundin seiner Philosophie an der Gemahlin20 des unglücklichen Fürsten gefunden, gegen den er selbst einst mit am weißen Berg gestanden hatte. Einem solchen, von der Reformation selbst unabhängig gebliebenen Geist war es also bestimmt, den ersten[620] Anstoß zu der vollendeten Befreiung zu geben, der selbst unsere Zeit nur entgegengeht.

Bis jetzt, wenn das Wort im allgemeinen Sinne gesagt wird, versteht man unter Vernunft das bloß natürliche Erkenntnisvermögen, dessen Funktionen nicht frei, sondern von gewissen ihm selbst unbewußten Voraussetzungen abhängig sind. Wo es sich dieser Voraussetzung zwar bewußt ist, aber ohne sie begriffen zu haben, wie in der Mathematik, entsteht eine Art von Wissenschaft, aber in welcher die Vernunft doch nicht völlig bei sich selbst ist, weil sie, wie Platon bemerkt, Voraussetzungen zuläßt, und z.B. das Gerade und Ungerade, Figuren überhaupt, drei Arten von Winkeln und noch anderes annimmt, worüber die Inhaber dieser Wissenschaft weder sich selbst noch andern Rechenschaft geben. Auch in diesen Übungen oder Künsten, wie er sie nennt (denn Wissenschaften will er sie nicht nennen), ist nach Platon die Vernunft, aber nicht die selbstherrliche, nicht der unmittelbar wirkende Nus, sondern der bloß durchwirkende, Dianoia21, und wohl vermögen sie, zu dem Intelligiblen, nur der Vernunft selbst Zugänglichen zu ziehen, sie zwingen die Seele, oder gewöhnen sie, des Denkens selbst22 sich zu bedienen, um zur Wahrheit selbst zu gelangen, ohne daß sie selber diese zu erreichen imstande wären. Denn solange sie die Voraussetzungen stehen lassen, ohne zu dem, was nicht mehr Voraussetzung sondern das Prinzip selbst ist, sich zu erheben, träumen sie wohl von dem Seienden (dem eigentlich Intelligiblen), aber es zu sehen, mit wachenden Augen zu sehen, vermögen sie nicht23. Nur wo der Nus durchaus selbstwirkend Stoff wie Form von sich selbst nimmt, ohne durch Fremdartiges außer sich gezogen zu sein, entsteht Episteme, die eigentliche,[621] das Intelligible und das Prinzip selbst erreichende Wissenschaft. Diese also ist das unmittelbar dem Nus Folgende, nach ihr ist die Dianoia, in der ja der Nus auch noch ist, nur nicht in seiner Reinheit24. Dem Nus entgegen steht nun aber die bloße Meinung (doxa), unter dieser der Glaube (pistis), und die Mutmaßung (eikasia), so daß der Glaube der Episteme, die Mutmaßung der Dianoia (der die sogenannten apodiktischen Wissenschaften erzeugenden Erkenntnisweise)25 entgegensteht.

Nach diesen Erläuterungen darf ich als verständlich annehmen, wenn ich sage: es mußte der älteren und der neueren Metaphysik, die wir Bedenken tragen müßten auch nur als Dianoia im platonischen Sinn zu bestimmen, die wir vielmehr, auch nach dem, was soeben bemerkt worden (daß ihre Beweise bloße Wahrscheinlichkeit hervorbringen), weit eher dem Gebiet der Meinung und in diesem teils dem Glauben (dem Vertrauen auf das von den Sinnen Gegebene und auf die allgemeinen Grundsätze) teils der Mutmaßung zuzuweisen genötigt sein könnten – es mußte, sage ich, dieser Metaphysik ein Bestreben folgen, über die Autoritäten, auf welchen dieselbe beruhte, und die selbst nur ebenso viele unbegriffene Voraussetzungen (im platonischen Sinn) waren, hinauszugehen, um zu der Wissenschaft zu gelangen, die das Erzeugnis der Vernunft selbst ist, der Vernunft, inwiefern sie selbst das ursprüngliche, nichts außer sich bedürfende, von sich aus vermögende Erkennen ist.

