§ 19. Unmittelbare Gegenwart der Vorstellungen.

[45] Weil nun aber, ungeachtet dieser Vereinigung der Formen des innern und äußern Sinnes, durch den Verstand, zur Vorstellung der Materie und damit zu der einer beharrenden Außenwelt, das Subjekt unmittelbar nur durch den innern Sinn erkennt, indem der äußere Sinn wieder Objekt des innern ist und dieser die Wahrnehmungen jenes wieder wahrnimmt, das Subjekt also in Hinsicht auf die unmittelbare Gegenwart der Vorstellungen in seinem Bewußtsein, den Bedingungen der Zeit allein, als der Form des innern Sinnes, unterworfen bleibt;2 so kann ihm nur eine deutliche Vorstellung, wiewohl diese sehr zusammengesetzt seyn kann, auf Ein Mal gegenwärtig seyn. Vorstellungen sind unmittelbar gegenwärtig heißt: sie werden nicht nur in der vom Verstande (der, wie wir sogleich sehn werden, ein intuitives Vermögen ist) vollzogenen Vereinigung der Zeit und des Raums zur Gesammtvorstellung der empirischen Realität, sondern sie werden als Vorstellungen des innern Sinnes in der bloßen Zeit erkannt und zwar auf dem Indifferenzpunkt zwischen den beiden auseinandergehenden Richtungen dieser, welcher Gegenwart heißt. Die im vorigen Paragraphen berührte Bedingung zur unmittelbaren Gegenwart einer Vorstellung dieser Klasse ist ihre kausale Einwirkung auf unsere Sinne, mithin auf unsern Leib, welcher selbst zu den Objekten dieser Klasse gehört, mithin dem in ihr herrschenden, sogleich zu erörternden Gesetze der Kausalität unterworfen ist. Weil dieserhalb das Subjekt, nach den Gesetzen sowohl der innern, wie der äußern Welt, bei jener einen Vorstellung nicht bleiben kann, in der bloßen Zeit aber kein Zugleichseyn ist; so wird jene Vorstellung stets wieder verschwinden, von andern verdrängt, nach einer nicht a priori bestimmbaren, sondern von bald zu erwähnenden Umständen abhängigen Ordnung. Daß außerdem Phantasie und Traum die unmittelbare Gegenwart der Vorstellungen reproduciren, ist eine bekannte Thatsache, deren Erörterung jedoch nicht hieher, sondern in die empirische Psychologie gehört. Da nun aber,[46] ungeachtet dieser Flüchtigkeit und dieser Vereinzelung der Vorstellungen, in Hinsicht auf ihre unmittelbare Gegenwart im Bewußtsein des Subjekts, diesem dennoch die Vorstellung von einem Alles begreifenden Komplex der Realität, wie ich diesen oben beschrieben, durch die Funktion des Verstandes, bleibt; so hat man, in Hinsicht auf diesen Gegensatz, die Vorstellungen, sofern sie zu jenem Komplex gehören, für etwas ganz anderes gehalten, als sofern sie dem Bewußtseyn unmittelbar gegenwärtig sind, und in jener Eigenschaft sie reale Dinge, in dieser aber allein Vorstellungen kat' exochên genannt. Diese Auffassung der Sache, welche die gemeine ist, heißt bekanntlich Realismus. Ihr hat sich, mit dem Eintritte der neueren Philosophie, der Idealismus entgegengestellt und immer mehr Feld gewonnen. Zuerst durch Malebranche und Berkeley vertreten, wurde er durch Kant zum transscendentalen Idealismus potenzirt, welcher das Zusammenbestehn der empirischen Realität der Dinge mit der transscendentalen Idealität derselben begreiflich macht, und dem gemäß Kant, in der Krit. d. rein. Vern., sich unter Anderm so ausspricht: »Ich verstehe unter dem transscendentalen Idealismus aller Erscheinungen den Lehrbegriff, nach welchem wir sie insgesammt als bloße Vorstellungen, und nicht als Dinge an sich selbst ansehn.« Weiterhin in der Anmerkung: »Der Raum ist selbst nichts Anderes, als Vorstellung; folglich, was in ihm ist, muß in der Vorstellung enthalten seyn, und im Raum ist gar nichts, außer sofern es in ihm wirklich vorgestellt wird.