Einem fremden Gesetz unterworfen war die Vernunft in der mythologischen Religion, ebenso ist sie es im Glauben an die Offenbarung als bloß äußere Autorität, worein unleugbar die Reformation zuletzt ausgeartet. Aber sie ist nicht weniger unfrei, indem sie der unbegriffenen natürlichen Erkenntnis folgt, und ein notwendiger Fortschritt ist es, daß sie auch gegen diese sich in Freiheit setzte. Wenn sie aber so sich selbst zurückgegeben, in[622] ihrer Lauterkeit, Einfalt und vollkommenen Autonomie nicht müßig weilen kann, sondern ebenfalls Wissenschaft erzeugt, so kann diese nicht mehr eine besondere Wissenschaft sein, dergleichen die mathematischen Disziplinen sind und im Grund auch die Metaphysik war; als Erzeugnis der Vernunft selbst kann sie auch nur die Wissenschaft selbst, die Wissenschaft im Sinne Platons sein, die, welche er in diesem Zusammenhang Sophia nennt; wir aber, weil doch nicht sogleich als ihr Begriff auch sie selbst gegeben ist, wollen sagen: von da an werde Wissenschaft gesucht, die Weisheit ist; Philosophie sei der angemessene Ausdruck erst für die Stufe nach der Metaphysik, wenn die Autoritäten, auf denen diese beruht, ihr unbedingtes Ansehn zu verlieren anfangen, und der Erste, der die Wissenschaft in diesem Sinn gesucht, sei Descartes gewesen. Inwiefern sodann dieses Suchen zugleich das Bestreben ist, über alles, was bloß Voraussetzung ist, zu dem durch sich selbst gewissen Anfang zu gelangen, von dem aus erst mit Sicherheit die gesuchte Wissenschaft sich erzeugen lasse, sei Descartes zugleich der, welcher zuerst das Prinzip in diesem Sinn gesucht. Die alte Metaphysik hatte keinen gemeinschaftlichen Mittelpunkt, kein Prinzip, von dem sich ihr alles ableitet, sie glich der Mathematik durch die Zufälligkeit ihres Fortschreitens und darin, daß sie, wenn auch immer auf Vorausgegangenes sich stützend, doch im Grunde mit jedem neuen Gegenstand von vorn anfing.