« (Kritik des 4. Paralogismus der transsc. Psychol. S. 369 und 375 der ersten Aufl.) Endlich in der diesem Kapitel angehängten »Betrachtung« heißt es: »Wenn ich das denkende Subjekt wegnehme, muß die ganze Körperwelt wegfallen, als die nichts ist, als die Erscheinung in der Sinnlichkeit unsers Subjekts, und eine Art Vorstellungen desselben.« In Indien ist, sowohl im Brahmanismus, als im Buddhaismus, der Idealismus sogar Lehre der Volksreligion: bloß in Europa ist er, in Folge der wesentlich und unumgänglich realistischen jüdischen Grundansicht, paradox. Der Realismus übersieht aber, daß das sogenannte Seyn dieser realen Dinge doch durchaus nichts Anderes ist, als ein Vorgestelltwerden, oder, wenn man darauf besteht, nur die unmittelbare Gegenwart im Bewußtseyn des Subjekts ein Vorgestelltwerden kat' entelecheian zu nennen, gar nur[47] ein Vorgestelltwerdenkönnen kata dynamin: er übersieht, daß das Objekt außerhalb seiner Beziehung auf das Subjekt nicht mehr Objekt bleibt, und daß, wenn man ihm diese nimmt oder davon abstrahirt, sofort auch alle objektive Existenz aufgehoben ist. Leibnitz, der das Bedingtseyn des Objekts durch das Subjekt wohl fühlte, jedoch sich von dem Gedanken eines Seyns an sich der Objekte, unabhängig von ihrer Beziehung auf das Subjekt, d.h. vom Vorgestelltwerden, nicht frei machen konnte, nahm zuvörderst eine der Welt der Vorstellung genau gleiche und ihr parallel laufende Welt der Objekte an sich an, die aber mit jener nicht direkt, sondern nur äußerlich, mittelst einer harmonia praestabilita, verbunden war; – augenscheinlich das Überflüssigste auf der Welt, da sie selbst nie in die Wahrnehmung fällt und die ihr ganz gleiche Welt in der Vorstellung auch ohne sie ihren Gang geht. Als er nun aber wieder das Wesen der an sich selbst objektiv existirenden Dinge näher bestimmen wollte, gerieth er in die Nothwendigkeit, die Objekte an sich selbst für Subjekte (monades) zu erklären, und gab eben dadurch den sprechendesten Beweis davon, daß unser Bewußtsein, soweit es ein bloß erkennendes ist, also innerhalb der Schranken des Intellekts, d.h. des Apparats zur Welt der Vorstellung, eben nichts weiter finden kann, als Subjekt und Objekt, Vorstellendes und Vorstellung, und wir daher, wenn wir vom Objektseyn (Vorgestelltwerden) eines Objekts abstrahirt, d.h. als solches es aufgehoben haben, und dennoch etwas setzen wollen, auf gar nichts gerathen können, als das Subjekt. Wollen wir aber umgekehrt vom Subjektseyn des Subjekts abstrahiren und dennoch nicht nichts übrig behalten, so tritt der umgekehrte Fall ein, der sich zum Materialismus entwickelt.

Spinoza, der mit der Sache nicht aufs Reine und daher nicht zu deutlichen Begriffen gekommen war, hatte dennoch die nothwendige Beziehung zwischen Objekt und Subjekt, als eine ihnen so wesentliche, daß sie durchaus Bedingung ihrer Denkbarkeit ist, sehr wohl verstanden und sie deshalb als eine Identität des Erkennenden und Ausgedehnten in der allein existirenden Substanz dargestellt.


Anmerk. Ich bemerke bei Gelegenheit der Haupterörterung dieses Paragraphen, daß, wenn ich, im Fortgange der Abhandlung, mich, der Kürze und leichtern Faßlichkeit[48] halber, des Ausdrucks reale Objekte bedienen werde, darunter nichts Anderes zu verstehen ist, als eben die anschaulichen, zum Komplex der an sich selbst stets ideal bleibenden empirischen Realität verknüpften Vorstellungen.

2

Vergl. Krit. d. rein. Vern., Elementarlehre Abschn. II, Schlüsse a. d. Begr., b und c. Der ersten Aufl. S. 33; der 5. S. 49.

Quelle:
Arthur Schopenhauer. Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Band 5, Zürich 1977, S. 45-49.
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