Hiermit also ist offenbar ein neuer Schritt zur Verwirklichung der freien Religion geschehen, die wir ja zum voraus auch die philosophische genannt haben. Es ist, ebenfalls zum voraus, glaublicher, daß die von allen bloßen Voraussetzungen freie, schlechthin von vorn anfangende Wissenschaft (man könnte sie selbst mit einem christlichen Ausdruck die epistêmê anôthen gennêtheisa nennen), es ist glaublicher, sage ich, daß diese weiter und auch zum Begreifen des Christentums eher hinanreiche, als die, welche bei dem bloß Abgeleiteten stehen geblieben ist. Auch das Christentum verlangt Überwindung, aber nicht der Vernunft selbst (denn dann hörte alles Begreifen auf), sondern der bloß natürlichen. Christus preist den Vater, daß er es den Weisen und Verständigen verborgen,[623] aber den Unmündigen geoffenbart habe (hoti apekrypsas tauta apo sophôn kai synetôn, apekalypsas auta nêpiois. Matth. 11, 25). Diesen Unmündigen aber, welche könnten ihnen ähnlicher sein, als die nichts Wissenden, wie Sokrates ein Nichtswissender ist (im reinen Denken ist noch nichts vom Wissen), die im Erkennen ganz auf die ursprüngliche Einfalt zurückgegangen. Und wenn der Apostel mit denselben Worten alle geistliche Weisheit und Verständigkeit (pasan sophian kai synesin pneumatikên) den Seinen erfleht26, so können die Weisen und Verständigen (sophoi kai synetoi) in den Worten Christi doch nur die bloß natürlich Weisen und Verständigen sein. Die christlichen Theologen in ihren Erörterungen über Vernunft unterscheiden selbst zwischen verdunkelter und erleuchteter Vernunft. Verdunkelt ist aber auch dem Platon der Nus in der bloßen Dianoia; denn er sagt: für die mathematischen Disziplinen, die er oft Wissenschaften genannt aus bloßer Gewohnheit, müsse er etwas finden, das dunkler sei als Wissenschaft, erleuchteter als bloße Meinung, und eben dies sei Dianoia27, wo ein angenommener zwar, aber intelligibler und der Vernunft durchsichtiger Stoff dieser unmittelbar durchzuwirken erlaubt. Wo nun im Neuen Testament von Vernunft in weniger günstigem Sinn die Rede ist, steht eben auch Dianoia28, nie wird logos, wohl aber werden häufig die logismoi (2. Kor. 10, 5) genannt, Schlüsse, die ebenfalls zur bloß natürlichen Erkenntnis gehören. Wenn aber Paulus von dem Frieden Gottes sagt, daß er höher ist als alle Vernunft29, höher also auch als die, in welcher nichts Verdunkelndes mehr ist, die nur sie selbst ist, oder wenn derselbe Apostel Christi Liebe als alle Erkenntnis übertreffend beschreibt30, so kann hierin liegen,[624] daß allerdings ihm etwas höher steht, als auch die wahre, das Christentum in seiner ganzen Wahrheit begreifende Erkenntnis, nämlich die große Sache selbst; denn darauf ist er vor allem bedacht, daß diese Sache bleibe und nicht zur bloßen Vorstellung werde, hina mê kenôthê ho stauros tou Christou (1. Kor. 1, 17). Aber es ist ja auch nicht gesagt, daß jene von reiner Vernunft erzeugte Wissenschaft das schlechthin Letzte sei und worüber nichts hinausgehe. Wie dem aber sein möge, und wenn in uns selbst etwas alle Vernunft Übertreffendes liegen sollte, so wird von diesem erst dann die Rede sein können, wenn die Vernunftwissenschaft bis an ihr Ziel geführt ist, davon sie aber noch weit entfernt ist. Und eben diese Hinausführung wird unsere erste Aufgabe sein. Dies ist ein weiter Weg, der vor uns liegt, aber ich sage dies absichtlich, damit die, welche gesonnen sind, uns zu folgen, sich zum voraus mit der nötigen Kraft und Ausdauer rüsten, die andern aber, welche dies nicht wollen oder nicht vermögen, beizeiten zurückbleiben. Denn wie im Leben, so gibt es auch in der Wissenschaft eine Feigheit und einen Mut des Entschlusses, und bei jeder schwierigen Besteigung einer Höhe werden die Schwächlinge auf der Mitte des Weges erschöpft zurückbleiben.

Wir lenken daher jetzt auf Descartes zurück, der den ersten Anstoß gegeben zu dieser von der Vernunft selbst erzeugten Wissenschaft, und der vor allem den selbst nicht voraussetzungsartigen, sondern jede Voraussetzung übertreffenden Anfang sucht. Sein Weg zum Prinzip ist – der Zweifel. Aber weil alles Zweifeln etwas voraussetzt, und zwar eben das, woran es zweifelt, so scheint dieses Mittel doch nicht hinreichend zur vollkommenen Befreiung. »Ich zweifle, ich denke, also bin ich«, dies der bekannte Anfang, womit er eine Gewißheit erlangt glaubt, wie sie über die äußern Dinge nicht stattfinde. Aber: ich zweifle an dem Sein der Dinge außer mir, also sind sie, ist ein nicht minder gültiger Schluß. Denn an dem, was überall nicht und auf keine Weise wäre, könnte auch nicht gezweifelt werden; daß also die Dinge auf gewisse Weise sind, folgt allerdings aus dem Schluß; im »Ich bin« liegt aber auch nicht mehr, als daß ich irgendwie und auf gewisse Weise bin; diese Weise ist sogar als eine bestimmte[625] erkannt, es folgt sogar nur, daß ich im Aktus des Denkens bin, aber nicht, daß außer ihm, – nicht unbedingt: Sum, sondern nur: Sum res cogitans (je suis une chose qui pense). Zweifel sagt zu viel oder zu wenig im Anfang der Philosophie, je nachdem man es nimmt. Das Richtige ist: zurückweisen, als nicht seiend betrachten alles nicht von der Vernunft selbst Gesetzte – auf so lange bis es von dieser aus erkannt und begriffen ist. Dieses Zurückweisen muß aber dem »Ich bin« ebensowohl gelten als dem, daß Dinge sind. Denn nicht bloß das mir, sondern das an sich zweifelhafte Sein wird beiseitgesetzt – nicht für immer, sondern bis seine Zeit gekommen ist. An sich zweifelhaft aber ist alles, was nur ein sein und nicht sein Könnendes ist. In der Tat auch gründet Cartesius durchaus nichts auf diese, wie die neuesten Enkomiasten unter seinen Landsleuten sagen, psychologische Tatsache. Wahr wird ihm das im »Ich bin« ausgedrückte Sein, und wahre Gewißheit erhält es für ihn selbst doch erst durch den Zusammenhang mit dem, dessen Dasein weder auf Erfahrung noch auf Schlüssen beruht (dies alles ist als zweifelhaft erklärt), sondern das ihm infolge seines bloßen Gedachtseins Ist, gewiß ist im reinen Denken, ohne daß dieses aus sich selbst herausgeht, und nach dem allgemeinen Grundsatz des sich nur zu sich selbst verhaltenden Denkens (dem sogenannten Grundsatz des Widerspruchs). Das so Gewisse ist ihm Gott, weil in diesem das schlechthin vollkommene Wesen gedacht ist, und er dieses nicht wäre, wenn er nicht existierte.

Man sieht: Descartes will die Existenz Gottes als die im reinen Denken gesetzte. Aber der Gedanke mißlingt ihm, inwiefern er doch einen Mittelbegriff einschaltet (den, daß die Existenz eine Vollkommenheit ist31) und einen Schluß formiert. Das ist also nicht der Gegenstand, von dem Platon gesagt, daß ihn die Vernunft selbst berührt32. Außerdem scheint für Descartes[626] an dem inhaltsreichsten Begriff des schlechthin vollkommenen Wesens nichts wichtig, als daß aus ihm die Existenz folge; aber daß Gott »alles in sich einschließt, was von Realität und Vollkommenheit in den andern Wesen ist«, scheint vergessen, und des eigentlichen Zwecks, der Wissenschaft, wird nicht mehr gedacht. Wenn Gott das Wesen ist, das alle Realität und Vollkommenheit in sich vereinigt, so war es unerläßlich zu zeigen, wie aus einem solchen Wesen diese Welt von Einschränkungen und Negationen hervorgehe, die wir in der Erfahrung antreffen. Allein Descartes bricht ab, und auf das, um dessen willen doch eigentlich das unzweifelhaft Seiende gesucht worden, das Begreifen des zweifelhaft Seienden, verzichtend, gründet er sein Fürwahrhalten der Dinge und selbst der ewigen Wahrheiten, namentlich der mathematischen, auf einen Glauben, auf den nämlich, daß Gott, weil er als das vollkommenste notwendig auch das wahrhaftigste Wesen sei, ihn nicht betrügen werde; und vollends wie er in die spezielle Physik übergehend, als Postulat annimmt33, daß Gott die Materie erschaffen und gleich anfänglich in soviel möglich einander gleiche, doch nicht runde, weil diese den Raum nicht stetig erfüllt haben würden, sondern anders gestaltete Teilchen von mäßiger Größe geteilt habe, da verliert sich vollends jede Spur von Wissenschaft, und man hat Mühe zu glauben, daß dies derselbe Cartesius ist, der die ersten Meditationen geschrieben.

Nicht viel anders ist es mit dem nächsten Nachfolger, Malebranche, der, wenn er von Gott sagt34: er hat alles was möglich, um so mehr Aufforderung hatte, zu zeigen, teils auf welche Weise Gott im Besitz der Allmöglichkeit ist, teils welcher Übergang von dieser Allmöglichkeit zur Wirklichkeit sei, der insbesondere, wenn er wagt zu äußern (bei seiner sonst bekannten Denkart darf man die Äußerung wirklich eine kühne nennen), daß auch die Materie Bezug hat auf eine Vollkommenheit, die in Gott ist35, um so mehr[627] verpflichtet war, diesen Bezug nachzuweisen und zu erforschen. Aber weder daran denkt er, noch wie es zu der Teilnahme (participation) und unvollkommenen Nachahmung des göttlichen Wesens komme, die er in den Dingen sieht, sucht er irgendwie zu erklären.

Dennoch ist durch Malebranche ein wichtiger Schritt geschehen, wenn er selbst auch dessen Bedeutung nicht erkennt. Denn da wo er auf die Weise seines Vorgängers erklärt, daß Gott alles, was in den Dingen Vollkommenheit ist, in sich begreife, bricht er ab und sagt: er ist mit einem Wort das Seiende (il est en un mot l'Être)36. Die Billigkeit verlangt anzunehmen, daß »das Seiende« nicht im generischen Sinn gemeint ist, wiewohl er die Unvorsichtigkeit hat, auch zu sagen: Gott sei la généralité, l'être en général (einmal wenigstens l'être universel), zu welchem Ausdruck ihn wahrscheinlich das Ens der Scholastiker verleitet hatte, das ihnen genus generalissimum ist, von dem sie ausgehen und das sie als das in jedem Betracht Unbestimmte (ens omnimodo indeterminatum) erklären. Die Nachwirkung der früheren Schule zeigt sich durch wörtliche Übereinstimmung, wo er von der Idée vague de l'être en général spricht, die unserem Geist innig gegenwärtig sei37; denn ganz so sprechen die Thomisten von dem ens in genere38; und eben dahin ist zu rechnen, wenn er für den positivsten Begriff nur negative Ausdrücke weiß, wie l'être indéterminé, l'être sans restriction. Aber derselbe Malebranche sagt doch auch: Gott ist nicht ein solches oder solches Wesen, er ist weit eher alles Seiende, il est bien plutôt tout être, omne ens oder omnia entia, wie sich die von ihm selbst gebilligte lateinische Übersetzung ausdrückt39.[628]

Recht verstanden und im ganzen Umfang erfaßt, war dieses, daß Gott das Seiende ist, der wichtigste Schritt, die größte Einsicht gewesen, mit der allerdings ein Wendepunkt eintreten konnte, inwiefern man hiermit aufgegeben hafte, Gott als bloßes Einzelwesen zu wollen, womit sich, wie gesagt, die Beweise der früheren Metaphysik zufrieden gestellt hatten. Gott kann nicht bloßes Einzelwesen sein, und der Gott, der nicht das Seiende wäre, könnte auch nicht Gott sein; für das bloße Einzelwesen gibt es keine Wissenschaft. Aber ja nicht bloß zu der Wissenschaft, auch zum Gefühl, ist anders Wahrheit in ihm, hat Gott nur dadurch ein Verhältnis, daß er das allgemeine Wesen ist. Freilich nicht das Seiende im abstrakten, bestimmungslosen, sondern im bestimmungsvollsten Sinn, das Seiende, dem nichts fehlt was zum Sein gehört, das vollendet Seiende, to pantelôs on, wie es Platon genannt hat40.

Descartes wollte das im reinen Denken, insofern unabhängig von diskursiver Wissenschaft, gesetzte Sein als Anfang, aber der unvollkommen verstandene Anfang ließ den wahren Fortgang nicht finden und blieb für die Wissenschaft selbst: ohne Folge. Gott ist das Seiende (in eben bestimmtem Sinn), sagt nicht eigentlich: Gott Ist; es ist, wie Sie selbst sehen, kein Existentialsatz, sondern ein bloßer Attributivsatz. Aber dieses das-Seiende-sein ist auch ein Sein, nur eben nicht das Sein Gottes überhaupt, wie Descartes es durch das sogenannte ontologische Argument bewiesen haben wollte, sondern eben nur das im reinen Denken gesetzte; wir können es auch das reine Vernunftsein oder das in die Idee eingeschlossene Sein Gottes nennen, denn das Seiende als das schlechthin Allgemeine ist nicht eine Idee, sondern die Idee schlechthin, die Idee selbst; soweit also Gott nur das Seiende ist, soweit Ist er auch nur in der Idee, – ewig, aber nur in dem Sinn, wie wir auch im reinen Denken gesetzte Wahrheiten ewige nennen. Jenes das-Seiende-sein ist also auch ein Sein, nicht ein Sein, das eine der Vollkommenheiten ist, die in Gott vereinigt sind, sondern das seine Vollkommenheit selbst ist, denn das Seiende sein[629] ist eben: das Vollkommene, das Vollendete sein. Auch ein Beweis ist hier nicht, denn es ist das unmittelbar von der Vernunft gesetzte Sein, in allem Beweis aber ist eine Vermittlung, aber besonders nicht ein Beweis der Existenz Gottes, wie dies bis jetzt allgemein verstanden wird, nämlich der Existenz Gottes überhaupt; es gibt keinen solchen Beweis der Existenz Gottes überhaupt, denn es gibt keine Existenz Gottes überhaupt. Gottes Existenz ist gleich und unmittelbar eine bestimmte; vom unbestimmten Sein Gottes ist nicht fortzuschreiten. Darum konnten weder Descartes noch die ihm hierin folgten zur Wissenschaft gelangen. Anders nach der eben freilich vorerst mehr angedeuteten als ausgesprochenen Ansicht. Mit dieser ist unmittelbar ein Fortgehen, von der Existenz nämlich, in welcher Gott nicht als er selbst, sondern als das schlechthin Allgemeine ist, zu dem Sein, in welchem er als Er selbst ist, von dem im Seienden eingewickelten zu dem aus dem Seienden hervorgetretenen (a Deo implicito ad Deum explici tum), von dem nicht mehr zu sagen ist, daß er das Seiende, sondern daß er das ist, was das Seiende ist.

Das letzte Ergebnis dieser Unterscheidung liegt noch in großer Ferne und kann vorerst nur mit Zurückhaltung ausgesprochen werden. Dennoch, wenn nicht reell, müssen auch in der Idee schon Gott und das Seiende unterschieden sein, unterschieden als Subjekt und als Attribut. Gott muß daher schon in seinem das-Seiende-Sein als ein für-sich-sein-Könnendes, Absonderliches (ein chôriston im aristotelischen Sinn) gedacht sein. Von einer solchen vorerst nur begrifflichen Unterscheidung ist bei Descartes keine Spur, eine erfolglose, schnell verwehte aber wenigstens bei Malebranche, inwiefern er einmal unterscheidet: die göttliche Substanz absolut genommen und sofern sie sich auf die Kreaturen bezieht und durch sie partizipabel ist41. Dies könnte in unserer Sprache[630] auch schwerlich etwas anderes heißen, als daß die Dinge wohl an dem Seienden Teil haben, aber nicht an dem, was das Seiende ist, dieses sei schlechterdings impartizipabel. Irgend eine Unterscheidung mußte er machen, wenn er sich berechtigt glaubte, Descartes anderen Nachfolger, dem Gott nichts als die absolute Substanz ist, le miserable Spinoza, dessen Gott l'épouvantable chimère de Spinoza zu nennen. Allein diese Unterscheidung bleibt völlig unfruchtbar und unbenutzt zu einem Begreifen der Welt, und da, wo er von Gott sagt, er sei alles Seiende, und sich selbst die Frage entgegensetzt, wie dieses in gewissem Sinn alle-Dinge-Sein sich mit der absoluten Einfachheit des göttlichen Wesens vertrage, antwortet er: das begreife kein endlicher Geist42. Da indes Gott doch in einem gewissen Sinn alle Dinge sein sollte, so entstand wenigstens die Frage: in welchem Sinn? Die bekannte Antwort darauf war, daß wir alle Dinge nur in Gott sehen, also daß sie außer Gott gar nicht vorhanden sind.

Allen Anforderungen aber, welche an Descartes und Malebranche noch ergehen konnten, hatte sich Spinoza entzogen; auf welche Weise, wollen wir deutlich machen, denn so leicht als viele es sich jetzt einbilden, ist er doch nicht zu fassen.

Spinoza sagt: Gott ist die allgemeine, die unendliche Substanz, ganz wie wir sagen: Gott ist das Seiende. Dächte man sich nun hierbei gar keine Unterscheidung, so hätte er den besonderen Namen »Gott« füglich entbehren können. Man müßte insofern bei ihm doch eine Unterscheidung voraussetzen. Allein er macht jede Unterscheidung überflüssig, indem er sagt: Gott Ist nur, indem er die unendliche Substanz ist, er hat kein von seinem die-Substanz-Sein absonderliches Sein; denn dies ist der Sinn des[631] Worts, daß in Gott Wesen und Sein Eins sind43. Die Unterscheidung wäre also bei ihm ohne Zweck. Auch die Unterscheidung vorausgesetzt, wüßte er Gott kein anderes als das ewige oder Vernunft-Sein (das die-unendliche-Substanz-Sein). Alles ist ewig. Aus dem ewigen, also dem reinen Vernunft-Sein können auch nur ewige Wahrheiten folgen, und die Dinge fließen aus der Natur (dem Wesen) Gottes nicht anders, als aus der Natur des Dreiecks die Wahrheit folgt, daß die Winkel zusammengenommen zweien rechten gleich sind. Eingeschlossen in das ewige Sein hat Gott zu Welt und Dingen kein anderes Verhältnis als das der bloß wesentlichen, nicht der wirklichen Ursache. Aber auch diese rein logische Folge wird bloß versichert, nicht gezeigt. Der Begriff der unendlichen Substanz ist von keinem, wie man erwarten sollte, durch das reine Denken gewonnenen Inhalt erfüllt, der Begriff des vollkommensten Wesens verschwunden, wenn man nicht einen Rest desselben in der Andeutung einer unbestimmbaren Menge göttlicher Attribute sehen will, von denen uns durch Erfahrung nur die zwei, das unendliche Denken und die unendliche Ausdehnung, bekannt seien. Hier ist ein völliges Abbrechen von streng rationaler Entwicklung (die schreiendste metabasis eis allo genos). Es lohnte nicht der Mühe, zu dem reinen Vernunftstandpunkt sich zu erheben, um so wieder in die Erfahrung zurückzufallen.

Aber – wir dürfen dies nicht übersehen – die große Bestimmung, daß Gott das allgemeine Wesen ist, zu welchem Descartes den Anlaß gegeben, die durch den krankhaft frommen Malebranche nur schwach vertreten war, mußte – so ist der Gang menschlicher Dinge – von Spinoza zum alles verschlingenden, Wissenschaft und Religion gleicherweise verzehrenden Dogma erhoben werden, um ihr volles Gewicht, ihre dauernde Geltung zu erlangen.[632]

Quelle:
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Band 3, Leipzig 1907, S. 611-633.
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